Gewalt gegen die Presse, statt Liebe und Frieden
Am ersten Augustwochenende ziehen tausende Menschen mit Plakaten und Transparenten für Liebe und Frieden, Demokratie und das Grundgesetz durch die Straßen von Berlin. Weil gleichzeitig angekündigt wurde, gegen die Corona-Regeln zu verstoßen, demonstrativ keine Masken zu tragen und Abstände zu vermeiden, wurden sieben von zehn dieser Aufzüge verboten. Mehr als 2.000 Polizist:innen sollen die Auflagen und die Einhaltung der Regeln durchsetzen.
Text – Rainer F. Steußloff & Roland Geisheimer
Viele unserer Kolleg:innen begleiten die Demonstrationen der Querdenker:innen seit Anbeginn der Proteste. Es gab vermehrt Berichte zu Übergriffen auf Pressevertreter:innen. Bekannte Persönlichkeiten aus den öffentlich-rechtlichen Medien wurden massiv bedroht, als Feindbilder aufgebaut, Kamerateams und Fotograf:innen geschlagen, bedrängt, eingeschüchtert.
Doch diesmal sollte sich die Lage weiter verschlimmern.
Schon zu Beginn der Ansammlungen brechen tausende Menschen durch die hilflos anmutenden Absperrungen der Polizei. Die Lage wird immer unübersichtlicher, mehrere Gruppen spalten sich ab und laufen zum Teil unbegleitet durch die Straßen. Die Polizei wirkt hilflos. Auch wenn es später heißt, dass über 600 Personen festgenommen wurden, ist dies kein Zeichen von Durchsetzungs-, sondern eher vom Unvermögen, der Situation Herr zu werden.
Während der Aufzüge kommt es zu massiven Übergriffen auf Fotograf:innen. Sie werden angeschrien, beschimpft, mit den üblichen Parolen niedergebrüllt. Wurfgeschosse fliegen in ihre Richtung und mehrfach sind blaue Flecken die Folge. Auf der anderen Seite können Polizist:innen gerade noch Schlimmeres verhindern, als ein Fotograf des Handydiebstahls bezichtigt wird und der Pöbel auf ihn losgeht. An wieder anderer Stelle prügeln Demonstrant:innen auf einen am Boden liegenden Polizisten ein und Journalisten eilen ihm zur Hilfe.
Normalerweise können sich Kolleg:innen in einen abgesperrten Sicherheitsbereich zurückziehen und wieder Luft schnappen, wenn es draußen zu viel wird. Doch auch hier treffen sie weiter auf bekannte Größen der Querdenkerszene. Mit selbstgebastelten Presseausweisen haben sie sich Zutritt verschafft. Die Polizei ist nicht in der Lage, zwischen Journalist:innen und Demonstrant:innen zu unterscheiden. Sachkundige Beamte, die die Szenen kennen und Personen erkennen könnten, fehlen.
Der Berliner dju Gewerkschaftssekretär Jörg Reichel wird vom Fahrrad gestoßen, geschlagen und getreten, als er einen unbegleiteten Demozug filmt. Passant:innen können Schlimmeres verhindern. Reichel muss mit Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert werden. Er dokumentiert seit über einem Jahr das pressefeindliche Verhalten von Demonstrant:innen wie auch das der Polizei und hat sich dadurch viele Feinde gemacht.
Die Aufzeichnungen der anwesenden Kolleg:innen zeichnen ein Bild von Aggressivität, Ablehnung und massiver Gewaltbereitschaft Pressevertreter:innen gegenüber.
»Insgesamt bin ich gestern verbal so viel angepöbelt worden wie noch nie bei Querdenken. Ich habe aber auch häufiger die Kamera versteckt, weil man teilweise komplett ohne Polizei mit Demozügen von tausenden Querdenkern mitgelaufen ist, wo man als erkennbarer Journalist nicht sicher war«, schreibt ein Agenturfotograf aus Berlin. Andere haben bereits angekündigt, sich von der Berichterstattung komplett zurückzuziehen, weil sie ihre eigene Gesundheit gefährdet sehen oder einfach die Nase voll haben.
Um dem entgegenzuwirken, muss das Einsatzkonzept der Polizei und der notwendige Schutz der Journalist:innen komplett neu überdacht werden. FREELENS hat bereits im vergangenen Jahr das Angebot zu Gesprächen mit der Polizeiführung und dem Innensenator gemacht.
»Die jüngsten Geschehnisse im Zusammenhang mit Versammlungen in Berlin unterstreichen dies noch. Derzeit überarbeiten wir deshalb die polizeilichen Hinweise und Leitfäden zur Pressearbeit, haben selbstverständlich und gerne die Leitung der bundesweiten Arbeitsgruppe zur Novellierung der ›Verhaltensgrundsätze Presse, Rundfunk, Polizei‹ übernommen und lassen die im Zuge dessen gewonnenen Erkenntnisse in unsere Aus- und Fortbildungsinhalte einfließen«, schrieb der Berliner Polizeipressesprecher Thilo Cablitz am 23. September 2020. Gemerkt haben wir davon noch nichts. Unser Angebot besteht weiter.
Auf diesem Wege wünschen wir allen verletzten Kolleg:innen und Jörg Reichel gute Besserung und hoffen, das ihr alle bald wieder voll im Einsatz seid!