Welches Problem soll die Kulturflatrate lösen?
Der Urheberrechtler Gerald Spindler hat im Auftrag der Grünen Modelle für eine Kulturflatrate durchgerechnet. Die mögliche Höhe einer solchen Abgabe schreckt jetzt allerdings auch Befürworter ab. Doch wer nun allein auf Marktlösungen setzt, gibt den politischen Gestaltungswillen auf.
Dass der Kampf gegen die Piraterie erhebliche Kollateralschäden mit sich bringt, wird heute von niemandem mehr ernsthaft bestritten. Seit etwa zehn Jahren kursiert ein Vorschlag, der eine Lösung verspricht. Die Rede ist von der berühmt-berüchtigten Kulturflatrate. Dabei sollen zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen werden: Der Krieg gegen das illegale Filesharing soll beendet werden, indem man es legalisiert. Zugleich soll eine Zahlungspflicht eingeführt werden, um die Verluste, die Urhebern und Verwertern durch den privaten Dateientausch entstehen, zu kompensieren.
Die Idee orientiert sich an einem erprobten Vorbild, nämlich der Geräte- und Leermedienabgabe. In jedem verkauften Smartphone, jedem CD-Rohling sind Urheberrechtstantiemen enthalten, die über Verwertungsgesellschaften an Urheber und Verwerter geschützter Werke ausgeschüttet werden. Die Idee hinter der Kulturflatrate ist nun, dieses System auf Peer-to-Peer-Filesharing zu übertragen. Klingt gut. Aber die Rechteinhaber begegnen dem Kulturflatrate-Modell mit unverhohlener Skepsis. Buch-, Medien- und Filmindustrie stellen den Befürwortern der Kulturflatrate seit Jahren immer dieselbe Frage: Wie hoch soll der Beitrag sein?
Dankenswerterweise haben die Grünen zur Frage der Finanzierbarkeit bei dem Göttinger Juristen Gerald Spindler ein Gutachten (PDF) in Auftrag gegeben, das Anfang März veröffentlicht wurde. Der Autor nimmt darin unterschiedliche Berechnungen für eine Kulturflatrate vor und kommt zu Beträgen, die je nach Modell zwischen 5 Euro und 90 Euro schwanken. Angesichts der schlechten Datenlage, die der Autor selbst einräumt, sind diese Berechnungen allerdings gar nicht das Wichtigste. Viel interessanter ist, dass Spindler klar benennt, unter welchen Voraussetzungen er zu den jeweiligen Ergebnissen kommt.
Im Wesentlichen laufen Spindlers Überlegen auf zwei Modelle hinaus:
(1) Das Lizenzanalogie-Modell
Das Lizenzanalogie-Modell heißt so, weil es auf der Analogie mit einer Lizenz beruht. Es geht also darum, wie viel der Nutzer hätte zahlen müssen, hätte er die entsprechenden Inhalte individuell erworben, statt ihn privat zu tauschen. Dabei setzt der Autor einen Abschlag für den Wegfall von Vertriebsstufen ein. Denn wenn keine Bücher oder CDs mehr verkauft werden, ist das zwar bedauerlich für den Einzelhandel; es sind aber keine Verluste der Urheber, also können sie dafür auch keinen Schadenersatz beanspruchen. Orientiert an den Medienanteilen, die bei Downloads durchschnittlich auf Musik, Filme und E-Books entfallen, kommt er in seiner Berechnung monatlich für den Bereich Musik auf 62,56 Euro, für den Bereich Film auf 21,03 Euro und für den Bereich Buch auf 6,30 Euro. Macht im Monat 89,89 Euro.
Das Lizenzanalogie-Modell ist ein Kompensationsmodell. Es beruht auf dem Grundgedanken, dass Urheber private Kopien ihrer Werke zwar hinnehmen müssen, aber dafür einen »gerechten Ausgleich« in der Höhe erhalten sollten, in der andernfalls direkte Zahlungen an sie hätten fließen müssen. »Fair compensation« heißt das im EU-Recht. Das Modell geht also vom ökonomischen Wert der privaten Kopien aus.
(2) Das Substitutionsmodell
In diesem Modell geht es nicht um den »geldwerten Vorteil«, den der Nutzer durch Filesharing im Gegensatz zum Kauf erlangt, sondern darum, wie hoch die Umsatzverluste sind, die den jeweiligen Industrien durch legales Filesharing entstehen würden. Das hängt wesentlich von der Substitutionsrate ab: Ersetzt tatsächlich jeder getauschte Song einen bezahlten Musikdownload? Oder muss man davon ausgehen, dass die Leute mehr herunterladen, als sie andernfalls gekauft hätten?
Tatsächlich gehen Studien von einer Substitutionsrate aus, die zwischen 10 und 30 Prozent liegt. Spindler setzt den worst case von 30 Prozent an und kommt auf wesentlich geringere Zahlen: jährlich 9,54 Euro für den Bereich Musik, 7,38 und 37,09 Euro für den Bereich Buch. Zuzüglich Adminstrationskosten kommen monatlich insgesamt nur 5,18 Euro heraus.
Das Substitutionsmodell soll also nicht einen Schaden kompensieren, sondern fragt nach den realen wirtschaftlichen Verlusten der jeweiligen Branchen. Wenn es Einnahmeverluste durch private Kopien gibt, andererseits aber zusätzliche Einnahmen dadurch, dass die Nutzer beim Filesharing neue Musik entdecken, dann kann man diese beiden in gesamtwirtschaftlicher Betrachtung miteinander verrechnen. Vorausgesetzt, dass Nutzer die neu entdeckte Musik wiederum kaufen oder mehr Geld für Konzerte und Merchandising ausgeben. Entsprechend niedriger fällt dann natürlich der Betrag aus, der von der Kulturflatrate aufgebracht werden müsste.
Verteilungsfrage wird ausgeblendet
Es steht also die Frage im Raum: Haben Urheberinnen und Urheber ein Recht darauf, im Rahmen eines Schadensausgleichs den vollen ökonomischen Gegenwert der Nutzung ihrer Werke zu erhalten, obwohl dieser unter rein marktwirtschaftlichen Bedingungen wohl kaum zu realisieren gewesen wäre? Oder genügt es, wenn man ihnen jene Verluste ersetzt, die sie nicht auf andere Weise wettmachen können?
Die Frage birgt Sprengstoff, aus einem einfachen Grund: Es ist nicht sicher, dass diejenigen, die die Verluste erleiden, dieselben sind, die die Mehreinnahmen einstreichen. Was haben Komponisten davon, wenn die Band, für die sie Songs schreiben, mehr an Merchandising verdient? Eine gesamtwirtschaftliche Betrachtung blendet also die Verteilungsfrage aus. Die aber ist aus der Perspektive des Urheberrechts keine Gerechtigkeitsfrage, sondern eine Frage des Eigentumsschutzes. Umverteilung verbietet sich aus dieser Perspektive, da der wirtschaftliche Gegenwert des geistigen Eigentums dem Rechteinhaber so genau wie möglich zuzuweisen ist.
Deshalb gibt es nach Ansicht Spindlers auch keine Alternative zu einer Vergütung, die sich am Umfang der Nutzung orientiert. Eine eher volkswirtschaftliche Betrachtung, die von der Schadensberechnung abweicht, hält der Autor auch für europarechtlich bedenklich. Andererseits weist er darauf hin, dass das reine Lizenzanalogie-Modell zu einem Abgabeerlös von 29.447.964.000 Euro jährlich führen würde. Das ist etwa doppelt so viel, wie die drei Branchen derzeit an Umsatz machen, nämlich 14.217.800.800.
Vor diesem Hintergrund tritt der Autor letztlich für ein Mischmodell ein: Er geht vom Lizenzanalogie-Modell aus, bringt aber die 30-prozentige Substitution in Abzug und kommt auf monatlich 18,77 Euro bei der Musik, 6,31 Euro beim Film und 1,89 Euro beim Buchbereich. Unter dem Strich sind das im Monat 26,97 Euro. Also ungefähr so viel wie der Rundfunkbeitrag – aber doch noch erheblich mehr als jene fünf Euro, die seit längerer Zeit die Diskussion bestimmen und von den meisten Nutzerinnen und Nutzern offenbar als fair und akzeptabel empfunden werden.
Neue Geschäftsmodelle
Angesichts der Zahlen in dem Spindler-Gutachten haben die Grünen, die es in Auftrag gegeben haben, offenbar einen Schrecken bekommen und sich umgehend von ihrer früheren Begeisterung für die Kulturflatrate distanziert: Es gebe »ein Spannungsverhältnis zwischen der Höhe einer solchen Pauschalabgabe und damit ihrer Sozialverträglichkeit gegenüber den NutzerInnen und andererseits der Leistungen für die UrheberInnen, also der Sozialverträglichkeit für die Kreativen«, schreibt die Fraktion.
Man wolle nun erst einmal abwarten, in welchem Umfang die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle in den nächsten Jahren das Problem von Urheberrechtsverletzungen auf nicht repressive Weise eindämmen können – und dabei UrheberInnen einen angemessenen finanziellen Ausgleich für die Nutzung ihrer Werke bieten.
Der Markt soll also nun den Interessenausgleich leisten, den der Gesetzgeber nicht hinbekommt. Das liegt voll im Trend: Nach zehn Jahren Diskussion über die Kulturflatrate hat sich im politischen Betrieb eine gewisse Ermüdung eingestellt. Die meisten Akteure ziehen sich darauf zurück, dass der Konflikt ums Urheberrecht sich mit neuen Geschäftsmodellen hoffentlich von selbst lösen wird. Die Contentindustrie soll sich endlich etwas ausdenken, denn eine Zahlungsbereitschaft sei ja grundsätzlich vorhanden, wie man an Beispielen wie dem Musikstreamingdienst Spotify sehen könne. Es gibt erschreckend wenig Opposition zu dieser Mainstream-Auffassung.
Eierlegende Wollmilchsau?
Das ist schade, denn die Forderung nach neuen Geschäftsmodellen ist weder eine politische noch eine gesellschaftliche Forderung, sondern sie artikuliert bloß den Wunsch nach kundenfreundlicheren Lösungen. Wer darin die richtige Antwort auf den Konflikt ums Urheberrecht sieht, glaubt, dass gesellschaftliche Konflikte am besten mit verbesserten Konsumangeboten gelöst werden können. Vielleicht ist das nicht einmal ganz falsch. Es ist aber eine Bankrotterklärung der politischen Akteure. Der politische Gestaltungswille ist anscheinend dem Verfassen von Wunschlisten an die Contentindustrie gewichen.
Tatsächlich müsste man aus den bisherigen Debatten auf ganz andere Weise lernen: Indem man die Frage nach der Frage stellt, auf die die Kulturflatrate die Antwort sein soll. Welches Problem soll sie lösen? Ist sie wirklich dafür da, sämtliche Verluste zu kompensieren, die den traditionellen Verwertern im Zuge der Digitalisierung erwachsen? Geht es um eine Bekämpfung der Piraterie und um eine Entkriminalisierung der privaten Nutzer? Um eine angemessene Vergütung für Urheber? Oder bloß um den Konsumkomfort, per Flatrate zahlen zu können? So lange die Kulturflatrate die eierlegende Wollmilchsau sein soll, die alle Probleme auf einmal löst, bleiben ihre Chancen auf eine politische Umsetzung denkbar gering.
Ilja Braun
Ilja Braun lebt und arbeitet in Köln und Berlin als Literaturübersetzer und Journalist. Disclosure: Er unterstützt derzeit die Bundestagsfraktion der Linken im Rahmen der Enquetekommission »Internet und digitale Gesellschaft«.
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