Landsleute 1977 – 1987
Deutschland Ende der 1970er Jahre. Die Nachkriegszeit ist überwunden, das Wirtschaftswunder vollbracht und die Teilung in West und Ost endgültig vollzogen. Kaptialismus und Sozialismus prägen tief den Alltag der Deutschen, die Unterschiede zwischen den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Systemen wachsen stetig. Divergente Gewohnheiten, Mentalitäten und Ideologien in beiden deutschen Staaten scheinen sich fest zu zementieren. Und doch ähneln sich BRD und DDR trotz Mauer und Stacheldraht in ihrer Kleinbürgerlichkeit, Uniformität, Architektur und ihrem Habitus ungemein. Biedere Behaglichkeit, unwirtliche Wohnsiedlungen, nachbarlicher Schwatz, bierselige Stammtische, jugendliche Rebellion, kurzweilige Volksfeste, baufällige Straßenzüge – der westdeutsche Fotograf Rudi Meisel hat über einen Zeitraum von elf Jahren das alltägliche Leben der kleinen Leute hüben wie drüben eingefangen. Seine bildjournalistischen Dokumente fügen sich zu einem einzigartigen, zeitgeschichtlichen Archiv zusammen und irritieren und erstaunen ob der Similarität der Sujets. Was ist eigentlich spezifisch West, was Ost? Oft geben erst die Bildtitel eine verlässliche Sicherheit bei der Zuordnung.
Als einer der wenigen westdeutschen Fotografen bereiste Rudi Meisel mehrmals im Jahr die DDR. Im Auftrag zahlreicher Medien konnte er dort den Alltag dokumentieren – eine Besonderheit zu jener Zeit. In der Tradition der Street Photography interessiert ihn das Geschehen jenseits staatlich gelenkter Propaganda und Inszenierung. Sein Blick auf den sozialistischen Staat ist offen, neugierig und frei von jeglicher Polemik, Häme oder Herablassung. Rudi Meisels Reportagen wirken unverstellt, auch wenn die Ergebnisse von der Zensur kontrolliert wurden – ihm wurde stets ein Aufpasser des Internationalen Pressezentrums an die Seite gestellt. An sich schon wertvolle, visuelle Primärquellen und authentisches Anschauungsmaterial, erhalten diese Bilder in der Gegenüberstellung mit seinen Fotografien aus Westdeutschland eine zusätzliche Bedeutungsebene. Denn sie geben in ihrem Zusammenspiel und Vergleich Aufschluss über die Frage nach Prägungen, die so etwas wie »Das Deutsche« oder Eigenheiten des »deutschen Volkes« ausmachen.
Eben mit seinem einfühlsamen Blick auf die Sehnsüchte, Freuden und Leiden der Deutschen hat Rudi Meisel sein Schwarzweiß-Archiv in den letzen Jahren neu gesichtet, geordnet und eine Auswahl getroffen. Lange Zeit hat Rudi Meisel nicht gemerkt, dass seine Bilder aus West- und Ostdeutschland zusammengehören: »Mir ist erst aus der Distanz die Ähnlichkeit klar geworden. Es gab den gleichen Mief im Westen wie im Osten. Nur dass der West-Mief ein paar Chromstreifen hatte, herausgeputzt war.« Diese alltäglichen Geschichten aus den Jahren des geteilten Deutschlands sind längst Legenden. Einige davon leben jetzt in den Bildern von Rudi Meisel weiter.
Erstmals in Berlin präsentiert C/O Berlin 80 zum Teil nie ausgestellte Fotografien aus dem Gesamtwerk von Rudi Meisel. Die Werkschau wurde von Felix Hoffmann kuratiert. Mit der Ausstellung von Rudi Meisel setzt C/O Berlin seine Serie zeithistorischer Fotografien fort, in der schon die Lebenswerke von Roger Melis, Fritz Eschen und Will McBride gezeigt wurden. Zur Ausstellung erscheint eine Publikation im Kehrer Verlag.
Die Ausstellung läuft vom 22. August bis 8. November 2015
C/O Berlin Foundation. Amerika Haus
Hardenbergstraße 22–24
10623 Berlin
Öffnungszeiten
Täglich 11.00–20.00 Uhr