Fünf Minuten und ein halbes Leben
Ob jemand vor oder hinter der Kamera steht, ist ein grundlegender Unterschied. Einmal konnte Henri Cartier-Bresson es nicht vermeiden, die Seite zu wechseln.
Text – Lutz Fischmann
Henri Cartier-Bresson (HCB) ist ein scheuer Mensch. Er rechtfertigt dies damit, dass er in seinem Beruf als Fotograf unerkannt sein müsse, um sich ranpirschen zu können, dann ein Klick mit seiner Leica – und nichts wie weg.
So hält er es mit seinen 92 Jahren noch heute und gilt zu Recht als der berühmteste lebende Fotograf.
Es gibt verschiedene Wege, einen Mythos aufzubauen – dies ist einer davon, und er ist gelungen. Wer die produktiven Jahrzehnte des Mitbegründers der legendären Fotoagentur Magnum verfolgt hat, wird an jedem Porträt von HCB hängen geblieben sein: So sieht der also aus. Häufig waren die Bilder verschwommen und unscharf – eben die Aufnahmen einer Diva im Untergrund. Dabei stammt die Hälfte der bekannten 43 Porträts von seiner Frau Martine Franck, ebenfalls Fotografin, und dürfen folglich als zensiert gelten.
Legendär sind die Szenen, in denen auf Festivals Fotografen in Bresson’scher Manier versuchten, vom Meister ein Foto zu erhaschen – die Strafe von HCB folgte auf dem Fuß bzw. mit dem Spazierstock.
Doch jetzt nutzte der nicht minder bekannte und nur sieben Jahre jüngere Magnum-Fotograf David Douglas Duncan (DDD) die Gelegenheit einer Kaffeestunde im Pariser Picasso-Museum, einen kompletten Film mit HCB-Porträts zu füllen. Die reinste Inflation. Schlagartig verdoppelt sich die Zahl der bekannten HCB-Aufnahmen fast; nichts Geheimnisvolles umwittert sie mehr – oder doch? Aber damit nicht genug: Es gibt sogar ein Buch mit den aufgenommenen Porträts. Allerdings ist es in Europa nicht in Buchläden erhältlich; HCB hat die Publikation gerichtlich untersagen lassen – in Amerika ist ihm dies nicht gelungen.
Dabei hatte DDD HCB die Kontakte vorab gezeigt und ihm sogar die Druckfahnen des Buches zugeschickt. HCB beschied knapp: mittelmäßige Aufnahmen, die es nicht wert seien, veröffentlicht zu werden.
DDD ist aus den Augen von HCB verschwunden, genau wie es ihm der Meister vorgemacht hat – knips, und dann weg; allerdings nicht freiwillig. Dass in nur fünf Minuten eine Freundschaft zerbricht, die ein halbes Jahrhundert lang gehalten hat, kommt eben auch in den besten Familien vor.
David Douglas Duncan
Faceless. The Most Famous Photographer in the World.
New York: Assouline Publishing.
48 Seiten, 20$.