Entdeckungen in der Geschichte
Der Fotograf Robert Lebeck sammelt illustrierte Zeitschriften, um die Geschichte der Bildreportage aufzuspüren – das Kölner Museum Ludwig präsentiert nun eine Auswahl aus der Kollektion. Im Gespräch mit BODO VON DEWITZ gab Lebeck Auskunft über Motivation, Hintergründe, Ziele seiner Sammlung.
Interview – Bodo von Dewitz
von Dewitz: Woher kam die Idee zu dieser neuen Sammlung?
Lebeck: Ich habe mal ein eigenes Buch mit zwölf gedruckten Reportagen gemacht und daneben die wichtigsten dazugehörenden Fotografien betrachtet. Da kam mir der Gedanke, wie interessant es für die gesamte Geschichte der Fotoreportage wäre, die gedruckten Endergebnisse zu sammeln. Kaum hatte ich diesen Plan gefasst, machte ich die reale Sammlererfahrung: In Bielefeld kam ich in ein Antiquariat, und da lagen Hefte der Berliner Illustrirten herum. Es war genau der richtige Jahrgang, ich glaube 1931 oder 1932, und dann sah ich hinein und stieß auf die Namen: Umbo, Wolfgang Weber, Harald Lechenperg, Erich Salomon und Martin Munkacsi. Manchmal befanden sich vier bekannte Fotoreporter mit guten Bildern in einem Heft. Ich habe nach dem Preis gefragt und sollte 1,50 Mark pro Heft bezahlen. Das kann man nicht liegen lassen, und außerdem waren die Hefte gut erhalten. So fing das an.
Was war die eigentliche Triebfeder, erneut eine Sammlung aufzubauen?
Meine Neugier, einzig und allein. Berufsbedingt interessierte mich immer schon die Geschichte der Fotoreportage, deshalb hat sich die Sammlung der Illustrierten eigentlich nahtlos angeschlossen. Und je mehr man sich hineinbegibt in so einen Sachzusammenhang, je mehr man intensiv sucht, fragt und sich erkundigt, desto mehr wird man fündig.
Über Jahrzehnte haben Sie selbst als Fotoreporter gearbeitet und die Bilder in den Redaktionen abgegeben. War es auch das Interesse zu erforschen, was in den Redaktionsstuben eigentlich passiert ist? Was geschah und geschieht dort mit den Fotografien, was kommt am Ende heraus?
Ich erzähle immer gerne, dass ich ohne jede Ausbildung angefangen habe zu fotografieren. Dadurch hatte ich das Gefühl, da fehlt mir was und ich müsste mich informieren, wie das alles mit der Fotografie im 19. und 20. Jahrhundert gewesen ist. Wer hat wann was fotografiert? Und im 20. Jahrhundert hatte ich eigentlich die Gewissheit, dass ich einiges wissen würde. Dann stieß ich auf die Fotoreportagen, und eine ganz unbekannte, faszinierende Geschichte tat sich vor mir auf.
Viele – die große Mehrzahl – dieser Zeitschriften hat man ja zu allen Jahrzehnten weggeworfen. Von Ihnen werden sie gesammelt. Kennen Sie den Umfang Ihrer Sammlung?
Die alten Illustrierten sind sehr kostbares Altpapier. Das ist mir mehr und mehr bewusst geworden. Man weiß ja selbst, wie schnell man eine Illustrierte wegwirft. Wenn die Zeit vergeht und man auf mehrere Jahrzehnte zurückblicken kann, dann wird einem der Wechsel von Gegenwart zur Zeitgeschichte und Geschichte sehr deutlich. Sicher habe ich inzwischen einige tausend Exponate und ungefähr vierhundert verschiedene internationale Illustrierte zusammengetragen.
Wussten Sie, was auf Sie zukommen würde?
Am Anfang weiß man das nicht. Alles fängt ganz harmlos mit Einzelheften an. Dann kauft man Sammelbände. Plötzlich fallen einem international interessante Illustrierte mit guten Fotostrecken auf. In der Picture Post habe ich selbst noch veröffentlicht, und ich wusste, dass die Picture Post eine sehr gute Illustrierte gewesen ist. Ein Freund sagte mir, er habe in einem Laden in England Picture Post gesehen; natürlich bat ich ihn, sie mir doch mitzubringen. So hatte ich plötzlich eine gebundene Gesamtausgabe bei mir stehen. Danach entwickelte sich der Wunsch, auch alle Einzelhefte haben zu wollen.
Warum die Einzelhefte?
Mir wurde klar, dass man mit Einzelheften leichter umgehen kann, wenn ich Fotokopien machen oder eine Reportage an die Wand hängen wollte. Das Einzelheft ist ja eigentlich das Original. Die Jahrgangsbände hat man so im Bücherregal stehen, kann sie herausziehen, sieht schnell was nach, während Einzelhefte zum Nachschauen mühsamer sind. Es ist schon gut, wenn man beides hat. Das merkt man erst später.
Noch später merkte ich, es ist besser, nicht nur ein Einzelheft zu haben, sondern zwei oder drei, wenn eine Reportage über mehrere Doppelseiten geht und man diese ausstellen möchte.
Natürlich kann ich auch aktuelle Fotoreportagen gut beurteilen. Es ist leicht, wenn die Fotos von Salgado oder Nachtwey sind, dann sieht man nur einmal hin und weiß, das Heft hebe ich auf. Wenn es aber jetzt ein junger unbekannter Fotoreporter ist, und eine großartige Bildstrecke liegt vor einem, dann lege ich sie auch zur Seite. Aber es ist immer schwerer, die Gegenwart zu beurteilen.
Bleibt das eine herausragende Einzelreportage, oder bleibt der Mann oder die Frau über Jahrzehnte dabei, besonders gut zu arbeiten? Auf der anderen Seite spielt auch das keine Rolle. Die eine Bildstrecke eines Fotografen, der sonst nie etwas Vergleichbares geliefert hat, kann eine Sensation sein und bleiben.
Gibt es weitere Objekte, neue Bereiche Ihrer Sammelleidenschaft? Oder haben Sie das Sammeln jetzt abgeschlossen?
Bezüglich der Fotoreportage habe ich erst einmal das gesammelt, was leicht zu haben und nicht so teuer war: die gedruckten Reportagen. Jetzt würde ich dies gerne noch ausbauen und mehr die Fotos selbst zu den Reportagen sammeln, um einfach vollständig zu sein.
Wie steht es mit einem Gedanken zur Sammlungspräzisierung? Man könnte doch auch sagen, sammeln Sie doch nur die Reportagen zum Zweiten Weltkrieg oder nur zur Nachkriegszeit.
Das schaffe ich nicht. Wenn ich mich jetzt entschließen würde, ich suche und sammle nur Bilddokumente zum Zweiten Weltkrieg, und auf dem Stoß Illustrierter liegen auch gute Reportagen des Ersten Weltkriegs oder vom Boxeraufstand, und die soll ich liegen lassen, ich soll mit Scheuklappen sammeln, das kann ich nicht. Übrigens denke ich auch immer, selbst wenn ich nur Zweiten Weltkrieg sammeln würde, da gibt es andere Sammler, und für den oder die kann ich diese Zeitschriften erst einmal mitnehmen und tausche die Hefte dann ein. Wenn ich ein Titelbild oder eine Reportage von Erich Salomon finde, und das Heft ist gut erhalten und ich habe schon zwei, dann denke ich, mein Gott, was mach ich dem (vielleicht) amerikanischen Sammler für eine Freude, und vielleicht kriege ich dafür ja auch eine amerikanische Zeitschrift, die ich hier nie bekommen würde.
Über Jahre haben Sie Illustrierte durchgeblättert, intensiv studiert und eine Geschichte der Fotoreportage daraus zusammengestellt. Wonach ist diese Auswahl strukturiert?
Der erste Abschnitt ergibt sich aus technischen Bedingungen: Wann wurden erstmalig Fotografien als Vorlagen für die Illustration verwendet, wann begann die Autotypie? Im Übrigen folgt die Ordnung der Geschichte, denn die geschichtlichen Abläufe haben ja maßgeblich die Geschichte der Reportage bestimmt. Bei dieser Zusammenstellung geht es mir keineswegs um die Kriegsreportage allein, es geht mir um die Fotoreportage generell. Dazu gehört auch der Titel, das Einzelbild. L’Illustration brachte 1912 den Titel: »Die ersten Piloten, die sich während des Fluges fotografierten.« Da hatten sie den Fotoapparat an die Tragfläche angebracht und in dem Moment ausgelöst, als sie über einem Loireschloss flogen. Das war genial.
Das ist ein erfreuliches Motiv, andere sind heute noch bedrückend, wie z. B. die Soldaten, die sich mit den Köpfen ihrer Opfer in einem Atelier haben fotografieren lassen. La Vie Illustrée hat daraus 1903 ein Titelbild gemacht.
Welche Kriterien mussten die einzelnen Reportagen erfüllen, um in die Auswahl aufgenommen zu werden?
Es ging mir einfach darum, aus meiner Sicht und mit meiner Erfahrung die interessantesten Fotoreportagen zusammenzustellen. Zum Beispiel die Bilder vom Bau des Altonaer Bahnhofs von 1845, weil es die erste Fotoreportage der Welt ist. Oder die Fotos vom persischen Kostümfest der Comtesse de Clermont-Tonnerre in Paris 1912, weil es phantastische Farbfotos sind, die die gesellschaftliche Pracht vor dem Ersten Weltkrieg zeigen. Oder z. B. das Tennisspiel in Schattenbildern von Dr. Paul Wolff 1930 in Die Dame. Ein festes Raster von Kriterien habe ich nicht angelegt.
Sicher kann man das Faszinosum Fotoreportage nicht einfach umschreiben. Können Sie ein paar Beispiele für Ihre besonderen Interessen nennen?
Das Foto vom Ergreifen des Attentäters von Sarajewo im Jahr 1914 gilt heute als berühmtes Bild, ist damals aber nur von der Hamburger Woche, wirklich keine großartige Illustrierte, als Titelbild verwendet worden. Heute denkt man, das Motiv war überall zu sehen, das stimmt aber gar nicht. Das finde ich interessant für die Kulturgeschichte unserer Bilder.
Oder das ständige Jonglieren mit der Aktualität: So ist z. B. das berühmte Foto Heinz von Perckhammers, die Erschießung eines chinesischen Banditen von 1928, im Jahr 1936 von Life als aktuelles Motiv der Erschießung eines Kommunisten gebracht worden. Das hatte damals niemand unter Kontrolle, genausowenig wie dies heute möglich ist. Viele erstaunliche Entdeckungen kann man beim Blättern in den Illustrierten machen: Wolfgang Webers Fotografien wurden als Reportage »Fremdenindustrie auf Schlachtfeldern« in der Berliner Illustrirten Zeitung 1928 verwendet. Dann gab es im gleichen Umfang von drei Seiten 1931 mit Fotos von Martin Munkacsi wieder einen Bericht zum gleichen Thema. Die Redakteure haben sich nicht einmal die Mühe gegeben, es anders zu nennen, jetzt stand da nur »Fremdenindustrie auf den Schlachtfeldern«. Aber das Interessante ist, dass jeder Fotograf ganz originelle und eigene Fotos gemacht hat. Es gibt keine Wiederholungen. Vielleicht hat das auch die Redakteure bewogen, zweimal dieses Thema zum Abdruck zu bringen.
Ihr Blick fällt zuweilen auf die ganze Reportage, auf Titelbilder und Doppelseiten, manchmal aber auch nur auf ein einzelnes Foto.
Letzteres kann besonders interessant sein, wenn man sich nur um die Publikation einzelner Fotografien kümmert. Das berühmte Foto von Robert Capa vom fallenden Soldaten im Spanischen Bürgerkrieg wurde am 23. September 1936 erstmalig in Vu abgedruckt. Darunter befindet sich ein zweites Foto mit einem anderen gefallenen oder fallenden Soldaten. Beide fallen genau an derselben Stelle, man sieht es am Stoppelgras, man sieht es am Hintergrund. Der eine lässt das Gewehr nach hinten fallen, der andere trägt es noch über der Schulter.
Vu hat offensichtlich bei dem Agenten, der die Bilder angeboten hat, die besten zwei herausgesucht, und die Restbilder sind an die kommunistische Regards gegangen und dort am 24. September 1936 gezeigt worden. In Regards sieht man unter anderem ein Foto mit zwei auf der Erde liegenden Soldaten. Ein weiteres Foto zeigt die angreifenden Soldaten von vorne. Capa stand mit dem Rücken zum Feind. Daher vermute ich, dass die Fotos während einer Übung aufgenommen wurden. Die Spanienkämpfer mussten ja miteinander üben, um zu einer einheitlichen Truppe zu werden. Ich habe mich immer über das Foto des fallenden Soldaten aus dem Spanischen Bürgerkrieg gewundert, warum er mit einem weißen, kurzärmligen Hemd an die Front geht. Vu schrieb in der Bildunterschrift vom »Blut, das die Heimaterde tränkt«.
Neun Monate später druckte Life ganzseitig Capas Foto mit der Bildunterschrift »Robert Capa‘s camera catches a spanish soldier the instant he is dropped by a bullet through the head in front of Cordoba«. Nachdem Life den »Kopfschuss« erfunden hatte, krönte ihn sein Landsmann Stefan Lorant 1938 in der Picture Post zum größten Kriegsfotografen der Welt unter einem ganzseitigen Porträt. Das Foto vom »sterbenden Soldaten« wurde das berühmteste Kriegsbild aller Zeiten und das stärkste Symbolfoto im Kampf gegen den Faschismus.
Die Fotoreportage ist immer ein Konstrukt, bei dem es alle Möglichkeiten gegeben hat und auch noch gibt. Der Fotograf weiß am Anfang in der Regel nicht, was mit seinen Bildern geschieht. Nach einiger Zeit hat er Erfahrungen gesammelt und kann daraus seine Schlüsse ziehen. Die Reportage ist Produkt einer Zusammenarbeit mit sehr unterschiedlicher Gewichtung. Ich weiß das aus eigener Erfahrung. Wenn ich konnte und wenn ich bei der Gestaltung anwesend war, habe ich versucht, diese zu beeinflussen.
Sie betrachten alle Seiten der Fotoreportagen und können Vergleiche anstellen. »Signal« ist relativ häufig vertreten. Was macht das Besondere dieser Zeitschrift aus?
Die für das Ausland gemachte Propaganda-Illustrierte Signal gilt als beste Propagandazeitschrift alter Zeiten. Von April 1940 bis März 1945 war Signal in 20 fremdsprachigen Ausgaben in fast ganz Europa mit einer Auflage von 2,5 Millionen Exemplaren verbreitet. Der erste Chefredakteur war der frühere Fotoreporter Harald Lechenperg, der gleichzeitig Chefredakteur der Berliner Illustrirten war. Für Signal fotografierten Hilmar Pabel, Hanns Hubmann, Benno Wundshammer, Artur Grimm und Diedrich Kenneweg, Chef vom Dienst war Franz Hugo Mösslang. Alle überlebten und arbeiteten nach dem Krieg für die Quick in München, auch Harald Lechenperg.
In der Londoner Daily Mail vom 27. April 1942 schreibt ein Korrespondent: »Signal enthält Bildseiten von harten Kämpfen in Russland – alle natürlich voll vom Ruhm der deutschen Waffen. Aber – und das ist wichtig – jedes Bild erzählt seine Geschichte und hat daher seine journalistische Berechtigung. Da ist keine Verächtlichmachung des Feindes. Signal höhnt nie. Der Zweck der Zeitschrift ist nicht, mit den Waffentaten der Nazis zu prahlen, ebensowenig, seine Leser von Portugal bis Istanbul davon zu überzeugen, dass Deutschland den Krieg gewinnen werde. Es tut so, ob Deutschland den Krieg bereits gewonnen hätte, und seine Artikel sind so geschrieben, als ob diese Ansicht von ganz Europa geteilt würde.«
Signal wurde nicht in Deutschland verkauft. Egal, ob im so genannten Protektorat Böhmen und Mähren oder in Spanien, es war immer dasselbe Heft. Signal hat sich nicht den Ländern angepasst. Die größte Auflage gab es in Frankreich. Ungefähr 800.000 Franzosen haben für diese deutsche Propagandazeitschrift vier, fünf Francs bezahlt. Für die französische Ausgabe gab es manchmal aktuelle Beilagen, z. B. vier Seiten vom Luftangriff auf Montmartre.
Das hat man natürlich propagandistisch ausgenutzt, um zu demonstrieren: Hier, schaut mal her, Franzosen, eure Alliierten, die bombardieren euch, und WIR sind eure Freunde. Signal brachte als erste Illustrierte großformatige Farbberichte wie z. B. die Doppelseite von der Siegesparade der deutschen Truppen in Paris.
Die gesamte Zusammenstellung dieser Geschichte der Fotoreportage von 1839 bis 1973 ist voller Überraschungen, enthält viel Neues, aber natürlich auch die klassischen Reportagen. Was gilt für Sie als herausragend?
Das kann ich schlecht sagen, eigentlich enthält diese Zusammenstellung all das, was ich herausragend finde nach langen Jahren der intensiven Beschäftigung.
Zunächst kann ich aber sagen, was diese Zusammenstellung nicht enthält: Aus Platzgründen konnte ich Fotoreportagen in Modezeitschriften und Zeitungen kaum, in Büchern gar nicht berücksichtigen. So kommt z. B. Robert Frank mit seiner berühmten Serie The Americans nicht vor, weil sie als Buch gedruckt wurde. Auch William Klein hätte ich gerne mit seinen berühmten Reportagen gezeigt, seine Bücher über New York, Rom, Moskau und Tokio. Leider sind sie ausschließlich als Bücher publiziert worden. Oder die Buchreportage von Ed van der Elsken Liebe in Saint-Germain-des-Prés und das Fotobuch Vietnam Inc. von Philip Jones Griffiths.
Ich hoffe, eines Tages meinem Katalog Kiosk eine Fortsetzung geben zu können, in der diese großartigen Fotoreporter berücksichtigt werden und ich auch die wichtigsten Fotoreportagen der letzten dreißig Jahre zeigen kann.