Bildreporter für ein Jahr…
»Document Nederland«: Regelmäßig vergeben eine Zeitung und ein Museum in den Niederlanden einen Dokumentar-Fotojob. Das Honorar ist knapp, aber dafür gibt es reichlich Zeit – und die Garantie, dass die Bilder sehr prominent ausgestellt und gedruckt werden.
Text – Urs Kluyver
»3. Oktober 2003. Telefon. Jan Paul van der Wijk – Art Director und Chef Fotografie vom NRC Handelsblad – fragt, ob ich Lust habe, nächstes Jahr für Document Nederland das Projekt ‚Jugend‘ zu fotografieren.«
Justin Jin überlegt nicht lange, sondern sagt zu. Und so bekommt der aus Hongkong stammende Fotograf den Job für 2004. »Das wundert mich«, schreibt der 30-Jährige, »da meine Arbeit vor allem von Erwachsenen handelt«. Es folgen dann Besprechungen mit dem Komitee vom Rijksmuseum in Amsterdam und der Zeitung NRC Handelsblad, um den Auftrag zu konkretisieren. Man möchte gerne »Jugend und Schulen« fotografiert haben, Justin nur »Jugend«. Einen Monat später ist er dann verstimmt, weil das Projekt jetzt »Schulen« heißt.
»Document Nederland«: Jedes Jahr bekommt eine Fotografin oder ein Fotograf den Auftrag, zwölf Monate lang ein Thema zu erarbeiten. Veröffentlicht werden die Bilder dann in einer 8- bis 15-seitigen Beilage (ohne Anzeigen!), in einer Ausstellung im Amsterdamer Rijksmuseum und meistens auch als Buch. 2005 wurde der Fotoauftrag zum 30. Mal vergeben, und seit acht Jahren arbeitet das Museum mit der großen Rotterdamer Tageszeitung NRC Handelsblad zusammen.
Doch zurück ins Jahr davor: Justin schlägt vor, drei Schüler zu begleiten. Daraufhin reist er wochenlang durchs Land, um Jugendliche kennen zu lernen. Er findet drei, die ihn interessieren, und nennt das Thema »Auf der Suche nach Sophie, Hakan & Roderick«.
Am 18. Dezember 2004 ist die gesamte Wochenendbeilage der NRC auf 15 Seiten eben dieser Reportage gewidmet, und im Foam – dem Fotografiemuseum Amsterdam – läuft die Ausstellung zwei Monate (normalerweise sind die Bilder im Rijksmuseum zu sehen, aber das wird gerade renoviert). Dass die Ausstellung sonst im berühmtesten Museum der Niederlande gezeigt wird, ist auch ein Kick: Nicht nur die Fotografen, auch die Fotografierten sind stolz, im selben Museum »unter einem Dach zu hängen mit Vermeer, Frans Hals und Rembrandts Nachtwache«. »Dann können meine Enkel später ins Rijksmuseum gehen und uns im Archiv finden«, sagt einer stolz.
Dass man dies aber auch als irritierend empfinden kann, formulierte Bart Sorgedrager, als er Ende 1998 den Auftrag bekam, das Neubauviertel »Leidsche Rijn« bei Utrecht zu fotografieren. Der 42-Jährige, der sich sonst alle Fotoprojekte selber ausdenkt, organisiert und finanziert, also völlig unabhängig ist, hatte so seine Schwierigkeiten damit, jetzt einen Auftrag fertig vorgesetzt zu bekommen. Doch dann gab es ihm »ein eigenartiges Gefühl von Reichtum und Anerkennung, mit den berühmten Malern in einem Museum zu hängen«.
Das Thema kannte er gut, er wohnt selber in einem solchen Neubauviertel und wusste, wie beliebt diese bei Fotografen und Auftraggebern sind. Er meinte zwar, die Sache sei irgendwie totfotografiert; dennoch arbeitete er von 1999 bis September 2001 am Thema, das er »Villa Vinex« nannte und Ende 2001 ausstellte.
In Holland heißen diese Viertel, die man im ganzen Land auf den Wiesen entstehen sieht, »Vinex-wijken«. 1990 beschloss die Regierung, dass binnen zehn Jahren im ganzen Land 600.000 neue Häuser gebaut werden sollten, um endlich die Wohnungsnot nach den Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs in den Griff zu bekommen.
Im November 2000 erschien »Document Nederland« ausnahmsweise von drei Fotografen: »Buren/Neighbours/Nachbarn. Drei ausländische Fotografen sehen die Niederlande.« Als der Brite Mark Power für die erste Besprechung mit Eva Leitolf aus Deutschland und dem Belgier Stephan Vanfleteren ins Museum kam, wurden sie in die Ausstellungssäle geführt. Er stellte fest, dass auch die andern nervös waren: Denn die Räume sind sehr groß – und sehr leer.
Leitolf, Power und Vanfleteren legten los, und es entstanden sehr unterschiedliche Reportagen: Stephan Vanfleteren machte Bilder von 100 Holländern, die dann als Schwarzweiß-Porträts neben- und untereinander seitenweise in der Zeitung abgedruckt wurden – darunter und schön zwischendrin auch Königin Beatrix. Eva Leitolf lichtete für ihr Projekt »Schöne Grüße« unter anderem ihre Hotelzimmer und die Aussichten daraus ab, sie ließ außerdem deutsche Touristen Postkarten über deren Urlaub schreiben, die von ihr dann abfotografiert wurden.
Währenddessen fotografierte Mark Power die Küste, die ihn völlig fertig machte, weil alles so schrecklich proper ist und es immer regnet. Er hatte sich zum Thema gesetzt, die Stellen an der Nordsee zu zeigen, wo Holländer und Engländer sich im 17. Jahrhundert drei Seeschlachten geliefert haben. Und so sehr viel sieht man davon nicht mehr.
PROBLEM MIT DEM BUDGET
November 2003, die 39-jährige Janine Schrijver hat ein Jahr lang »junge Alte« fotografiert, das Thema »Forever Young«. Auch daraus wurde am Ende ein Buch, das gleichzeitig mit der Zeitung und der Ausstellung erschien.
Die Fotografen dieser Jahresaufträge haben kein großes Budget. Schrijver zum Beispiel sagt, dass sie deswegen keine Kontakte machen ließ, sondern ihre Negative selber einscannte. Allerdings leistete sie sich eine neue Kamera. 13 Jahre reiste ihre Bronika mit ihr durch den Kosovo und die Wüsten von Nevada, aber sie war zu schwer. Jetzt hatte sie die Mamiya 7 und freute sich über das Leichtgewicht, wenn sie mit furchtbar fitten Rentnern endlos lange Wanderungen für die Reportage machen musste.
Auch Morad Bouchakour, der 2001/ 2002 ein Jahr lang Feste in Holland fotografierte, beschloss, vorher hart zu arbeiten und Geld zu verdienen, damit er sich den Auftrag leisten konnte. Der 39-jährige Morad arbeitet normalerweise mit einem Assistenten, der auf einem Stock den Blitz hochhält. Das erwies sich als schwierig, weil er den Assi einsparen musste, wo er doch schon seine riesige Mamiya RB festhält. Darum half ihm seine Freundin, die außerdem im ganzen Land recherchierte, wo es welche Feste gibt. Von Hochzeiten bis Lacklederpartys waren die beiden eine Attraktion – das ärgerte Morad, der doch lieber unauffällig gewesen wäre, weil er meinte, dann die besseren Fotos zu machen.
Ähnlich schwer machte es sich Céline van Balen (38); 1997 legte sie ihr Examen an der Gerrit Rietveld Akademie in Amsterdam ab. Im Dezember des Jahres bekam sie den »Document«-Auftrag, siebenjährige Kinder zu fotografieren. Sie arbeitet immer mit der Linhof Technika 4×5, Stativ, schwarzes Tuch. Das war mit dieser Zielgruppe eher schwierig. Auch schwierig war es, überhaupt Siebenjährige zu finden, doch irgendwann bekam sie ein Auge dafür, ob ein Kind das richtige Alter für diesen Auftrag hatte.
Van Balen stellte allerdings fest, dass sogar sie als Frau wegen der Kinderporno-Problematik große Probleme hatte, Fotogenehmigungen von den Eltern zu bekommen. Sie glaubt, »ein Mann hätte den Auftrag nicht machen können«.
Die meisten Fotografen schaffen es, aus der »Document«-Arbeit ein Buch zu machen. Das allerdings in Eigeninitiative. Bart Sorgedrager fühlte sich bei der Suche nach Finanzmitteln wie ein »Straßenköter, der um Geld betteln muss«. Am Ende aber bekam er doch genug Subventionen, um seine Vinex-Geschichte als Buch zu veröffentlichen. Es hilft natürlich, dass die Verlage sehr aufmerksam sehen, welche Reportage an wen vergeben wird. Nach der Veröffentlichung in der Zeitung und wegen der Ausstellung im Museum hat man schon eine relativ gute Auflage sicher.
Jan Paul van der Wijk, der Art Director, sagt zur Vergabe der Aufträge: »Zum Beispiel haben wir deswegen Justin gefragt, ein solch ‚normales‘ Thema zu erarbeiten, weil der sonst immer Katastrophen und Flüchtlinge fotografiert. Wir wollten sehen, wie er mit eben diesem Thema umgeht.«
Und wie Jet Baruch, die Konservatorin Niederländische Geschichte im Rijksmuseum, es in einem Artikel über Justin Jins Reportage formuliert: »Jin gewann das Vertrauen der drei Schüler und durfte auch in traurigen und wütenden Momente in der Nähe dieser 16-Jährigen sein. Und seine Fotos sind so gut, dass sie eigentlich keines Kommentars bedürfen.«
Das Rijksmuseum vergibt nun schon seit 30 Jahre Aufträge für Fotoreportagen. Es will die moderne niederländische Geschichte für die nächsten Generationen im Bild festhalten. 2005 arbeitet Jan van IJken am Thema »Dierbaar«, Tiere und Menschen. Im Dezember kann man seine Arbeit in der Zeitungsbeilage sehen.
DOCUMENT NEDERLAND
Das Fotostipendium »Document Nederland« wird seit 1975 vergeben. Für die einjährige Arbeit werden derzeit 20.000 Euro bezahlt. Eine Kommission wählt den Fotografen bzw. die Fotografin aus, Bewerbungen sind nicht möglich.
Fotografen & Projekte:
1997 Catrien Ariëns: Sonntag.
1998 Céline van Balen: Siebenjährige.
www.gkf-fotografen.nl
1999 Bart Sorgedrager: Villa Vinex.
www.gkf-fotografen.nl
2000 Nachbarn. Mark Power www.markpower.co.uk / Eva Leitolf / Stephan Vanfleteren
www.stephanvanfleteren.com
2002 Morad Bouchakour: Feste.
www.moradphoto.com
2003 Janine Schrijver: Forever Young.
www.janineschrijver.nl
2004 Justin Jin: Jugend & Schule.
www.justinjin.com
2005 Jan van IJken: Tiere & Menschen.
www.xs4all.nl/~fotojan
Document Nederland. Nederland gefotografeerd 1975–2005.
Zwolle: Waanders Uitgevers.
456 Seiten mit über 400 Fotos. 24,95 Euro.
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Urs Kluyver
geboren in Rotterdam, lebt als freier Fotograf in Hamburg.