Der Blick auf andere Familien erweitert unseren Horizont
Ab dem 11. Februar 2016 präsentiert die FREELENS Galerie in der Ausstellung »Bitte warten…« Auszüge aus einem Gemeinschaftsprojekt, in dem FREELENS Fotografen die Situation von Geflüchteten dokumentieren. Sie begleiten die Menschen in ihren Herkunftsländern ebenso wie deren langen Weg nach Europa, das Warten und Bangen, das Ankommen und sich Zurechtfinden in einer neuen Welt.
Die Hamburger Fotografin Gesche Jäger begleitete Familie Masri, die 2014 über das Bundesaufnahmeprogramm aus Syrien nach Deutschland gekommen ist. Mit leisen, oft indirekt erzählenden Bildern gelingt es ihr, den Alltag der Familie einzufangen, der geprägt ist von dem Bemühen, sich in die Gesellschaft einzugliedern, ohne die eigene Kultur und Identität zu verlieren. Peter Lindhorst sprach mit Gesche Jäger über ihre Erfahrungen.
Peter Lindhorst: Wie bist du auf Familie Masri gestoßen?
Gesche Jäger: Bevor ich anfing, für das Thema zu recherchieren, kannte ich die Familie Masri nicht. Ursprünglich wollte ich eine andere Familie fotografieren, die schon vor Jahrzehnten aus dem Irak geflohen war und bis heute, trotz hervorragender Bildung und viel Engagement, immer wieder Probleme mit der Integration hat. Die Familie hat mir aber leider abgesagt. Die Mutter, die ich als Protagonistin abbilden wollte, fühlte sich zu minderwertig, um fotografiert zu werden, da sie es in den letzten 25 Jahren nicht geschafft hat, wieder in ihren Beruf als Journalistin einzusteigen. Das hat mich tief berührt.
Familie Masri profitiert seit ihrer Ankunft in Deutschland von der Hilfe und den Erfahrungen, die die Familie aus dem Irak an sie weitergibt. Daraus ist eine Freundschaft entstanden. So habe ich dann Familie Masri kennengelernt.
Brauchte es viel Überredungskraft, um eine »Innenansicht der Familie« zu erhalten? Zu was war die Familie bereit?
Ich glaube, ich habe bis zum Schluss keine wirkliche Innenansicht des Vaters erhalten. Lilian, die siebenjährige Tochter, war mit Abstand die Offenste. Sie hat mir aus freier Seele alle ihre selbstgemalten Kriegsbilder gezeigt, von Bombeneinschlägen erzählt und mir fröhlich Puschen und Süßigkeiten gebracht, als ich zu Gast war. Sogar in ihr Freundschaftsbuch durfte ich mich eintragen.
Heba, ihre Mutter, ist eine sehr warme, herzliche Person, die geradezu aufblüht, wenn sie mit anderen Frauen zusammen ist. Bei ihrem Mann Ayman hatte ich das Gefühl, dass er sehr vorsichtig ist. Stets darauf bedacht, seine Familie zu schützen. Ich habe ihn viel nach seinen Emotionen und persönlichen Erlebnissen gefragt und selten eine Antwort erhalten. Aber ich verstehe, dass er nach einem Leben, das von Verlust und Gefahr geprägt war, misstrauisch geworden ist. Und kulturelle Unterschiede spielen sicherlich auch eine Rolle.
Wie lange hast du die Familie fotografisch begleitet und wie habt ihr euch verständigt?
Nach drei Terminen mit der Familie innerhalb von ein paar Wochen hat sich Ayman freundlich von mir verabschiedet und mir klar gemacht, dass es jetzt genug sei. Er war ständig auf der Hut, dass ich in der Wohnung nicht zu viele Details festhalte und ich merkte, dass er immer wieder mit sich rang, ob er das Projekt komplett absagen solle. Ich war froh, dass ich Mutter Heba noch einmal beim Kochen mit anderen Flüchtlingsfrauen treffen und fotografieren konnte.
Die Verständigung war kunterbunt. Lilian kann nach einem Jahr in der Schule schon sehr gut Deutsch, konnte bei Bedarf auch übersetzen. Ayman spricht hervorragend Englisch. Zwischendurch fielen natürlich auch einige arabische Wörter, und Mimik und Gestik taten ihr Übriges.
Wie betrachtet man seine eigene Rolle als Fotografin, die in den intimen Bereich des Familienlebens dringt? Ist das für dich eine neue Erfahrung gewesen?
In den letzten Jahren hatte ich häufig das große Glück, eine gute Vertrauensebene zu Protagonisten und Familien aufbauen zu können und somit auch intime Einblicke in mir fremde Lebensweisen zu bekommen. Dafür sind natürlich viel Zeit und eine grundsätzliche Bereitschaft notwendig. Nur unter diesen Voraussetzungen entstehen glaubwürdige, bewegende Bilder, die ohne Dramatik oder Sensation auskommen.
Gelingt es mir, einen Moment tiefster Vertrautheit einzufangen, fühle ich mich keineswegs als Voyeur, sondern bin manchmal ehrlich stolz, dass ich es geschafft habe, diese Nähe aufzubauen. Jeder Blick in andere Familien erweitert meinen persönlichen Horizont, zeigt mir andere Wege auf und nimmt mir selbst Skepsis und Angst vor Fremdem.
Im Fall der Familie Masri hätte ich gern etwas mehr Zeit gehabt. Für die Kamera und für mein eigenes Erleben.
Was hat dich gereizt, einen ganz normalen Alltag abzubilden? Dem Thema »Flucht und Geflüchtete« hast du statt dramatischer, elendsvoller und anklagender Bilder leise, oft indirekt erzählende Momente entgegengesetzt? Was ist deine Motivation/dein fotografischer Ansatz?
Für mich sind Dramatik, Krieg und die Not anderer Menschen keine entscheidenden Faktoren, um Bilder spannend zu machen. Ich mag die Herausforderung, auch ohne diese auszukommen.
Bilder von sinkenden Schlauchboten, erschöpften Männern, ja sogar toten Kindern haben wir viele gesehen. Und sie haben natürlich auch ihre Berechtigung. Trotzdem war es für mich persönlich von größerer Bedeutung, zu sehen, was danach kommt. Was passiert, wenn eine Familie es geschafft hat, das berühmte Erstaufnahmelager hinter sich zu lassen? Ist sie dann automatisch integriert?
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass der beschwerliche Weg mit dem Schritt in die eigenen vier Wände vorbei ist und wollte mir unbedingt einen persönlichen Eindruck verschaffen. Mir war zudem wichtig, meine zukünftigen Nachbarn kennenzulernen, ins persönliche Gespräch zu kommen und eigene Vorurteile gar nicht erst aufkommen zu lassen.
Nicht zuletzt möchte ich mit meiner Arbeit aufklären, Unwissenden die Angst vor dem Fremden nehmen und auf meine Art einen kleinen Teil zu einer gelungenen Integration beitragen.
Welche Themengebiete fotografierst du normalerweise?
Tatsächlich liegt meine fotografische Leidenschaft bei Menschen und gesellschaftlichen Phänomenen jeder Art. Mein letztes Buch »Vaeterland« handelt von verschiedenen Familienstrukturen in Deutschland. Dabei habe ich mich mit unterschiedlichen Rollenmodellen auseinandergesetzt und die Väter dabei in den Fokus gestellt. Davor habe ich ein Buch namens »was tun« über den Frauenmangel in ländlichen Regionen Ostdeutschlands gemacht, auch hier lag der Schwerpunkt bei den Männern – diesmal jung und alleinstehend – die trotz jeder Perspektivlosigkeit in ihrer strukturschwachen Heimat bleiben.
Seit ich selbst Mutter bin, liebe ich es umso mehr, andere Familien kennenzulernen, sie zu ergründen und vielleicht sogar als Forschungsobjekt für persönliche Zwecke nutzen. Das mag schaulustig klingen, ist es vielleicht auch ein bisschen. Aber natürlich fotografiere ich immer mit Zustimmung und bin dabei bedacht, Grenzen nicht zu überschreiten.
Wie siehst du die Perspektive für die Familie Masri?
Familie Masri nimmt die wahrscheinlich einmalige Chance, sich ein neues, sicheres Leben aufzubauen, sehr ernst. Mit viel Ehrgeiz und Fleiß lernen die Eltern Deutsch, setzen sich mit der deutschen Kultur auseinander und schauen jeden Tag nach Jobs. Ich denke durch ihre Motivation und ihr recht hohes Bildungsniveau haben sie Chancen, langfristig Fuß zu fassen.
Nach über einem Jahr in Deutschland haben Ayman und Heba allerdings noch keine privaten Kontakte zu Deutschen, geschweige denn Freundschaften, aufgebaut. Auch, wenn solche Annäherungen sicher Zeit brauchen, ist es natürlich überaus wichtig, dass sie irgendwann stattfinden. Während Tochter Lilian durch die Schule und ihre offene Art schon voll in die Hamburger Gesellschaft integriert ist, müssen ihre Eltern viel mehr Kraft aufwenden, sich anzupassen und Kompromisse einzugehen.
Hältst du noch Kontakt zu den Masris?
Leider habe ich nur sehr sporadischen Kontakt, der meist eher organisatorischer Art ist. Ich würde mich aber freuen, die Familie irgendwann einmal wieder zu treffen.
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Gesche Jäger
studierte nach einer Ausbildung zur Fotografin von 2004 bis 2009 bei Roman Bezjak an der Fachhochschule Bielefeld. Seit 2010 lebt sie als freischaffende Fotografin in Hamburg. Gesche Jäger widmet sich sozialpolitischen Themen, die ohne Krieg oder Krise auskommen und unter anderem klassische Rollenbilder infrage stellen. Die Porträtfotografie und die Auseinandersetzung mit Menschen ist dabei ein Schwerpunkt.