Projekt 1 von 2
Wenn ich an zu Hause denke, denke ich an meine zugefrorene, zusammengeklebte Nase. Das Gefühl, das entsteht, wenn der Frost bei minus 20 Grad so kalt ist, dass er einem beim Atmen die Nasenlöcher zufriert. Wenn ich an zu Hause denke, rieche ich den Rauch der Holzöfen, mit denen alle in Stepanovka heizen, denn das endlose russische Gas hat noch nicht den Weg in unser Dorf gefunden. In Stepanowka kann man die Sterne nicht sehen, der Rauch aus den Schornsteinen dämpft alle Farben und Geräusche.Ich habe meinen deutschen Freunden viel von diesem Ort erzählt, von dem außer Klischees und Kälte kaum jemand etwas wusste. Seit Beginn des Krieges bezweifle ich, dass ich wirklich verstanden habe, was meine Heimat ausmacht. Meine Heimat hat sich in eine Ansammlung verstaubter Erinnerungen verwandelt, und ich kann nicht mehr sagen, ob sie jemals der Realität entsprochen haben.In der Woche nach Kriegsbeginn habe ich einen Brief an meine Eltern geschrieben, ihn aber nie abgeschickt. Je länger der Krieg dauert, desto tiefer werden die Narben, und desto weiter driften unsere Paralleluniversen auseinander. Was bleibt von einer Heimat, wenn das eigene Land zum Täter wird? Wer wird man selbst, wenn sich die eigene Familie plötzlich wie Fremde anfühlt? Zehn Monate nach Kriegsbeginn kehrte ich zum ersten Mal zurück, um meine Eltern zu sehen und das Gefühl einzufangen, das mich begleitet: den Schmerz, den Verlust von Identität und Heimat und die Liebe zu Menschen, die an eine andere Realität glauben.
Dieses Projekt wurde für das Stern-Magazin fotografiert und mit dem World Press Photo Award 2025 in der Kategorie »Europe Long-Term Projects« ausgezeichnet.
Blick aus dem Flugzeugfenster auf dem Weg nach Tomsk. Nach dem Beginn des russischen Einmarsches in der Ukraine wurde der Flugverkehr zwischen Europa und Russland eingestellt, und die Zeit und die Kosten für Tickets für die Heimreise aus Deutschland verdoppelten sich. 20.12.22
Mama lernt Deutsch mit der App Duo Lingvo und heilt ihr gebrochenes Bein mit einem Infrarotgerät. Mama hat in der Schule Deutsch gelernt, aber wie die meisten Menschen ihrer Generation kann sie sich nicht viel merken. Mama möchte unbedingt einmal eine Reise nach Deutschland machen. Meine Eltern haben mich in den vier Jahren in meinem neuen Zuhause noch nie besucht, keiner von ihnen war jemals im Ausland. 26.12.22
Der Buchstabe Z, der zum Symbol für die russische Aggression in der Ukraine geworden ist, als Dekoration vor dem Supermarkt, in dem meine Eltern normalerweise ihre Lebensmittel einkaufen. In Sibirien, das Tausende von Kilometern von der Front entfernt ist, ist es viel einfacher, so zu tun, als ob alles in Ordnung wäre und nichts passieren würde. Trotzdem ist der Krieg immer in greifbarer Nähe. Zumindest in Form dieser Buchstaben Z, wo noch vor einem Jahr nur Schneemänner standen. 29.12.22
Reproduktion eines Gemäldes des russischen Malers der Romantik Isaac Levitan in der Sommerküche neben dem Haus meiner Eltern. Im Sommer versammelten wir uns oft am Tisch in diesem Raum, aber mit dem ersten Schnee ziehen alle zurück ins Haus und niemand ist mehr in der Sommerküche, außer dem Frost. 29.12.22
Großmutter ruht sich nach einem Spaziergang aus.Oma wird in diesem Jahr 94 Jahre alt. Sie hat die meiste Zeit ihres Lebens in einem kleinen sibirischen Dorf gelebt und ist erst vor fünf Jahren in eine Ein-Zimmer-Stadtwohnung in Tomsk gezogen, um näher bei ihrer Familie zu sein.Großmutter geht nie allein aus dem Haus, zu groß ist ihre Angst, zu stürzen oder sich zu verirren. Als ich sie dieses Mal zum ersten Mal traf, umarmte sie mich ganz fest, weinte und sagte: „Aljonotschka, ich dachte, ich würde dich nie wieder sehen. Sie hatte auch ein Geschenk für mich eingepackt, das ich mit nach Deutschland nehmen sollte - mein altes Babyhandtuch, ein Evangelienbuch und ihren warmen Daunenschal. 10.02.22
Selbstporträt in meinem Kinderzimmer als Versuch herauszufinden, ob ich noch zu diesem Bett, diesem Haus und diesem Ort gehöre. 11.01.23
Meine Eltern gehen nachts im Wald spazieren, nicht weit von zu Hause. Am 20. Februar 2022 feierten wir gemeinsam ihren vierunddreißigsten Hochzeitstag.Es war meine letzte Nacht zu Hause, am nächsten Morgen flog ich nach Deutschland, zwei weitere Tage später begann der Krieg.20.02.22
Blick auf Stepanowka vom Hügel aus. Stepanowka ist einer der Stadtteile von Tomsk, der durch die Eisenbahnlinie vom Rest der Stadt getrennt ist.Trotz der Tatsache, dass man mit dem Bus 30 Minuten bis ins Zentrum braucht, wirkt Stepanovka eher wie ein Dorf als ein städtisches Gebiet.Meine Eltern kauften hier ein Haus, kurz nachdem sie geheiratet hatten und ein Jahr vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Ich wurde hier geboren und habe 29 Jahre lang hier gelebt. 07.02.22
Gräber russischer Soldaten, die in der Ukraine gefallen sind, auf dem Stadtfriedhof bei Tomsk. Ende November wies die Stadtverwaltung den Soldaten einen eigenen Abschnitt mit der Nummer 39 zu, der an den wehenden Fahnen der verschiedenen Abteilungen der russischen Armee leicht zu erkennen, aber nicht leicht zu finden ist. Obwohl der Staat versucht, die gesamte Bevölkerung zur Unterstützung des Krieges zu mobilisieren, werden die toten Soldaten in aller Stille und fast im Geheimen beerdigt. 13.01.23
Mama vor dem Fenster meines Elternhauses. Am Ende des Winters liegt so viel Schnee, dass er bis auf die Fensterbank reicht 19.02.22
Projekt 2 von 2
In Oświęcim, der Stadt, die die Nazis Auschwitz nannten, gibt es nur noch eine Jugendherberge. 40 Zimmer und 115 Betten, rote Dachziegel und weiße Fassade. Sie wurde vor 36 Jahren eröffnet, und fast jede deutsche Gruppe, die sich länger als einen Tag in Oświęcim aufhielt, übernachtete seitdem dort.
Wie verhindert man, dass die Erinnerung daran verblasst, wie die Jahre zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart verrutscht sind? Wo, wenn nicht hier, können wir die Antwort auf diese Frage finden. Ich und der Journalist Jonah Lemm sind mit einer Gruppe deutscher Schüler nach Polen gereist, um diesen ganz besonderen Ort zu porträtieren und ihre Erfahrungen bei der ersten Konfrontation mit dem Thema Holocaust für das Stern-Magazin festzuhalten.
Am letzten Tag der Reise hinterlassen die Jugendlichen Rosen an der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau.
Exkursion zum Stammlager Auschwitz.
Die Schülerinnen und Schüler sehen sich das Buch mit den Namen der Opfer von Auschwitz an.
Bilder aus dem Archiv des Fahrers Jan Matuszyk, der hier seit der Gründung der Jugendherberge in den 80er Jahren gearbeitet hat.
Der ehemalige Leiter der Jugendherberge Leszek Szuster am Grab der Auschwitz-Überlebenden Zofia Posmysz.
Exkursion zum Stammlager Auschwitz.
Haushälterin Dorota Kikla beim Reinigen des Zimmers. Sie arbeitet seit mehr als 25 Jahren in der Herberge und kann ein Zimmer in 5 Minuten reinigen.
Exkursion zur Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau.
Die Freundinnen Johanna und Martha in ihrem Zimmer. Sie kommen aus Leipzig und für beide war es eine erste Erfahrung, sich so intensiv mit dem Thema Holocaust zu beschäftigen.
Eingang zur Jugendherberge.
2023
”A Year along the Banks”, MRO Foundation Arles, France (DOCKS)
”A Year along the Banks”, FOTODOKS Munich, Germany (DOCKS)
”A Year along the Banks”, Bucharest Photofest, Romania (DOCKS)
”A Year along the Banks”, GAF Gallery for Photography, Hanover, Germany (DOCKS)
”Zuhause riecht es nach Rauch”, F2 Fotofestival Dortmund, Germany
2021
"Bewegte Körper", Michael Horbach Stiftung Cologne, Germany
2024
Stern-Preis - Shortlist
Otto Steinert-Preis - 1st Prize
New York Portfolio Review - Participant
2023
PhMuseum 2023 Women Photographers Grant - Shortlist
Nikon Fotobus Grant - 2nd Prize
W. Eugene Smith Student Grant - Honorable Mention
Hamburg Portfolio Review - Participant
Stern-Preis - Shortlist (DOCKS)
Felix Schoeller Award - Finalist (DOCKS)