Veröffentlichung
Dmitrij Leltschuk

»Warum hängt daran dein Herz?«

»Wie Erinnerungsstücke aus der Kriegszeit helfen, unsere Eltern zu verstehen« Ein SPIEGEL-Buch

Von Dmitrij Leltschuk

Noch vor dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine fragte mich eine SPIEGEL-Kollegin, ob ich Interesse hätte, ein längeres Fotoprojekt für sie zu machen. Der Arbeitstitel lautete »Kriegsgegenstände«. Es ging darum, dass viele deutsche Familien aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs Gegenstände aufbewahren, die mit dem Krieg zu tun haben und die aus irgendeinem Grund für diese Familien wichtig sind. Mir war schon klar, dass das Fotografieren der Gegenstände an sich und das Portraitieren ihrer Besitzer im illustrativen Sinne zwar eine wichtige Sache ist, in diesem Fall aber das Privileg des Geschichtenerzählens dem Text gehören soll.

Barbara Langner, 84, sitzt zuhause auf einem Sofa vor dem Fenster. Wiehl, 30.10.2022. Foto: Dmitrij Leltschuk

Dennoch stimmte ich zu, und zwar nicht aus einem kreativen Impuls heraus, sondern aus Neugierde. Ich kannte den Zweiten Weltkrieg sehr gut von den Gegenständen, die in belarussischen Familien aufbewahrt wurden, und ich verstand natürlich die Bedeutung und Besonderheit solcher Artefakte für ihre Besitzer. Nun hatte ich die Gelegenheit, den Krieg von der anderen Seite zu betrachten. Alles in allem war es unmöglich, das Angebot der Redaktion abzulehnen.

Später stellte sich heraus, dass ich auch Menschen ablichten soll, die ziemlich bekannt sind, wie Gerhart Baum, Peter Stephan Jungk, Niklas Frank (Sohn von Hans Frank, dem Generalgouverneur des besetzten Polens im Zweiten Weltkrieg, einem der Hauptorganisatoren des groß angelegten Terrors gegen die polnische und jüdische Bevölkerung Polens, einem der 24 in Nürnberg verurteilten NS-Hauptverbrecher), Hanna Schygulla, weltweit bekannt durch Fassbinders Filme, Paul Maar, Rita Süssmuth und andere. Politiker, Kulturschaffende, Schriftsteller, aber auch ganz „normale“ Menschen.

Foto: Dmitrij Leltschuk

Zufälligerweise fiel der Beginn meiner Arbeit an dem Projekt praktisch mit dem Beginn des Krieges in der Ukraine zusammen. Und da ich Deutsch mit einem ordentlichen osteuropäischen Akzent spreche, fiel es meinen ProtagonistInnen oft schwer, darauf zu verzichten, nicht nur über den vergangenen, sondern auch über den aktuellen Krieg zu sprechen – viele von ihnen sahen in der Person »von dort« automatisch einen Experten. Vor meinen Augen wurde der alte Krieg von einem neuen Krieg abgelöst, einem Krieg, in dem Deutschland nicht mehr der Hauptbösewicht war. Russland verdrängte Deutschland von seiner scheinbar allgegenwärtigen Position so selbstverständlich, wie das Thema unserer Gespräche von »damals« zu »heute« wechselte. Meistens waren es ältere Menschen um die 80. Sie hatten Angst und sie hatten Angst, ihre Angst zu zeigen. Einmal brach sie plötzlich durch und füllte den Raum mit der Offenbarung über Vorräte an abgefülltem Wasser, welches eilig gekauft und für den Fall von Bombenangriffen im Keller gelagert wurde. Oder aber in einem anderen Haus, wo ich Informationen erhielt, wie viel es kostet, einen Reisepass extra schnell machen zu lassen – und wohin man am besten auswandern sollte. Die Verwirrung eines älteren Menschen, der in seiner Kindheit schon alles gesehen hat und seine Angst nicht vergessen konnte.

Im Laufe der Zeit änderten sich die Reaktionen (immerhin dauerte das Projekt fast zwei Jahre). Wir sprachen immer noch über den aktuellen Krieg, aber als etwas Fatales, unabhängig von Emotionen, Ängsten und Reaktionen im Allgemeinen. Es gab keine Weitschweifigkeit mehr. Wozu, wenn doch schon alles gesagt und tausendmal wiederholt wurde. Einige mieden das Thema. Ich selbst fing damit nie als Erster an.

Alles in allem bin ich der Spiegel-Redaktion sehr dankbar für die Möglichkeit, nicht nur die Vergangenheitskonserven zu öffnen, sondern auch ein Zeuge der gesellschaftlichen Gegenwart zu sein.

 

»Warum hängt daran dein Herz?«
Hauke Goos, Annette Goos – mit Fotografien von Dmitrij Leltschuk

Hardcover mit Schutzumschlag, 384 Seiten, 17,0 x 24,0 cm
mit vielen Farbfotos

ISBN: 978-3-421-07031-9
Erschienen am 24. April 2024