Fotobuch
Dirk Gebhardt

Play Life. Neighbors in the Western Balkans

Weltweit definieren sich Menschen erneut durch ein altes Phänomen: Nationalstaaten. Die Nation als Heilsbringer in einer komplexen Welt. Der eigene Staat wird glorifiziert und setzt andere Nationen in einer imaginären Hierarchie herab. Geschichtlich gesehen sind Nationalstaaten eine junge Erscheinung. Erst seit der Französischen Revolution haben Menschen nach Identität in Sprache, Grenzen und Nation gesucht. Davor herrschten Könige über eine Vielzahl von Ländern und Völkern. In ihrem Hoheitsgebiet wurden viele Sprachen gesprochen und die Bevölkerung gehörte verschiedenen Religionen an. Im Absolutismus hielt der König das Volk zusammen.

Bosnisch-serbische Nationalisten vor einem Denkmal für gefallene serbische Soldaten in Sarajevo. Foto: Dirk Gebhardt

Neue politische Ideen und wirtschaftliche Produktionsansätze erforderten neue Identifikationsmechanismen. Sprache, Rasse und Grenze bildeten nun eine Nation. Es entstanden nationale Mythen, die diese neue Definition des Staates historisch begründeten. Die Deutschen nutzten den Krieg gegen Frankreich 1871, ein deutscher König wurde zum Kaiser proklamiert – obwohl Deutschland 1815 noch aus mehr als 39 Staaten bestand, die sich zum Deutschen Bund vereinigten. Die neuen Staaten des Westbalkans verwendeten ähnliche Ansätze, um ihre nationale Identität zu definieren. Einige bauten pseudogeschichtliche Gebäude und Skulpturen, um die historische Existenz ihrer Nationen zu unterstreichen, andere verwendeten Religion und Neuinterpretationen historischer Momente auf dem Balkan, um ihren Glauben an das Recht auf Dominanz über die anderen Nationen zu untermauern. Von außen betrachtet sieht es aus wie eine Mimikry von häufig verwendeten Mustern für den Aufbau von Nationen – es sieht aus wie »Play Life«.

Straßenbahn in der Marschall-Tito-Straße in Sarajevo. Foto: Dirk Gebhardt

Karussel vor dem Archäologischen Museum Mazedoniens in Skopje. Foto: Dirk Gebhardt

Von 2009 bis 2017 hat Dirk Gebhardt die subtilen Symbole des Nationalen im Straßenbild der Hauptstädte, Pristina, Belgrad, Skopje und Sarajevo gesucht. Der Balkan ist seit Jahrhunderten multikulturell geprägt. Die unterschiedlichen Dynastien gingen tolerant mit dem Mix aus Religionen, Sprachen und Traditionen um. Die Fotografien im Buch zeigen scheinbar beiläufige Alltagssituationen, doch warum steht 15 jähre nach dem Kosovo Krieg immer noch das zerstörte Verteidigungsministerium in Belgrad? Warum stehen in Skopje über 2000 neue Denkmäler?

Erst seit dem Zusammenbruch der Jugoslawischen Republik haben nationalistische Kräfte die marginalen Unterschiede als Separationsmuster etabliert. Gravierendstes Beispiel einer nationalistischen Umdeutung ist die Sprache. Serbokroatisch ist seit dem 18. Jahrhundert eine Sprache mit einem grammatikalischen System. Nach dem Zerfall Jugoslawiens entwickelten die Nachfolgestaaten aus politisch motivierten Gründen neue Bezeichnungen: Kroatisch, Serbisch, Bosnisch und Montenegrinisch. Diese kann man Sprachwissenschaftlich nicht als voneinander unabhängige Sprachen definieren. Vielmehr handelt es sich um leicht voneinander abweichende Realisierungen einer Makrosprache und somit de facto um dasselbe Sprachsystem – Serbokroatisch.

 

Dirk Gebhardt
Play Life. Neighbors in the Western Balkans
Slanted Publishers, Karlsruhe, 2019,
ISBN 978-3-9818296-4-8, 29,90 Euro