Ausstellungseröffnung
FREELENS Galerie

Vernissage von »Eine Reise durch Deutschland. Die Mordserie des NSU« mit Paula Markert

Einführende Worte von Özlem Topçu, Politik-Redakteurin bei »Die Zeit« und Peter Lindhorst, Kurator der FREELENS Galerie zur Eröffnung der Ausstellung »Eine Reise durch Deutschland. Die Mordserie des NSU« von Paula Markert am 22. August 2019.

Özlem Topçu: Es gäbe viel zu sagen, und seit Tagen habe ich mir den Kopf darüber zerbrochen, was ich noch zu diesem Komplex beitragen könnte. Etwas, das der Größe des Geschehenen gerecht wird. Dass den Ermordeten, den Hinterbliebenen und all jenen gerecht wird, die an der Aufklärung des Falles mitgearbeitete haben. Die der Brutalität der Taten eine Zivilisierung auch vor Gericht entgegengestellt haben. Und natürlich etwas, das auch Ihren Bildern gerecht wird, liebe Paula Markert.

Mir fiel das Wort »Weltereignis« ein.

Die NSU-Morde und ihre Aufdeckung sind eines dieser Weltereignisse, die so einschneidend für eine Gesellschaft sind, dass man auch Jahre, Jahrzehnte später noch weiß, wo man war oder was man gerade gemacht hat, als man davon das erste Mal erfuhr.

Ich weiß es zumindest noch ganz genau, vielen meiner Kollegen geht es ähnlich. Jedem war klar, dass hier etwas Unfassbares passiert war, das in Deutschland – dem Land des »Nie wieder« – nicht passieren durfte: Neonazis konnten unbehelligt von Staat und Gesellschaft 14 Jahre lang durch das Land ziehen und Migranten und eine deutsche Polizistin (als Vertreterin des verhassten Staates) ermorden.
Der Rassismus hatte zur Waffe gegriffen.

Dieser Erkenntnis folgte eine zweite, ebenso schmerzliche: Es lag ein erschütterndes Versagen vor. Wohlwollend formuliert waren viele Vertreter der Sicherheitsbehörden einfach unfähig, das Undenkbare zu denken und entsprechend Rechtsextremisten hinter den Taten zu vermuten. Weniger wohlwollend formuliert: Sie wollten es nicht. Jedenfalls taten sie es nicht.

In den ersten Wochen und Monaten nach dem Auffliegen der Terrorgruppe geriet das Land in eine Schockstarre. Es war aufgerüttelt und schockiert über sich selbst.

Der NSU war Gesprächsstoff in Familien, unter Freunden, er beschäftigte mehrere Untersuchungsausschüsse, Tagungen, Konferenzen; er wurde in Dokumentationen, Filmen, Büchern und – wie wir heute sehen – in Fotografien aufgearbeitet. Die Bundeskanzlerin gab ihr Wort, alles zu tun, um die Morde aufzuklären. Bei der zentralen Gedenkveranstaltung 2012 sagte sie etwas, das heute wie eine Warnung vor der Gegenwart anmutet:

Sie sagte: »Intoleranz und Rassismus äußern sich keineswegs erst in Gewalt. Gefährlich sind auch diejenigen, die Vorurteile schüren, die ein Klima der Verachtung erzeugen. Wie wichtig sind daher Sensibilität und ein waches Bewusstsein dafür, wann Ausgrenzung, wann Abwertung beginnt. Gleichgültigkeit und Unachtsamkeit stehen oft am Anfang eines Prozesses der schleichenden Verrohung des Geistes. Aus Worten können Taten werden.«

»Taten statt Worte« lautete der grausame Schlachtruf des NSU.

Foto: Niklas Grapatin

Deutschland war angefasst, das war spürbar. Und auch der eineinhalb Jahre später beginnende Prozess hatte in den ersten Monaten eine enorme Ausstrahlungskraft mitten hinein in die Gesellschaft.

Als dieser vergangenes Jahr endete, fragten viele da draußen: NSU-Prozess? Läuft der etwa immer noch?

Der NSU-Fall hatte seine Ausstrahlungskraft verloren. Er berührte kaum noch. Das ist eine bittere Erkenntnis, auch wenn sie sich erklären lässt.

Da war die schiere Länge – fünf Jahre lang ging der Prozess. So ist es nun einmal in einem Rechtstaat.

Da war eine beharrlich schweigende Hauptangeklagte – natürlich, das Schweigen steht ihr zu. Das Schweigen allerdings war auch eine Entscheidung gegen die Aufklärung. Und eine Entscheidung gegen die persönliche Ansprache der Hinterbliebenen. Daran konnte nicht einmal Ayse Yozgat etwas ändern, als sie sagte: »Wenn Sie sich abends ins Bett legen, denken Sie bitte an mich und dass ich nicht schlafen kann. Bitte befreien Sie mich.«

Da ist eine dritte Erklärung, warum der Fall nicht mehr berührt – und diese liegt im Land selbst. Es hat sich eine seltsame Immunität dagegen entwickelt, was dort im Münchner Gerichtssaal verhandelt wurde. Als hätte sich die Gesellschaft einen unsichtbaren, undurchdringlichen Schutzschild umgelegt.

Das Deutschland von heute ist ein anderes, als es zu Beginn des NSU-Prozesses 2013 war.

Es hat eine Flüchtlingskrise erlebt, der man zuerst mit offenen Armen entgegentrat, eine Geste, für die man sich, nach vielen Problemen, Enttäuschungen und Gefahren, fast schon schämt.

Es hat islamistischen Terror erlebt und die Wut darüber, dass es unter den Flüchtlingen auch Kriminelle gibt. Eine Wut, die sich auch in Worten ausdrückt und in Debatten, in denen die Grenzen des Sagbaren immer weiter verschoben werden, so weit, dass gewählte Politiker Ministerinnen »in Anatolien entsorgen« wollen und die Nazi-Zeit einen »Vogelschiss« nennen.

Taten statt Worte. Nach allem, was wir wissen, wurde auch der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke Opfer dieses Schlachtrufs.

Muss man das alles so hinnehmen? Ganz sicher nicht. Dass Worte zählen kann jeder von uns verinnerlichen. Jeder kann sich auf seine Weise gegen Hass und Hetze stellen, ob in der analogen oder der digitalen Welt. Wenn es eine Lehre aus dem Fall des NSU gibt, die jeder Bürger dieses Landes umsetzen kann, dann diese: Dass auch die deutsche Demokratie dringend gepflegt – und beschützt werden muss.

Foto: Niklas Grapatin
Foto: Niklas Grapatin

Peter Lindhorst: Irgendwann kam es in ihr hoch. Im März 2013 wurden gerade die Plätze für den bevorstehenden Prozess verlost. Acht von zehn Mordopfern sind türkischer Herkunft, für türkische Medienvertreter gibt es jedoch keinen Platz. Bevor das größte Rechtsterrorismusverfahren der deutschen Geschichte richtig begann, gab es schon einmal viel Aufregung.

Das war auch etwas, was Paula Markert mit einigem Unverständnis wahrnahm und was sie für den bevorstehenden Prozess sensibilisieren sollte. Sie hatte natürlich im November 2011 wie alle anderen erstmals vom NSU gehört, als Mundlos und Böhnhardt tot in einem ausgebrannten Wohnmobil gefunden wurden und Zschäpe ihre Zwickauer Wohnung abbrannte. Unfassbar war der Fotografin die Taten, die zutage kamen, jetzt zu Prozessbeginn wurde ihr der ganze Wahnsinn noch einmal viel bewusster.

Plötzlich ist er also da in ihr – ein starker Moment der Aufgewühltheit: die bestialischen Morde, eiskalt und systematisch durchgeführt. Ein Moment der Aufgewühltheit auch deshalb, weil ihr klar wird, wie eine Ermittlungsmaschinerie versagt hat, die nicht rational vorgeht, wie man es von ihr erwarten dürfte. Hinweise wurden missachtet, bestimmte Zeichen falsch gelesen, Akten verschwanden. Welche Vorurteile machen die Verbrechen möglich und ihre Aufklärung unmöglich? Welche soziale Voreingenommenheit gegenüber einer stigmatisierten Schicht macht die Sicherheits- bzw. Aufklärungsapparate so blind und die Opfer zu Tätern, indem eine Schuld bei jenen gesucht wird, die mit ihrem Leben bezahlt haben.
Die Fragen, die Wut, eine Ratlosigkeit. Zehn Morde, drei Sprengstoffanschläge, 15 Raubüberfälle. Jeder von uns hat eine Ohnmacht gespürt, als jene Geschehnisse ans Licht kamen.

Wohin aber mit all der Fassungslosigkeit?

Ich beneide Künstler dafür, dass sie etwas haben, das ich auch gerne hätte – sie können ihre Haltung zu einem künstlerischen Ausdruck gerinnen lassen. So kann eine Künstlerin Klagelieder singen wie die wunderbare Esther Dischereit, eine Dichterin, die regelmäßig an den Sitzungen des NSU-Untersuchungsausschusses teilgenommen hat und auf die ich komme, weil sie das neue Buch von Paula Markert mit einem Gedicht einleitet, das mich zu Tränen rührt.

»Ich kaufe ein in diesem Laden
Milch und das weiße Brot
dass sie die Hochzeit nennen
Mit dem Wechselgeld
gab es manchmal eine Handvoll
Pistazien oder ich sollte
probieren von den Oliven
frisch geliefert und mit einer Mandel
darin gefüllt
keine Mandel mehr
wird je in diesen Oliven stecken
die länglich weißen Brote
sind verdorben
die Milch ist sauer
es gibt kein Brot
das Hochzeit heißt
es gab die Braut
die keinen Vater hat
der ihren Tanz anführte«*

Foto: Niklas Grapatin

»Ich kann den Prozess des Schreibens eigentlich nur durchhalten, wenn ich mich mit etwas beschäftige, das sich mir durch das Schreiben selbst erschließen kann, sodass ich dem Geschehen dadurch näher kommen und begreifen kann, vielleicht mehr als mir lieb ist«, hat Esther Dischereit in einem Interview geäußert. Entstanden ist eine düstere, vielstimmige Lyrik, mit der es ihr gelingt, ihre Sprachlosigkeit zu überwinden.

Die hier neben mir stehende Fotografin hat ebenfalls mit der Arbeit »Eine Reise durch Deutschland. Die Mordserie des NSU« eine Form gefunden, mit der sie ihre vielen Fragen stellen und dem Geschehen ein entscheidendes Stückchen näher kommen kann. Als ich sie im Vorfeld zu dieser Ausstellung zu der Arbeit befrage, bricht es noch einmal aus ihr raus: All die Ratlosigkeit, die sie verspürte, als sie mit dem Thema konfrontiert wurde. Sie verknüpft es ein wenig auch mit der eigenen Identitätsfrage: Warum macht das ausgerechnet mich so wütend? Denn was hat das alles mit mir zu tun? Die Biographien aus dem Osten, in spezifischen Verhältnissen der Nachwende in Thüringen aufwachsend, sind so weit weg von der eigenen. Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe waren Jugendliche, als die Mauer fiel. Paula Markert gerade mal sieben Jahre alt.

Plötzlich ploppen aviele Fragen in ihr auf: Was hat der NSU mit dem Osten, den sie nicht so genau kennt, zu tun? Was hat junge Menschen zu Mördern gemacht? Die DDR, die Nachwendezeit? Wie sah eine Jugend im Osten aus? Bereits 1990 fanden die drei in einer rechtsradikalen Gemeinschaft zusammen, aus der später der Thüringer Heimatschutz hervorging und in dem sich das Trio radikalisierte.

Paula erkennt, dass dies alles sehr weit zurückreicht und so diametral zu ihrer eigenen politischen Lebenswelt steht und trotzdem berührt sie das Thema so sehr. Sie fühlt einen Drang, dass sie darüber arbeiten muss, um die Vergangenheit und ein Stück der Geschichte ihres Landes, in dem sie aufgewachsen ist, besser zu verstehen.

Foto: Niklas Grapatin
Foto: Niklas Grapatin

Annette Ramelsberger, die Gerichtsreporterin der Süddeutschen Zeitung, die den Prozess intensiv und kundig über all die Jahre begleitet hat, hat in einem Interview gesagt: »Der Prozess ist eine Tiefenbohrung in die deutsche Gesellschaft. Der Blick in den Abgrund. So klar und so eindeutig, wie Sie ihn sonst nirgendwo kriegen. Sie kriegen ein Panoptikum der deutschen Nachwendezeit mit allen Verwerfungen und allen Fehlern.« Paula blickt genau in jene Bohrlöcher, sie will den fotografischen Blick in den Abgrund nehmen und sich mit dem umfangreichen Thema NSU beschäftigen.

Als sie als Besucherin am Prozess teilnimmt, reift in ihr eine Idee, wie sie vorgehen will. Dabei hat sie vor allem zwei Dinge, die ihr zum Vorteil gereichen: Neugierde und Durchhaltevermögen. Sie will Zusammenhänge durchdringen, liest sehr viel, hat intensiven E-Mail-Verkehr mit verschiedensten Protagonisten, der große Ordner füllt.

Ab 2014 ist sie unterwegs und dann immer wieder auf ihrer Reise durch Deutschland mit einer sehr speziellen Mission. Sie besucht Jugendorte, Urlaubsorte, Tatorte, biographische Stationen der Mörder, ihre Fotos erzählen indirekt von den Anfängen junger Menschen, die sich radikalisieren und sie erzählen direkt von einem Prozess, der sich lange zieht. Sie zeigen Staatsschützer, Anwälte, einen ehemaligen Sozialarbeiter – Akteure, die bestimmte Episoden verkörpern in einer langen, unübersichtlichen Geschichte, die mit dem Urteilsspruch am 10. Juli 2018 ein vorläufiges Ende erfährt.

Fotos: Niklas Grapatin

Viele haben während des langen Prozesses das Interesse verloren. Paula verliert nicht das Interesse, im Gegenteil, sie arbeitet sich rein und findet einen Weg, wie sie mit der Undurchdringbarkeit des Themas umgehen soll. Dazu wählt sie eine ruhige, zurückgenommene Fotografie. Alles Spektakuläre will sie aus dem Thema abziehen, den Opfern und deren Angehörigen Raum geben, der Toten gedenken. Den ruhigen fotografischen Szenen setzt sie Texte entgegen, die in verschiedener Weise aufwühlende Inhalte transportieren und gleichberechtigte Bestandteile der Foto-Arbeit sind. In der Summe ergibt sich ein differenziertes Bild des Geschehens. Sie führt den Betrachter an Orte, die fast aufreizend banal wirken, aber in dem Moment, wo man erfährt, dass sie in den Täterbiographien eine wichtige Rolle spielen, extreme Aufladung erleben. Provozierend nüchtern wirkt auch das Juristendeutsch der Schriftzeugnisse aus dem Prozess, sind die transkribierten Protokolle, die einen oft kopfschüttelnd zurücklassen.

Die Fotografin sagt: Ich habe diese Arbeit gemacht, weil ich besser verstehen will. Und ihre kleine Hoffnung ist, dass sie nicht nur Erklärungen für sich findet, sondern dass sie dem Betrachter eine Vision der Geschichte bietet, die ihm noch einmal die Tragweite dieser Ungeheuerlichkeiten vor Augen führt.

Denn bis heute bleiben viele Fragen offen, über fragwürdige Methoden der Staatsorgane, falschen Umgang mit Opfer-Angehörigen, Versagen und Unterschätzung aufseiten des Verfassungsschutzes sowie Versäumnisse der Politik. Ziemlich genau vor einem Jahr endete der NSU-Prozess. Jetzt ist Paula Markerts Arbeit erschienen und damit ganz sicher auch als Aufforderung an uns alle zu begreifen, die nach diesem Prozess unbeantworteten Fragen weiterhin aufzuarbeiten und den Kampf gegen rechtsradikal motivierte Gewalt – hier sei auch an den eiskalten Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke erinnert – konsequent fortzuführen.

Hier endet meine Rede. Beinahe. Spontan habe ich in diesem Moment entschieden, Ihnen die letzte Strophe des Klageliedes von Esther Dischereit vorzutragen, um Sie damit anschließend in die Ausstellung zu entlassen.

»Ich gehe zurück
zu meinem Laden
streiche vorüber an geschlossenen Jalousien
will dem toten Mann darin
ein Weißbrot geben
einen Tee
der Tee ist kalt und hat den Rand des Glases
schon verfärbt der Tee ist kalt und hat den Rand
des Glases schon verfärbt
am nächsten Morgen komme ich, sag ich,
am nächsten Morgen und geb dir wieder
ein Weißbrot und ein Glas voll heißen süßen
schwarzen Tees.«*

*Das von Peter Lindhorst zitierte Gedicht »Klagelied« stammt aus: Esther Dischereit, Blumen für Otello – Über die Verbrechen von Jena, Secession Verlag, Zürich 2014

Die Ausstellung »Eine Reise durch Deutschland. Die Mordserie des NSU« von Paula Markert ist noch bis zum 31. Oktober 2019 bei uns in der FREELENS Galerie zu sehen. Während der Laufzeit der Ausstellung ist auch das aus der Arbeit entstandene Buch bei uns erhältlich.