»State of Nature« in der FREELENS Galerie
Rede anlässlich der Eröffnung von Claudius Schulzes Ausstellung »State of Nature« am 8. Juni 2017 in der FREELENS Galerie. Von Oskar Piegsa
Festung Europa: Das ist ein Schlagwort, bei dem wir an Flüchtlinge denken und an die Grenzschützer von Frontex. An Schlauchboote vor Lampedusa. An Stacheldraht an der ungarischen Grenze. An den »Dschungel« von Calais im Norden Frankreichs. Wir denken bei »Festung Europa« eher nicht an Nordseestrände, nicht an St. Peter-Ording. Nicht an das Elbe-Urstromtal bei Dannenberg. Nicht an die von Zaha Hadid gestaltete Elbuferpromenade einige hundert Meter von hier. Nicht an die Alpenpanoramen des österreichischen Arlberg oder des schweizerischen Andermatts.
Nicht an die vielen Orte, die Claudius Schulze in den vergangenen fünf Jahren bereist und fotografiert hat. Mit einem Wagen mit hydraulischer Hebebühne, auf der er mit seiner Großformatkamera stand, während unten sein schwarzer Einohrkater wartete und leise maunzte. Die Fotos, die Claudius Schulze von seinen Reisen mitgebracht hat, sehen wir heute Abend hier in der FREELENS Galerie. Die Elbuferpromenade und St. Peter-Ording hängen als große Abzüge in der Wand, die anderen Orte sind in dem Buch »State of Nature« oder »Naturzustand« zu sehen, das heute hier ausliegt und auch gekauft werden kann.
Festung Europa, Europa rüstet sich ein, das ist ein empirischer Fakt. Aber dieser Fakt hat eben nicht nur mit Flüchtlingen zu tun, sondern auch mit einem Problem, das – man traut es sich fast nicht zu sagen – viel größer ist. Das viel langfristigere Folgen hat. Ich rede von dem globalen Wandel. Also von den Veränderungen unseres Planeten und seiner Systeme, zu denen die Erderwärmung gehört, aber zum Beispiel auch die Entwaldung, das Artensterben und die Zunahme der menschlichen Bevölkerung.
Ich bin Journalist. Das bedeutet, ich verstehe vom globalen Wandel nicht viel. Ich kann Ihnen und Euch zu den naturwissenschaftlichen Modellen und Berechnungen etwa des IPCC, des Weltklimarats der UN, nicht viel sagen. Ich bin kein Meteorologe, kein Physiker und kein Geograph. Aber als Journalist verstehe ich eine Sache über den globalen Wandel, und das ist, dass er sich verdammt schwer erzählen oder abbilden lässt.
Jedes in seinem Ausmaß auch nur annähernd vergleichbare historische Ereignis der letzten hundert Jahre – Kriege, zum Beispiele, oder auch die sogenannte Flüchtlingskrise – produzierte zuverlässig Texte, die uns nahegehen, und Fotos, die wir nicht mehr aus dem Kopf kriegen. Das Foto von den kleinen Jungen Aylan Kurdi, tot am Strand von Bodrum. Oder, hoffnungsvoller: Das Foto von Anas Modamani, der sich aus Syrien nach Deutschland retten konnte und jetzt ein Selfie mit Angela Merkel macht, der Flüchtling und die mächtigste Frau der Welt.
Solche ikonischen Einzelbilder gibt es vom globalen Wandel nicht. Kein Wunder: Wir sprechen von vielen, parallel stattfindenden Veränderungen komplexer globaler Systeme. Es gibt eine statistische Häufung von Extremwetterereignissen, aber nicht jede Flut und nicht jeder Sturm kann ursächlich auf die Erderwärmung zurückgeführt werden. Die großen Veränderungen bleiben unsichtbar. Aber das heißt nicht, dass sie nicht existieren.
Vor einigen Jahren wollte der britische Wissenschaftler Stephen Emmott die Engländer wachrütteln. Am Royal Court Theatre in London zeigte er die drastischsten Bilder, die er zum globalen Wandel zusammentragen konnte. Seine Performance hieß »10 Milliarden«, sie ist auch als Buch im Suhrkamp-Verlag erschienen und sie enthielt kaum Fotos. Die drastischsten Bilder des globalen Wandels sind Graphen, die alle exponentielles Wachstum zeigen. Zunahme der Weltbevölkerung. Artensterben. Kohlendioxidanteil in der Luft.
Als Laie sieht man diese Graphen und denkt: »krass«. Man muss ihre Entstehung und ihren Inhalt nicht bis ins letzte Detail verstehen, um von ihnen betroffen gemacht zu werden. Das ist eine Wirkung, die diese Graphen mit der Kriegs- und Krisenfotografie teilen. Aber das Problem mit wissenschaftlichen Daten und ihrer Interpretation ist, dass sie immer anfechtbar sind, das ist Teil des wissenschaftlichen Spiels, und natürlich wurden auch Stephen Emmott sofort Schlampigkeiten und Fehlanalysen vorgeworfen und damit Misstrauen genährt. Bzw. man müsste sich jetzt die Daten im Einzelnen anschauen und bevor man das tut, gibt man doch lieber den Kritikern recht und denkt: OK, vielleicht doch nicht so krass.
Der globale Wandel ist ein scheißundankbares Thema. Denn wir Menschen sind nicht so rational, wie wir uns das gerne einreden. Ein Thema hat es schwer, uns zu erreichen, wenn wir nicht emotional angesprochen und visuell getriggert werden.
Unsere Situation in Bezug auf den globalen Wandel kann man vergleichen mit dem Frosch im Kochtopf. Wir sind wie der Frosch im Wasser, das langsam wärmer wird. Und anders als der Frosch haben wir sogar eine ungefähre Vorstellung davon, dass das Wasser wärmer wird. Doch wir springen trotzdem nicht aus dem Kochtopf. Ich glaube, dass das nicht zuletzt mit Bildern zu tun hat, mit Bildern die fehlen: Wir gehen sehenden Auges in die Katastrophe, weil wir die Katastrophe nicht sehen können.
Damit zurück zu den Fotos von Claudius Schulze. Das Schlüsselbild zum globalen Wandel hat Claudius nicht fotografiert. Wenn es ein Foto gibt, dass man @realDonaldTrump twittern könnte, um ihn von der Notwendigkeit des Pariser Abkommens zu überzeugen, dann hängt es heute nicht in der FREELENS Galerie. Schade.
Aber in der Serie, in der Häufung der Motive leisten die Fotos von Claudius etwas, das hier in der Hängung schon gut rauskommt und noch besser in seinem Buch zu sehen ist: Seine Fotos zeigen, wie sehr der globale Wandel heute schon Realität ist. Auch wenn seine Folgen noch nicht alle im einzelnen sichtbar sind, auch wenn viele seiner Prozesse und Abläufe noch lange unsichtbar bleiben werden, so wird in den Fotos von Claudius doch sichtbar, was vom globalen Wandel zu erwarten ist. Nämlich Sturmfluten, sintflutartige Regenfälle und Überschwemmungen, abrutschende Küsten, Berggipfel, die in Bewegung geraten, Schlamm- und Gerölllawinen, Stürme und dergleichen mehr.
In den Fotos von Claudius Schulze zeigt sich, dass die Erwartung der Klima-Apokalypse heute schon ein prägender Faktor der europäischen Landschaft ist. In seinen Fotos ist keine Küste ohne Mole und Sperrwerke, kein Fluss, der nicht großzügig eingedeicht ist, kein Bergpanorama ohne Lawinen- und Murenverbauungen. Die meisten dieser Schutzbauwerke wurden schon gebaut, bevor die Vereinten Nationen den Weltklimarat einsetzten, das war Ende der achtziger Jahre. Aber mit der Zunahme der Extremwetterereignisse und mit der Erwartung steigendender Meeresspiegel wurden viele von ihnen nachgebessert und hochgerüstet.
Das naheliegende Beispiel ist die Elbpromenade von Zaha Hadid, die mit ihrem eigentlichen Zweck recht diskret umgeht. Kaum ein Tourist, der von den Landungsbrücken in Richtung Elbphilharmonie schlendert, wird auf die Idee kommen, dass er sich gerade auf einem Katastrophenschutzbauwerk bewegt. Die Fotos von Claudius Schulze lenken unseren Blick auf diese Schutzbauwerke und sensibilisieren uns für ihre Allgegenwärtigkeit.
Und zwar ohne, dass diese Fotos sonderlich didaktisch wären. Claudius macht keinen Agitprop für den Weltklimarat. In der Rhetorik des globalen Wandels geht es in der Regel um Zahlen, Daten und Modelle, in der Konsequenz um Exponiertheit, um Risiko, um Konsumverzicht. Das ist also eine eher humorlose Sache.
Ziemlich viele Fotos von Claudius finde ich hingegen ziemlich lustig. Am Strand von Folkstone hat jemand »I Love You Daddy« in den Sand geritzt, in so gigantisch großen Lettern, dass man es auch aus vielen Metern Entfernung noch lesen kann. In Wissant hat sich eine junge Mutter, die am Strand von der Flut überrascht wurde, ihren zwei- oder dreijährigen Sohn unter den Arm geklemmt, um ihn schneller ins Trockene zu bringen. Wir sehen die beiden von hinten, die pragmatisch zupackende Mutter und den kleinen Jungen, dessen nackte Füße in der Luft baumeln. Und in Duisburg am Kanal kackt ein Hund, der von einem Rentner geführt wird, der komplett beige ist: Beige Kleider, beige Haare, beige Haut.
Oft scheint Claudius für diese Menschen unsichtbar zu sein, wie er da auf seiner Hebebühne steht, mit verwildertem Bart und dieser seltsamen schwarzen Kiste, die sein Fotoapparat ist. Aber manchmal wird er auch entdeckt, dann gibt es Szenen wie man sie von Google Street View kennt, wenn Passanten das Google-Auto entdecken. In einem Foto von Claudius sieht man ein Kind mit offenem Mund, das starrt, als hätte es ein Ufo gesehen, als würde es gleich losheulen. In einem anderen Foto schaut ein Familienvater sehr skeptisch, während seine Tochter unbeschwert in Richtung des Betrachters rennt.
Das kann man in diesen Fotos entdecken und noch viel mehr: Wanderer und Radrennfahrer und Campingwagen und Polizeiwagen und Hubschrauber und Kühe und Schafe und Möwen und Schlauchboote und Hüpfburgen und Achterbahnen und ferngesteuerte Drohnen. Die Fotos sind wie Wimmelbilder aus Kinderbüchern. Nichts gegen Ali Migutsch, aber ich finde, er kommt nicht an gegen Claudius Schulze.
Man kann in diesen Fotos auch Spuren des fotografischen Kanons finden: Bei den Strandfotos musste ich an Martin Parr denken, auch wenn Claudius Fotos eine ganz andere Ästhetik haben. Auf Andreas Gursky kann man auch kommen, weil Claudius die Rheintalbrücke fotografiert hat, aber ebenfalls in ganz anderer Ästhetik.
Am besten zu unserem Treffen heute Abend passt aber das Foto aus Blackpool. Wir sehen da einen Typen in Cargoshorts und Muscleshirt, an der Hand eine dicke Plastikarmbanduhr und eine Frau in Hotpants und mit viel zu großer Sonnenbrille. Wenn Sie regelmäßige Besucher der FREELENS Galerie sind, dann geht es Ihnen vielleicht wie mir. Ich habe mich gefragt, ob ich den Typen oder seine Frau nicht schon mal gesehen hat. In genau diesen Räumlichkeiten. Auf einem Foto, das ebenfalls in Blackpool entstanden ist, das aufgenommen wurde von Dougie Wallace, dem Fotografen von »Stags, Hens and Bunnies«.
Der Punkt ist: Es stecken Welten in den Fotos von Claudius Schulze. Man kann, wenn man den Blick etwas schweifen lässt, in diesen Bildern viel entdecken, lieb gewinnen, seltsam finden, und sich köstlich amüsieren. Bis man wieder die Schutzbauten sieht und merkt, das all das gefährdet ist und auch irgendwann vorbei sein kann. Noch ist die Stimmung sehr gut, in der Festung Europa.