24. September 2015
FREELENS Galerie

Rasende Tractor Boys in ihren tollkühnen Kisten

24. September - 24. September 2015

Rede anlässlich der Eröffnung von Martin Bogrens »Tractor Boys« in der FREELENS Galerie.
Von Peter Lindhorst

Ab und zu bin ich selbst in Martin Bogrens Heimatland Schweden unterwegs. Dann kann es passieren, dass ich eine größere Straße entlang fahre und plötzlich unvermutet abbremsen muss, weil vor mir im langsamen Tempo ein Volvo, umgebaut zu einem Pickup, dahinschleicht. Statt eines KFZ-Zeichens ist ein rot-gelbes Dreiecksschild am Heck angebracht. Das Auto ist langsam, ich überhole es schwungvoll, mustere den Fahrer und erschrecke mich regelrecht, weil dieser noch so blutjung ist.

Später fahre ich vielleicht einen einsamen Feldweg entlang. Plötzlich taucht ein Auto desselben Typs in viel zu schnellem Tempo hinter mir auf, im Inneren voll mit Jugendlichen besetzt. Der Wagen überholt mich riskant, schlingert gefährlich in der vor uns liegenden Kurve, um im letzten Moment wieder in die Spur zu finden, zu beschleunigen und dann abzuziehen – nicht ohne riesige Staubwolken auf der unbefestigten Straße zu hinterlassen. Tractor Boys on Tour!

Martin Bogren erzählt Persönliches zur Entstehungsgeschichte von »Tractor Boys«.
Martin Bogren erzählt Persönliches zur Entstehungsgeschichte von »Tractor Boys«. Foto: Jann Wilken

Fahrzeuge, die dem landwirtschaftlichen Nutzen dienen, dürfen in Schweden laut einem alten Gesetz auch schon von 15-Jährigen gefahren werden. Einst gab die schwedische Regierung den Bauern die Möglichkeit, sich Zugmaschinen auf Basis von Serienfahrzeugen selbst zu bauen, wenn sie bestimmte Anforderungen einhielten, die sogenannten A-Traktoren. Auch wenn sich der Name gehalten hat, nach Arbeitsmaschinen sehen die Gefährte heute keineswegs aus. In ländlichen Gebieten, gerade in Skåne oder Småland in Südschweden, sind die sondergenehmigten Autos populär bei den Heranwachsenden. Für einen 15-Jährigen eine viel bessere Fortbewegungsalternative mit entsprechendem Coolness-Faktor als Fahrrad oder Moped. Offiziell ist das Tempo auf 30 km/h gedrosselt, aber natürlich besitzen die Jugendlichen unendliche Kreativität, ihre Autos entsprechend zu frisieren und viel höhere Geschwindigkeiten damit zu erzielen.

Gute Stimmung unter den Gästen.
Gute Stimmung unter den Gästen. Foto: Jann Wilken

Unter der Woche, aber meist am Wochenende, dann wenn die Dämmerung einsetzt und die vor einem liegende Nacht ein unendliches Versprechen darstellt, gehen sie auf Tour – die von Martin Bogren begleiteten Tractor Boys. Sie treffen sich an geheimen Orten, Zäune werden überklettert, brachliegende Flächen erkundet. Einige fahren mit ihren Autos auf die ausgekundschafteten Parkplätze vor. Ein unkontrolliertes Paradies, weit genug weg, um irgendwelche unwillkommene Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Hier entsteht für die jugendlichen Akteure ein Moment der Freiheit, der Nicht-Kontrolle, ein Moment, der Langeweile des täglichen Einerleis etwas entgegenzusetzen. Hier kann man sein Ventil öffnen, um seine jugendliche Grundwut auf die Welt rauszulassen.

freelens-Galerie: Ausstellungseröffnung Martin Bogrem -Tractor Boys- am 24.9.2015
Foto: Jann Wilken

Musik dröhnt aus den eingebauten Musikboxen. Vielleicht hört man den Song »Favorite Game« der schwedischen Band The Cardigans: »I don’t know what you’re looking for. You haven’t found it baby, that’s for sure.« Man raucht, ein paar Bierdosen werden herumgereicht, aber das »Favorite Game« besteht darin, waghalsige Kunststücke auszuprobieren, in dem man sich weit aus den Fenstern des fahrenden Autos lehnt, vorne auf die Motorhaube klammert oder Wettrennen fährt. Die größte Herausforderung sind die Burnouts. Wer am besten das Spiel mit Vollgas und gleichzeitigem Bremsen beherrscht, kann über den Asphalt tanzen und sich dort verewigen. Gummireifen drehen im Stand auf dem Boden durch und erzeugen dichte Rauchwolken, die nach und nach das ganze Auto einhüllen. Der Abrieb des Gummis lässt faszinierende Kalligraphien auf dem Asphalt zurück.

Martin Bogren im Gespräch.
Martin Bogren im Gespräch. Foto: Jann Wilken

Martin Bogren ist ein Fotograf, der selbst in Südschweden groß geworden ist und das ländliche Milieu dort genau kennt. Seine Premiere hatte der Fotograf mit seiner fotografischen Dokumentation – und deshalb fand sie hier auch gerade Erwähnung – über die schwedische Band The Cardigans. Zu seiner unverkennbaren fotografischen Sprache hat er spätestens mit der Arbeit »Lowlands« gefunden. Eine dunkle, intensive Serie über sein Heimatdorf, in das er als Erwachsener zurückkehrt, um sich auf eine Art eigene Spurensuche zu begeben. Auch dort hat er schon eine erste Begegnung mit jener Szene, für die ein Burnout das Größte ist.

Ich weiß nicht, welcher Überredungskunst es bedarf, als Fremder, als Fotograf, als Erwachsener, in diesen geschlossenen Coming-of-Age-Kosmos einzudringen und an dem unschuldigen, nicht immer ganz legalen Vergnügen der Heranwachsenden teilzuhaben. Irgendwie scheint der Fotograf ihre Sprache zu sprechen und so darf er schließlich den Ritualen, die den Jugendlichen heilig und geheim sind, beiwohnen. Das Vertrauen zahlt er mit angemessener Währung zurück: Zurückhaltung, Distanzwahrung, nichts Anbiederndes ist in seiner Fotografie zu spüren. Und er findet mit seiner grobkörnigen Schwarzweiß-Fotografie eine ästhetische Entsprechung, um die vorgefundene Atmosphäre angemessen in Bilder zu fassen.

Die Ausstellung »Tractor Boys« hängt bis zum 12. November 2015 in der FREELENS Galerie.
Die Ausstellung »Tractor Boys« hängt bis zum 12. November 2015 in der FREELENS Galerie. Foto: Jann Wilken

Es gelingt ihm so, einen ganz bestimmten Ausschnitt dieser Halbwüchsigen-Welt in einen dichten Bilderbogen zu übersetzen, ohne dass wir immer wissen müssen, was da ganz genau vor sich geht. Eine spätpubertäre Welt, die uns geheimnisvoll vorkommt und gleichzeitig eine tief verschüttete Erinnerung in uns als Betrachter selbst freisetzt – die Erinnerung an einen Moment in unserem eigenen Leben, in dem wirklich alles möglich schien.

Martin Bogren bewegt sich in diesem Biotop der Heranwachsenden, der von einem Gefühl des Überschwangs, des Aufbruchs und des sorglosen Exzesses geprägt ist. Coole Gesten, Imponiergehabe, Blicke des Einverständnisses zwischen den Jugendlichen. Man probiert sich aus, die Motoren heulen auf, die Anerkennung der eigenen Clique ist einem sicher, je kühner man seine Choreographien mit dem Auto umsetzt. Damit scheint einem gleichzeitig die Aufmerksamkeit des anderen Geschlechts sicher zu sein. Und so geht es in dieser Arbeit auch um die Entdeckung des Begehrens. Intensive Blicke werden ausgetauscht, später folgen ebenso leidenschaftliche Küsse. Durch die Rauchwolken hindurch erhalten wir einen tieferen Einblick in die Gefühlswelt der Jugendlichen, denn es sind nicht die oberflächlichen, hinreichend bekannten Klischeebilder pubertierender Jugendlicher. Bogren hält die Gesten und ernsten Gesichtsausdrücke fest, die die Jugendlichen in ihrem Repertoire haben. Wie jemand lässig den Arm aus dem Fenster hängen lässt, ein anderer seine Zigarette hält, verrät uns so viel über die Lebenswelt der jungen Menschen.

freelens-Galerie: Ausstellungseröffnung Martin Bogrem -Tractor Boys- am 24.9.2015
Foto: Jann Wilken

Aber jede noch so lange Nacht und der damit verbundene Exzess fordert auch Erholung und am Ende legen die Jugendlichen ihren Swag ab und dämmern in unschuldiger Pose in ihren parkenden Autos weg. Nur der Fotograf bleibt bis zum Ende aufmerksam. Die Motoren heulen auf, bevor die Tractor Boys irgendwann über einsame Waldwege davon rollen. Am Horizont künden die ersten Sonnenstrahlen schon von einem neuen Tag und einer fernen Zukunft des Erwachsenseins. Heute ist die Party vorbei, bald könnte sie in dieser Form für immer zu Ende sein. Bogrens Fotografie ist eine Hymne an die Jugend, auch wenn gleichzeitig ein Wissen um deren Ende und ein wenig Wehmut darin mitschwingt. Gibt es bei den Akteuren eine Ahnung dieser Endlichkeit, ist ihnen diese zu diesem Zeitpunkt aber völlig egal. Lieber lässt man noch einmal richtig die Reifen durchdrehen…