19. November 2015
FREELENS Galerie

»Diese Fotografien leben von ihrer formalen Qualität«

19. November - 19. November 2015

Rede anlässlich der Eröffnung von Siegfried Hansens Ausstellung »Hold the Line« am 19. November 2015 in der FREELENS Galerie. Von Ulrich Rüter

In Hamburg ist der Fotograf sicherlich kein ganz Unbekannter mehr, aber auch international gehört er längst zu den anerkannten Vertretern einer modernen Street Photography. Er ist gut vernetzt, Mitglied in wichtigen Foto-Communities der Street Photography. Und spätestens nach dem Erscheinen seines Buches ist er nun wirklich kein Geheimtipp mehr. Wie schön, dass er hier in der FREELENS Galerie diesen fast retrospektiven Auftritt erhält.

Vermutlich kennen viele von Ihnen einige Arbeiten des Fotografen oder Sie haben sich schon heute Abend einen ersten Eindruck verschafft. Auch für diejenigen, die mit seinem Werk vertraut sind, ist es immer wieder verblüffend, sich mit den Bildern auseinanderzusetzen, sei es nun gedruckt im Buch oder wie hier gerahmt an der Galeriewand. In der Abfolge und Zusammenstellung entfalten sie noch einmal eine ganz andere Kraft, werden Bezüge auch zwischen den einzelnen Motiven hervorgehoben.

Ulrich Rüter mit Siegfried Hansen und Peter Lindhorst. Foto: Evgeny Makarov
Ulrich Rüter mit Siegfried Hansen und Peter Lindhorst. Foto: Evgeny Makarov

Seit über einem Jahrzehnt hat sich Siegfried Hansen seinen unverwechselbaren Stil erarbeitet. Was ist also ein »typischer Hansen«? Welche Bildsprache nutzt der Fotograf im Bereich der Straßenfotografie? Und: Was ist eigentlich »Street Photography«? Eine Frage, die an dieser Stelle durchaus berechtigt ist.

Wie alle hervorragenden Straßenfotografen hat auch Hansen das perfekte Gespür für das Detail. Doch wir sehen hier keine spontanen Schnappschüsse, keine vom Fotografen abgeschossenen Zeitgenossen, wie sie beispielsweise für das Werk von Bruce Gilden, Garry Winnogrand oder Robert Frank so typisch sind. Auch von der Art der Street Photography, die Robert Doisneau oder Henri Cartier-Bresson zur Perfektion gebracht haben, sind die Aufnahmen von Hansen weit entfernt. Analog zu dem berühmten »moment décisif« des zuletzt genannten Cartier-Bresson kann man bei Hansen sehr gut von dem »moment graphique« sprechen, den er in seinem Werk in den Mittelpunkt gerückt hat.

Für ihn ist der entscheidende Moment immer dann erreicht, wenn er aus dem überbordenden Gewirr des urbanen Raumes einige grafische Hauptakzente zu einem neuen Bild herauspräparieren kann. Diese Fotografien leben von ihrer formalen Qualität. Wir sehen die Stadt mit seinem Blick neu und ungewohnt. Auch bekannte Orte sind kaum wiederzuerkennen und selbst der geübte Flaneur, der regelmäßig durch Hamburg, London oder andere von Hansen besuchte Metropolen wandert, muss sich schon sehr anstrengen, Bekanntes zu entdecken.

Auf die Darstellung von Menschen verzichtet Hansen weitgehend, und wenn sie auftauchen, dann sind sie auch nur Teile einer grafischen Komposition, keinesfalls aber Träger einer individuellen Geschichte oder identifizierbare Zeitgenossen. Aber es sind trotzdem sehr menschliche Bilder, zeigen sie doch den städtischen Alltag, Situationen, Strukturen, Architekturen, Begrenzungen und Linien, in denen wir uns alle im urbanen Umfeld bewegen. Siegfried Hansen strukturiert die Welt, in der wir leben neu und ungewöhnlich. Er bekennt: »Die Komplexität des Lebens auf der Straße zu sehen, ist für mich eine Art Meditation.«

Seine Arbeitsweise hat er sehr präzise in einem Interview mit Peter Lindhorst beschrieben, die ich hier gerne zitiere: »Ich gehe raus, scanne das Geschehen und versuche, einen ganz bestimmten Ausschnitt zu isolieren, der mein Interesse weckt. Ich habe ein gutes Gespür dafür, wie Linien zusammenlaufen, grafische Flächen zueinander stehen und wie ein Bild aufgebaut sein muss, um zu funktionieren. Ich kann über das Formale hinaus auch das Skurrile in ganz alltäglichen Dingen erkennen – dabei suche ich das kompositorisch anspruchsvolle Foto.«

Siegfried Hansen beim Signieren seines Buches.
Siegfried Hansen beim Signieren seines Buches. Foto: Evgeny Makarov

So einfach ist das also. Doch ganz sicher: dieses Vorgehen braucht jahrelanges Training. Vermutlich würden wir alle achtlos an den Motiven vorbeischlendern, die der Fotograf als besonders beachtenswert wahrnehmen kann. Wer Hansen bei seiner Arbeit beobachtet, wird bemerken, wie automatisiert er die Welt in Linien, Flächen, Formen wahrnimmt, analysiert, strukturiert und nicht lange ein Bild einrichten muss. Die Kamera muss nicht einmal vors Auge geführt werden. Der Blick aufs Display reicht vollkommen aus, um scheinbar ganz beiläufig wieder das perfekte Bild aus dem urbanen Umraum herauszupräparieren und es später in der digitalen Nachbearbeitung noch einmal zu verdichten.

Aus der Erfahrung und dem immer wieder neu geschulten Blick ist die Fähigkeit einer speziellen Sicht auf die Dinge erwachsen. Er schafft es, Vorder- und Hintergründe in einem Bild zusammenzubringen, bei ihm werden Farben, Flächen, Konturen zu bestimmenden Komponenten, die im Zusammenspiel neue Bilder entstehen lassen, oft überraschende Sinnzusammenhänge stiften.

Erlauben Sie mir noch einen Vergleich aus dem kunsthistorischen Bereich: Denn es kann einem beim Betrachten der Kompositionen Hansens auch der Titel der berühmten Studie »Punkt und Linie zur Fläche« von Wassily Kandinsky in den Sinn kommen. Dieser russische Maler, der auch am Bauhaus lehrte, gilt als einer der Begründer der abstrakten Malerei. Er untersuchte bestimmte Kompositionstechniken und die Verwendung entsprechender Stilmittel – vor allem Farben, Linien und Flächen – um seine »freie Formensprache« zu erläutern.

Er betonte die Loslösung vom Gegenständlichen. Kandinsky legte großen Wert auf die rationelle Struktur seiner Kompositionen und verlangte von seinem Publikum die Bildanalyse als Strukturanalyse, auch um damit den Kunstcharakter seiner abstrakten Bilder zu verdeutlichen.

Bei Kandinsky bedeutet der Schritt zum Abstrakten den Verzicht auf die dritte Dimension: vom Raum zur Fläche, die erst durch Linien und Farben wieder dreidimensional wird. Die Fläche wird bestimmt von Grundelementen wie Quadrat, Dreieck, Kreis, der Raum von Grundelementen wie Kugel, Kubus, Pyramide. Ihre Anordnung, gemeinsam mit Linien und Kurven, bewirkt Spannungen, Kontraste, Widersprüche, Bewegung und – besonders wichtig – erst die Komposition oder Struktur des Werks ist Bedeutung generierend.

Und so wie die abstrakte Malerei Kandinskys auf die Überwindung des Gegenständlich-Konkreten abzielte, lassen sich auch bei den Arbeiten von Hansen diese Prinzipien erkennen. Kandinskys Wunsch nach »autonomer Kunst«, aufgefasst als »absolute Kunst«, findet ihren Widerhall auch in vielen Fotografien, die wir heute Abend hier sehen.

Sprechen wir doch daher einfach von »absoluter Fotografie«, die einen Transfer leistet, Überlegungen und Gestaltungsweisen auf die Fotografie zu übertragen. Damit hätten wir dann auch eine Kategorie, die die hier präsentierten Arbeiten ein Stück weit von der langläufigen, als Street Photography verstandenen Fotografie abrücken.

Großer Andrang am vergangenen Donnerstag in der FREELENS Galerie. Foto: Evgeny Makarov
Großer Andrang am vergangenen Donnerstag in der FREELENS Galerie. Foto: Evgeny Makarov

Eine völlig abstrakte Fotografie wird es kaum geben, hat sie doch noch immer die Anbindung an die fotografierten Gegenstände und Örtlichkeiten. Aber die bewusste Neuinterpretation, das Loslösen vom Bekannten machen die Fotografien von Hansen so spannungsreich und faszinierend.

Siegfried Hansen, 1961 in Meldorf geboren, hat seine Leidenschaft für die Street Photography erst relativ spät entdeckt. Die entscheidende Initialzündung erhielt er, wie er sagt, durch den Besuch einer André Kertész-Ausstellung. 
Seit 2002 hat er ein einzigartiges Werk zusammengetragen. Nicht zuletzt durch die heute vereinfachten Distributionswege des Internets sorgt er international für Aufmerksamkeit und hat eine weltweit verstreute Fan-Gemeinde. Als einziger Deutscher ist er Mitglied der renommierten Straßenfotografen-Gruppe »In-Public«.

Eine besondere Auszeichnung war es für ihn, in die Anthologie »Street Photography Now« aufgenommen zu werden. In diesem Bildband, 2011 publiziert, herausgegeben von Sophie Howarth und Stephen McLaren, reihen sich seine Bilder ein neben die Aufnahmen von 45 anderen – zum Teil sehr renommierten – Fotografen, wie Bruce Gilden, Trent Parke, Martin Parr, Lars Tunbjörk oder Michael Wolf (um nur einige zu nennen).

Dass sein im April erschienener erster Bildband bereits vergriffen ist, spricht für sich. Aber einige wenige Restexemplare gibt es noch – nutzen Sie also heute die Chance, noch eines dieser raren Exemplare zu ergattern.

Ich komme zum Schluss, indem ich versuche, die eben gestellte Frage nach dem »typisch Hansen-artigen« zu beantworten: Siegfried Hansen schafft es, den Betrachter immer wieder zu überraschen, sei es durch seine Fähigkeit poetische Stillleben zu inszenieren, oder sei es absurde, witzige oder surreale Momente dem Alltag abzutrotzen, oder gar feinsinnige Abstraktionen zu komponieren.

Immer wieder gelingt es ihm, selbst dem scheinbar noch so geordneten Stadtbild einen zarten Moment der Verzauberung zu entlocken, eine ganz eigene Art der Balance und Ausgeglichenheit aus der Umwelt zu extrahieren. Hansen beherrscht die Kunst, einen flüchtigen Moment der dynamischen Realität durch genaues Erkennen, Intuition (gepaart mit Erfahrung), Abstraktionsvermögen, räumlicher Übersicht und präzisem Timing als bleibendes Bild festzuhalten. Er zeigt Dinge, die dem gewöhnlichen Passanten komplett verborgen bleiben.

Die Bilder Hansens verdeutlichen umso mehr, was die Fotografie immer wieder leistet: sie wählt aus, interpretiert, verdichtet, seziert einzelne Aspekte der Realität und bringt das Ergebnis auf eine zweidimensionale Fläche. Radikal subjektiv, faszinierend real: Vorgestellt wird hier einzig die Sicht des Fotografen. Dass es sich hierbei um eine sehr spezielle und perfekte Sichtweise handelt, können Sie nun ganz sicher selbst in jeder der hier präsentierten Arbeit entdecken.

Viel Spaß dabei. 
Für Ihre Geduld und Aufmerksamkeit bedanke ich mich. 
Es bleibt ein letzter Satz zu sagen: die Ausstellung ist eröffnet!