Ausstellungseröffnung
Anders Petersen

»Café Lehmitz« in der FREELENS Galerie

Rede anlässlich der Eröffnung von Anders Petersens Ausstellung »Café Lehmitz« am 8. Februar 2018 in der FREELENS Galerie. Von Peter Lindhorst

Vom Bier ist mir ein bisschen schlecht. Der Freitagabend ist fortgeschritten, mit ein paar Freunden bin ich in dieser Kneipe gelandet. Draußen auf der Straße herrscht reges Treiben, touristische Gruppen ziehen vorbei, Jugendliche schmettern Flaschen auf den Bürgersteig und machen sich lustig über einen jungen Mann, der zu viel getrunken hat und auf der Motorhaube eines geparkten Autos ausgestreckt liegt. Überall schlägt mir die unbedingte Bereitschaft zum Amüsement entgegen. Die Mühsal der Arbeitswoche scheint sich in viel Alkohol aufzulösen.

Die Leute in der Kneipe hier kennen sich – oder ist es das Hochprozentige, das sie hemmungslos im Umgang miteinander macht? Schräg vor mir an der Theke sitzt ein Mann, der in der Zeit, in der ich ein Bier trinke, mehrere Schnäpse kippt und vor sich herstarrt. Zwei Freundinnen, gekleidet wie Zwillinge, bewegen sich schüchtern zu der Musik, die ein ernst dreinblickender DJ auflegt. Dieser dreht die Scheiben mit der immergleichen Bewegung zwischen seinen Handflächen, bevor sie auf dem Plattenteller landen. Neben dem Plattenpult steht ein junger Anzugträger, der einer stark geschminkten Blondine und ihrer Freundin Avancen macht.

Foto: Maria Feck

Ein Teil der Wand hinter der Theke ist mit lustigen Sinnsprüchen tapeziert. Mir fällt plötzlich die Kneipe unserer Kleinstadt ein, in die mein Vater mich einmal als Jungen mitnahm und dort gab es auch ein Schild: »Im Himmel gibt’s kein Bier, drum trinken wir es hier.« Ich weiß nicht, ob ich’s lustig fand, wahrscheinlich verstand ich es gar nicht richtig, genauso wenig wie ich eine Kneipe damals verstand.

Hier und heute ist mir die Kneipe als Ort vertrauter. Wieder wende ich den Blick dem Mann am Tresen zu, der einen neuen Schnaps bestellt, der Anzugträger macht Selfies von sich und seinen neuen Bekanntschaften. Der DJ legt weiterhin mit einer ins Gesicht eingeschriebenen Ernsthaftigkeit Platten auf, nie vergisst er, die Scheiben mehrmals herumzuwirbeln, als wolle er die Musik noch einmal richtig durchschütteln vor dem Abspielen. Apropos schütteln – Die beiden jungen Frauen rufen ihren Platz in der Menge zur Tanzzone aus und schütteln ihre Oberkörper in synchronen Bewegungen zur Musik.

Der Laden wird voll und voller, ein Freund stellt mir ein weiteres Bier auf den Tisch, ein Mann betritt den Laden und mir fällt auf, dass er eine Kamera um den Hals baumeln hat und von denen, die hier Stammgäste sind, mit lautem Hallo gegrüßt wird.

Foto: Maria Feck

Ich wende mich meinen Freunden zu, der Lärmpegel ist hoch, die Luft ist zum Schneiden, die Kneipe füllt sich immer weiter. Ich bewundere, wie der Barkeeper scheinbar unangestrengt die vielen Bestellungen ausführt, bemerke, wie sich der Alkohol in einer großen Glocke über die Gäste breitet, erst nickt man sich vornehm zu, um dann enthemmt miteinander ins Gespräch zu kommen. An der Garderobe gibt es eine Rangelei. Der Anzugträger flirtet immer ungenierter mit der Blondine, während die Freundin sich unwohl an ihrem Glas festkrallt. Der Mann auf dem Hocker hat seinen Kopf auf den Tresen gelegt. Die Zwillingsfreundinnen fordern die Herumstehenden zum Mittanzen auf.

Irgendwann, es ist schon spät, spaltet sich die Menge. Die Vernünftigen trennen sich von den Exzessiven, wer jetzt nicht geht, droht fürchterlich zu versacken. Ich werde zu den Vernünftigen gehören, und während ich mich von den Freunden verabschiede und aus der Kneipe trete, sehe ich noch, wie etwas abseits der Mann mit der Kamera steht und auf den Auslöser drückt.

Das Café Lehmitz war eine Stehbierkneipe, die in den späten sechziger Jahren einem jungen Fotografen namens Anders Petersen als Ort eines fotografischen Initiationsprozesses diente, der hier sein erstes großes Fotoprojekt machte, der sich magnetisch angezogen fühlte von denjenigen, die aus dem gesellschaftlichen Gefüge gerutscht waren und von denen einige im Rotlichtviertel arbeiteten. Die 1978 erstmals als Buch veröffentlichte Serie hat den schwedischen Fotografen schlagartig bekannt gemacht, hat nie an Kraft verloren und ruft immer noch allerorten Bewunderung hervor. Auch ich bin ein Bewunderer des Fotografen oder – das trifft es wohl eher – ein glühender Fan. Und so möchte ich also einen Fangesang anstimmen, der aus mehreren Begegnungen mit Petersens Arbeit resultiert.

Foto: Maria Feck
Foto: Maria Feck

Erste Begegnung: Es gab eine Zeit, als Fotografie mir noch nichts bedeutete und ich in Besitz des Buches »Café Lehmitz« gelangte. Das allerdings war damals für mich ein Buch voller Erzählungen, kein Fotobuch, eher ein Buch mit sieben Siegeln. Eine dunkle, verwirrende Kneipenwelt, in der Menschen miteinander reden, lachen und streiten, sich wieder vertragen und umarmen und als Besiegelung ihrer erneuerten Freundschaft die Flaschen aneinanderstoßen. Das Buch erzählte von verlorenen Seelen, von jenen, mit denen es das Leben nicht gut gemeint hat, von denen, die sich im Ungemach der (spieß-)bürgerlichen Welt schlecht zurechtfanden und an einem Ort aufschlugen, in einer Fluchtburg landeten, die ihnen Alkohol und Wärme, vielleicht auch das Gefühl von Ruhe und Solidarität bot. Als Leser konnte ich nicht aufhören, das Geschehen, das sich allein in den vier Wänden der Kneipe abspielte, immer wieder neugierig zu studieren, das Personal wurde mir bestens vertraut, die Zigeuner-Uschi oder Karin Jägermeister, ich habe mir deren Geschichten ausgemalt, und zugegebenermaßen hab ich den Abgrund bestimmt manches Mal zu sehr romantisiert. Ein wichtiges Buch wurde das Cafe Lehmitz, ein kostbarer Schatz in meinem Bücherregal.

Zweite Begegnung: 1985 stehe ich in einem Plattenladen und höre plötzlich eine Reibeisen-Stimme, die mich elektrisiert. Ich frage den Mann an der Kasse – Rain Dogs sei das, von Tom Waits, gibt er mir bereitwillig als Auskunft. Ich mag diese raue Stimme, den Rhythmus, aber als der Mann mir das Cover rüber reicht, werde ich von einem warmen Gefühl erfasst. Das ist eine mir vertraute Szene aus dem Lehmitz-Band, es ist, als träfe ich plötzlich alte Bekannte wieder. Rose kuschelt sich an seine Lily. Tom Waits hat das Cover ausgewählt, weil er meinte, selbst eine gewisse Ähnlichkeit mit eben jenem Rose auf dem Foto zu haben – »der sieht aus wie ich in den Armen von Elizabeth Taylor nach unserer Entlassung aus der Betty Ford-Klinik«. Lange hängt das Cover als Bild an meiner Wand.

Foto: Maria Feck

Dritte Begegnung: 1998 fällt mir in einen kleinen Buchladen in Stockholm plötzlich ein Band in die Hände, der Arbeiten von Anders Petersen aus dreißig Jahren zusammenfasst und in dem sich ein ganz eigener Kosmos eröffnet, jenseits des Sozialbiotops der Kneipe. Seine Themen sind scheinbar unbequem und dabei dennoch in poetische Bilder geführt, er will diejenigen zurück ins Licht führen, die sich unbemerkt an den Rändern bewegen, vielleicht Außenseiter – aber Anders Petersen, und das kann man sofort aus den Fotos und den beigefügten Zitaten lesen, betrachtet diese niemals als Außenseiter. Es ist eine Zugewandtheit, die er seinem fotografierten Gegenüber entgegenbringt, eine Intensität, die sich dem Betrachter sofort vermittelt, egal, ob er die Insassen eines Gefängnis, Menschen in der Psychiatrie oder die Besucher eines Vergnügungsparks beobachtet.

Vierte Begegnung: 1999 fragt Anna Gripp von der PHOTONEWS anlässlich einer großen Petersen-Werkschau in Herten an, ob ich darüber schreiben möchte. Meine Zusage kommt ohne nachzudenken, dann die Idee, den Fotografen anzurufen und ein Interview als Grundlage zu machen. Der einzige Haken: ich hab bis dahin noch nie ein Interview gemacht. Als ich anrufe, bin ich nervös und meine Stimme klingt furchtbar dünn. 10 Minuten habe ich für mein Gespräch erhofft, aber es kommt anders. Der Fotograf erzählt von seinen künstlerischen Anfängen. Er erzählt von seinem Lehrmeister Christer Strömholm, der ihm half, eine eigene fotografische Identität zu finden. Er erzählt aus seiner Hamburg Zeit, von seiner Freundin und von Freunden, die er dort kennenlernte, von denen einige in Bars und Striplokalen arbeiteten. Er erzählt von der Ausstellung, die er im Cafe Lehmitz aufhängte, bei der sich diejenigen bedienen durften, die sich auf den Bildern wiederkannten. Er erzählt von seiner Herangehensweise, die nie auf Schnelligkeit angelegt war. Er erzählt, warum ein Bild für ihn funktioniert und das Wahrheit immer wichtiger zu bewerten sei als ästhetische Kriterien. Mein Fragekonzept habe ich längst verworfen, dies ist kein Interview, es ist etwas Größeres, eine Sternstunde, und von da an beginne ich, noch mal grundsätzlich neu über Fotografie nachzudenken.

Foto: Maria Feck

Und hier ist nun heute die fünfte Begegnung: Das Café Lehmitz ist zurück in Hamburg. Seltsam, dass das erst jetzt geschieht. Noch seltsamer, demjenigen real gegenüberzutreten, der eine mir so bedeutsame Arbeit geschaffen hat. Das fühlt sich so unwirklich an…

… Und ich hab das Gefühl, es würde sich realer anfühlen, könnte diese Begegnung sich an einem anderen Ort abspielen. In einer Kneipe vielleicht. Ich würde gerne einer derjenigen sein, der nicht zu den Vernünftigen gehört und zu früh den Ort verlässt. Ich würde also dem Fotografen, der mir vorhin auffiel, heimlich mit meinem Blicke folgen zwischen den Kneipengästen, würde bemerken, wie er sich für die Leute öffnet, und würde aufmerksam beobachten, wenn er ab und zu seine Kamera in die Hand nimmt und den Auslöser drückt. Ich würde sehen, wie der Schnapstrinker einfach vom Hocker fällt, der Anzugträger seine neue Bekanntschaft abschleppt, während die andere Freundin mit leerem Blick an der Theke zurückbleibt, wie der ernste DJ seine Platten auflegt und wie die Zwillingsfreundinnen verschwitzt zu seiner Musik tanzen, während sich ein klatschender Kreis um sie bildet.

Foto: Maria Feck

Ich würde sehen, wie der Fotograf sich an den Tresen setzt und seine Kamera ablegt. Ich würde mir mutig einen Platz neben ihm erkämpfen und zwei Bier für uns ordern. Er würde mir vielleicht erzählen, wie er einst in Hamburg lebte, wie er zufällig ins Lehmitz kam, wie er dort Menschen kennenlernte, die seine Freunde wurden. Er würde vielleicht ein paar Fotos aus seiner Tasche ziehen, auf dem Tresen ausbreiten und die ein oder andere Geschichte zu Korn-Uschi, dem Zwerg oder Marlene zum Besten geben, und ich würde plötzlich in aller Klarheit erkennen, dass dies die Fotos eines wahren Menschenfreundes sind. Wir würden uns zuprosten und ich würde beseelt in den anbrechenden Morgen entschwinden.