Street Photography
Tobias Weisserth

Re: Ja, was ist sie denn, die Straßenfotografie ?

In dem Artikel »Ja, was ist sie denn, die Straßenfotografie« machte sich Andreas Herzau Gedanken über die Street Photography, die seiner Meinung nach nicht als eigene fotostilistische Kategorie zu betrachten sei, sondern höchstens als Teilbereich der künstlerischen Dokumentarfotografie. Diese Auffassung kann Tobias Weisserth nicht teilen – hier seine Antwort:

Andreas Herzau vertritt die These, Straßenfotografie sei kein eigenständiges Genre, keine ernstzunehmende fotostilistische Kategorie, allenfalls eine Methode der Fotografie, vergleichbar mit »Studiofotografie«. Es mutet ein wenig befremdend an, dass ausgerechnet einer von Deutschlands bekanntesten Straßenfotografen sich dermaßen von der Straßenfotografie als Kategorie fotografischen Schaffens distanziert, auch weil Herzau dieses Label in der Vergangenheit in Interviews selbst für sich nutzte.

Herzau eröffnet seinen »rant« zur Straßenfotografie mit der Behauptung, es gebe viele Ansätze zur Erklärung, aber keine Definition zur Straßenfotografie. Er bezweifelt außerdem, dass bestimmte fotografische Größen, die mit dem Begriff »Streetphotographer« definiert wurden, sich selbst als solche bezeichnen würden. Er nennt Helen Levitt, Elliott Erwitt, Philip-Lorca diGorcia konkret. Beide Behauptungen verdienen eine nähere Betrachtung, erleichtern sie doch die nachfolgende Diskussion Herzaus weiterer Ausführungen.

»The Goodbye« Victoria Coach Station, London, UK, 2013. Foto: Tobias Weisserth
»The Goodbye« Victoria Coach Station, London, UK, 2013. Foto: Tobias Weisserth

Wäre die Fotografie als Domäne der Kunst eine Religion, würde sie unter demselben Dilemma leiden, welches den Islam international zu einer dermaßen konfliktgeladenen kulturellen Strömung macht, denn es gäbe in der Religion der Fotografie, identisch zum Islam, keinen Vatikan und keinen Papst, der für die Mehrheit seiner Anhänger verbindliche Glaubensauslegungen formuliert und sanktioniert. Als Folge findet man nur selten eindeutig umrissene und unangreifbare Definitionen zu Teilgebieten der Fotografie und Meinungen. Dennoch haben sich in den letzten Jahren einige einflussreiche Initiativen gebildet, die im Sinne fotografischer Kollektive eine gemeinsame Sicht mit vielen Deckungsgleichheiten zum Thema Straßenfotografie entwickelt haben und diese Sicht in ihren fotografischen Arbeiten leben.

Als nennenswerteste und sicherlich erfolgreichste Vereinigung von Straßenfotografen kann man iN-PUBLiC nennen, ein Kollektiv das sich selbst als »The Home of Street Photography« bezeichnet. Ich würde nicht so weit gehen und iN-PUBLiC als den Vatikan der Straßenfotografie bezeichnen, aber gerade im Kontext auf Herzaus Behauptung, es gebe nur Ansätze der Erklärung und keine Definitionen zur Begrifflichkeit der Straßenfotografie, ist die Art und Weise, wie iN-PUBLiC Straßenfotografie ganz konkret definiert, sehr interessant, denn sie steht Herzaus Verständnis seiner Straßenfotografie als Methodik der Dokumentarfotografie diametral gegenüber.

»Lighting up« London, UK, 2013. Foto: Tobias Weisserth
»Lighting up« London, UK, 2013. Foto: Tobias Weisserth

So heißt es bei iN-PUBLiC beispielsweise: »Primarily Street Photography is not reportage, it is not a series of images displaying, together, the different facets of a subject or issue«. Nick Turpins Definition der Straßenfotografie aus dem Jahr 2000 geht deutlich weiter, als die Straßenfotografie einfach als Aufnahmen im öffentlichen Raum einzuschränken, was einer der gängigsten Erklärungsansätze ist, auf die sich Herzau eventuell bezieht.

Wir können nur mutmaßen, denn das hat Herzau nämlich leider vergessen: Er schreibt von Ansätzen der Erklärung, nur leider referenziert er keinen dieser Ansätze konkret, um ihn zu entkräften oder mit Fragezeichen zu versehen. Es wäre spannender gewesen, hätte sich Herzau konkret auf diese sehr ausgeprägte Definition eines sehr bekannten Fotografen und Gründers des wichtigsten Kollektivs aus dem Bereich Straßenfotografie bezogen und dessen Definition diskutiert.

Würden sich bestimmte Ikonen der Fotografie als Straßenfotografen bezeichnen?

Ich bin mit Philip-Lorca diGorcia nicht sehr vertraut. Helen Levitt kann sich leider nicht mehr äußern. Aber Elliott Erwitt ist heute noch so umtriebig wie vor Jahrzehnten. Herzau behauptet, Elliott Erwitt würde sich wahrscheinlich selbst nicht als Straßenfotograf bezeichnen. Insbesondere in Bezug auf Elliott Erwitt lassen sich gegenteilige Rückschlüsse zu Herzaus Behauptung aus Erwitts öffentlichen Äußerungen ziehen. In Cheryl Dunns »Everybody Street«, ein Dokumentarfilm über Ikonen der Straßenfotografie, tritt Elliott Erwitt als featured Street Photographer im Interview auf und begibt sich in die Gesellschaft einer Reihe anderer bekannter Fotografen, die sich ebenfalls als Straßenfotografen identifizieren.

Ließe sich Erwitt nicht mit dem Label Street Photography und Street Photographer in Verbindung bringen, hätte er eine Mitarbeit an diesem recht erfolgreichen Dokumentarfilm wohl abgelehnt. Es ist einfach müßig und sinnlos, die im Internet kursierenden Listen der »Ikonen« auf ihre Meinung zum Label Street Photography abzuklappern, wenn man nicht konkret eine öffentliche Aussage zu diesem Label durch diese Ikonen findet. Fakt ist allerdings, dass es mehr als nur eine Handvoll anerkannter Fotografen gibt, darunter einige echte Ikonen der Fotografie, die sich bewusst und aktiv mit dem Label der Straßenfotografie assoziieren und als solche wahrgenommen werden wollen.

Ist Straßenfotografie nun ein Genre?

Um diese Frage zu klären, ist ein Blick auf Veröffentlichungen von Fotografen hilfreich, die sich dem Genre der Straßenfotografie zuordnen lassen. Weil Erwitt bereits Teil dieser Diskussion ist und wir relativ sicher klären können, dass er sich sehr wahrscheinlich als Street Photographer begreift, möchte ich mich wieder auf Erwitt und einige seiner Veröffentlichungen beziehen.

»Heathrow Express. Mobile Devices.« London, UK, 2013. Foto: Tobias Weisserth
»Heathrow Express. Mobile Devices.« London, UK, 2013. Foto: Tobias Weisserth

Betrachten wir »Elliott Erwitt’s New York«, erschienen 2011 bei teNeues. Schon im Vorwort, geschrieben vom Schriftsteller Adam Gopnik, werden Erwitts Fotos als »Straßenfotos« bezeichnet und mit den »Straßenfotos« von Helen Levitt verglichen. Das Buch beinhaltet zahlreiche Fotografien aus New York, entstanden in einer Zeitspanne von Ende der vierziger Jahre bis ins Jahr 2008. Die zeitliche und thematische Auswahl der Fotos ist ungeordnet, die Fotos verteilen sich ungleichmäßig auf die zahlreichen Jahrzehnte, die Reihenfolge der Fotos im Buch ist nicht chronologisch. Eine genauere Angabe zu Ort und Datum der Fotos findet sich lediglich im Anhang des Buchs – das Buch und seine Fotos selbst erschließen sich ohne Zusammenhang und historischen Kontext rein visuell.

Ist dieses Buch als dokumentarische Fotografie zu verstehen?

Ich würde das ablehnen, denn was dokumentieren diese Fotos? New York? Welches New York? Das New York der vierziger Jahre? Der sechziger Jahre? Ein New York im Wandel der Zeit? Keines dieser dokumentarischen Leitmotive trifft zu, denn die Gestaltung des Buches, die Anordnung der Inhalte widerspricht dem. Es zieht sich kein systematischer Faden durch das Buch, der erkennen lässt, wann und wo welches Foto unter welchen Umständen entstanden ist, was aber die Voraussetzung für dokumentarisches Arbeiten wäre.

Das einzige, was alle Fotos in diesem Buch gemeinsam haben, ist ihre spontane und ungezwungene Entstehung im öffentlichen Raum, ihre Lokalität (New York) und Erwitts fotografische Handschrift. Das Buch zeigt Elliot Erwitts New York, deswegen heißt das Buch auch »Elliott Erwitt’s New York« und nicht ganz einfach »New York« by Elliott Erwitt. Insofern hat Herzau Recht, wenn er von Autorenfotografie spricht.

Aber ist Autorenfotografie dann ein eigenes Genre, dem man dieses Buch zuordnen kann?

Das greift zu kurz. Jemand, der in der Privatheit seiner Wohnung aus seiner ganz persönlichen Sichtweise heraus Fotos von Alltagsgegenständen macht, ist nach derselben Logik ebenfalls Autorenfotograf. Lässt sich ein Bildband über Wäscheleinen und Salatschleudern mit Elliott Erwitts New York Band vergleichen? Die einzige Definition eines Genres, das diesen Band treffend beschreibt, ist die Straßenfotografie.

Herzau spricht ebenfalls über Freiheit und Unabhängigkeit. Er spricht über Inhalte und Relevanz. Erwitt veröffentlichte zwei Bücher zum Thema Hunde: »Dog Dogs« bei Phaidon Press und »Elliott Erwitt’s Dogs« bei teNeues. Über diese Bücher sagt Erwitt, dass diese erst nachträglich durch eine Sichtung seiner Kontaktbögen entstanden sind, als ihm auffiel, dass er viele gute Fotos zu diesem Thema gemacht hat. Er ging nicht auf die Straße, um gezielt Fotos für einen Bildband über Hunde zu sammeln. Erwitts Hunde sind Aufnahmen im öffentlichen Raum, spontane Aufnahmen, die oft das Zusammenleben von Mensch und Hund auf sehr humoristische Weise zeigen.

Für sich alleine genommen, haben die vielen Einzelaufnahmen über die Jahre keinen Inhalt und keine Relevanz. Erwitt hat diesen Einzelaufnahmen durch einen Auswahlprozess Inhalt und Relevanz eingehaucht – und das viele Jahre im Nachhinein, ohne vorher stückchenweise Bilder ins Internet zu fluten. Was hat das jetzt mit Freiheit zu tun? Eine ganze Menge. Der Straßenfotograf Erwitt ließ sich, »vom Zufall getrieben und nur seinen eigenen Sehnsüchten und Wünschen verpflichtet«, auf spontane Motive ein, ohne ein relevantes Thema im Kopf zu haben. Das ist die Freiheit der Straßenfotografie.

Abschließend seien an dieser Stelle folgende Veröffentlichungen empfohlen. Dokumentarfilme: »Everybody Street«, »In-Sight«. Bücher: »Street Photography Now«, Thames & Hudson; »The Street Photographer’s Manual«, Thames & Hudson. Insbesondere David Gibsons Neuerscheinung »The Street Photographer’s Manual« beinhaltet eine sehr gute Auswahl von relevanter Literatur in einer Literaturliste sowie Kurzporträts verschiedener zeitgenössischer Straßenfotografen und einiger Kollektive.

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