Ja, was ist sie denn, die Straßenfotografie?
Eine schlechte Nachricht zuerst: Streetphotography gibt es nicht – zumindest nicht als ernstzunehmende fotostilistische Kategorie. Sucht man Definitionen dafür, findet man viele Ansätze der Erklärung, die aber letztlich immer an den Punkt kommen, was das genau sei, wisse man nicht und bliebe letztlich der eigenen Interpretation überlassen.
Und trotzdem: Straßenfotografie ist en vogue und im Netz findet man in Hülle und Fülle Webseiten, Foren und Plattformen, die sich nur dieser scheinbaren Stilistik in der Fotografie widmen. Man stößt auch auf Listen mit Fotograf*innen, die als wichtige Streetphotographer definiert wurden. Ich glaube aber kaum, dass Helen Levitt, Elliott Erwitt, Philip-Lorca diGorcia und all die anderen, die dort immer wieder auftauchen, auf die Idee kommen würden, sich selbst als Streetphotographer zu bezeichnen. Vermutlich ist es vielmehr so, dass diese von Fans und Amateuren dazu erkoren wurden, um sich dann selbst über das so geschaffene Label in die Nähe dieser Ikonen der Fotogeschichte zu stellen.
Gleichzeitig wird aber auch der Begriff »Streetphotography« mit dem Begriff »Freiheit« und »Unabhängigkeit« aufgeladen. Man könnte sogar soweit gehen, dass es eine Art Fotografie von unten sein will, was sprachlich durch »Street« bzw. »Straße« zum Ausdruck gebracht wird. Liest sich doch Streetphotography bzw. Straßenfotografie in einer Reihe wie Streetworker, Streetfighter, Straßenprostitution oder Straßenköter, der ungebunden durch die Straßen streunt: immer am Boden, wenig glamourös, vom Zufall getrieben und nur seinen eigenen Sehnsüchten und Wünschen verpflichtet.
Das macht sich gut, denn in der dokumentarischen/künstlerischen Fotografie weiß so manche/r heute gar nicht mehr, wo ihr oder ihm der Kopf steht: Alles und jeder ist durchdrungen von Verwertungsabsichten und seinem Markt. Dazu kommt, dass Fotografie in der nördlichen Hemisphäre unserer Welt ein mittlerweile zentrales kulturelles Mittel der Distinktion geworden ist, wie es vielleicht früher Klavierspielen oder Latein gewesen ist. Das Wissen um Fotografie und das passable Praktizieren von Fotografie gehört heute im bürgerlichen Umfeld zum guten Ton. So ist die Attitüde des Straßenköters oder des sich treiben lassenden lonesome rider/loser auch ein Reflex auf die gnadenlose kommerzielle Durchdringung der Fotografie. Man begreift sich als Underdog, als einer der letzten Echten unter vermeidlich lauter Falschen.
Ich unterstelle mal, dass aus genau diesem Grund die Entdeckung des knipsenden Kindermädchens Vivian Maier und die anschließende Adelung als eine d e r Straßenfotografinnen des letzten Jahrhunderts auf so fruchtbaren Boden fiel und ein regelrechtes Vivian-Maier-Fieber auslöste. Sie, die jahrzehntelang als Kindermädchen arbeitete und in ihrer Freizeit fotografierte, ohne diese Bilder jemals anderen gezeigt zu haben, wurde so zum Inbegriff von Unabhängigkeit und Selbstlosigkeit – neben der Tatsache, dass Sie für ihre Zeit gute Bilder machte.
Wenn es Streetphotography überhaupt gibt, dann höchstens als Teil des Bereiches künstlerische Dokumentarfotografie. Sie wird überwiegend im urbanen öffentlichen Raum ausgeübt und streift dabei fast alle Genretypen: Porträt-, Reportage-, Landschafts- wie auch Architekturfotografie. Sie untersucht mit dem Mittel der Fotografie soziale Wirklichkeit und betrachtet das Leben gleichzeitig wie ein Theaterstück: die Straße ist die Bühne, die Passanten die Akteure und die jeweilige Stadt bildet eine Kulisse. Das Ergebnis kann sowohl das Einzelbild sein, als auch die Serie. Entscheidend für die Qualität des Ergebnisses ist neben der kompositorischen Brillanz, dass es ein irgendwie geartetes Thema gibt, welches mit einem sehr persönlichen (auch emotionalen) Blick gesehen und in Fotografie übersetzt wurde. Man nennt dies auch Autorenfotografie – was mit einschließt, dass der Autor oder die Autorin ein Anliegen hat, welches jenseits einer rein ästhetischen Oberfläche liegt. Man nennt dies auch Inhalt oder Relevanz.
Ich selbst, dem das Label Streetphotographer auch anhaftet, fotografiere meine Themen im öffentlichen Raum, weil diese dort stattfinden, nicht aber, weil ich zum Streetphotographer erkoren wurde. Für mich ist die Straße als Ort wichtig, weil ich dort immer ein Spiegelbild der Gesellschaft in der jeweiligen Zeit mit den dazugehörigen Protagonisten vorfinde. Die Welt ist für mich eine große Versuchsanordnung und meine Aufgabe ist es, diese so lange zu untersuchen, bis ich die Antworten auf meine Fragestellung gefunden habe oder die Fragestellung selbst. Man könnte es auch Soziologie mit fotografischen Mitteln nennen.
Fotografie gibt mir das einmalige Privileg alles zu hinterfragen, auf alles neugierig zu sein und qua Amt eine Legitimation zu haben, hinter die Geschehnisse auf dieser Welt zu schauen und Erklärungen für das »Wie, Weshalb, Warum« einzufordern. Für mich ist Fotografie weniger das Sehen, sondern das Lesen und Verstehen, wie eine Gesellschaft funktioniert, deren untrennbarer Teil ich selbst bin. Erst das Verstehen macht eine Transformation in Fotografie möglich. Man sagt, nur wer etwas gut verstanden hat, kann dies auch mit wenigen Worten gut erklären. In meinem Fall sind diese Worte, wenn überhaupt, Bilder. Bilder, die ich finde, manchmal suche oder die mich finden. Bilder, die ein Muster abbilden, in dem sich die Gleichzeitigkeit dieser Welt darstellt – mit allen Widersprüchen, Sehnsüchten, Verführungen, Siegen und Niederlagen, die die Gesellschaften in denen ich mich jeweils bewege, mit sich bringen.
Es gibt im Kontext der sogenannten Straßenfotografie Begriffe, die scheinbar untrennbar damit verbunden sind. Einer davon ist »der richtige Augenblick«, was in der Regel einen nicht wiederholbaren Moment oder Ausschnitt des Lebens meint. Das ist mit wenigen Ausnahmen Quatsch. Denn das Wesen von dokumentarischer Fotografie im laufenden Betrieb der Gesellschaft besteht darin, dass man die (Verhaltens-)Regeln so durchdrungen hat, dass man die entscheidende Sekunde vorher weiß, was passieren wird. So komplex uns das Leben heute erscheint, so sehr besteht es aus Wiederholungen und wenn ich schreibe, ich würde Bilder finden oder diese mich, so bedeutet das, ich habe so lange daran gearbeitet, dass dies überhaupt passieren kann: das Erkennen fast berechenbarer Muster von Handlungsabläufen. Dies ist dann der große Moment, in dem ich mit meinen Emotionen, mit meiner Kamera und mit dem Drumherum verschmelze: den Rhythmus gefunden, eine fast transzendale Wahrnehmung habe und beginne zu verstehen – mit Fotografie.
Und nun die andere schlechte Nachricht zum Schluss: Der Begriff »Streetphotography« beschreibt lediglich den Modus Operandi des Fotografierens, genauso wie das Fotografieren in geschlossenen Räumen mit allen möglichen Hilfsmitteln, wie Blitzanlagen etc. als »Studiophotography« bezeichnet wird. Das scheint banal. Ist es auch. So wie all die Diskussionen, die unter diesem Label geführt werden, in der Regel recht banal sind und sich sehr oft auf einer rein technisch formalen Ebene bewegen. Eine gute Methode, der Frage aus dem Weg zu gehen, was ist ein gutes Bild? Oder genauer: Ist mein Bild gut? Diese Frage steht all zu oft im Hintergrund, wenn die Diskussion über Streetphotography aufkommt. Kein Wunder, ist dies ja auch nur eine Diskussion über die Methode.
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Andreas Herzau
lebt und arbeitet in Hamburg. Er zählt zu den engagierten Bildjournalisten, die die Grenzen des klassischen Reportagefotografie immer wieder in eigenständiger Weise erweitert haben. Seine Arbeit wurde bereits vielfach international ausgestellt, ausgezeichnet und veröffentlicht. Dieser Text erschien zuerst auf Bitte von Daniela Hinrichs auf der Webseite dearphotography.com, dort allerdings in englischer Sprache. Die deutsche Version wurde zuerst auf dem Blog von Andreas Herzau veröffentlicht http://blog.andreasherzau.de.
Mehr von Andreas Herzau auch auf http://instagram.com/andreasherzau