Failed State Türkei
Text – Roland Geisheimer
Die desolate Menschenrechtslage in der Türkei ist in Deutschland angekommen. Seit über zwei Wochen wird der WELT-Korrespondent Deniz Yücel in der Türkei seiner Freiheit beraubt. Der absurde Tatvorwurf lautet, er habe sich mit seinen Artikeln in der Tageszeitung WELT der Terrorunterstützung und der Volksverhetzung schuldig gemacht.
Unter dem Motto »Korso4Deniz« protestierten gestern in elf Städten Menschen gegen die Beschneidung der Pressefreiheit in der Türkei. Aufgerufen dazu hatte die Kampagne »FreeDeniz«. Auch FREELENS-Fotografen waren bei den Autokorsos vertreten.
Derzeit sitzen laut der Internetseite »Free Turkey Journalists« neben Deniz Yücel mindestens 153 weitere Kolleginnen und Kollegen in türkischen Gefängnissen ein. Ihr einziges »Vergehen«: Sie haben ihren Job ernst genommen und über die Zustände in der Türkei berichtet. FREELENS schließt sich der Forderung der Kampagne »FreeDeniz« an und fordert ebenfalls die sofortige Freilassung von Deniz Yücel und den anderen Kolleginnen und Kollegen.
Wie in Deutschland genießt die Pressefreiheit in der Türkei eigentlich Verfassungsrang. Im Dezember 1948 wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet, darin heißt es unter anderem: »Jeder hat das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung; dieses Recht schließt die Freiheit ein, Meinungen ungehindert anzuhängen sowie über Medien jeder Art und ohne Rücksicht auf Grenzen Informationen und Gedankengut zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten.« Davon ist die Türkei derzeit weiter entfernt denn je.
Bis jetzt galten die Einschüchterungsversuche und die Beschneidung der Pressefreiheit nur den inländischen Medien. Das Erdogan-Regime ließ unzählige Print- und Onlinepublikationen verbieten, entzog Radio- und Fernsehsendern die Lizenzen und drangsalierte all jene Journalisten, die nicht die Sichtweise des Regimes vertraten. Drakonische Strafen und Inhaftierungen – allesamt Ergebnisse von Verfahren, die mit Rechtsstaatlichkeit recht wenig gemein haben – wurden angeordnet. Mit der Verfolgung eines deutschen Korrespondenten will man nun auch die ausländischen Medien einschüchtern. Die Verantwortlichen in Ankara senden ein unmissverständliches Signal: »Passt auf, was ihr berichtet, sonst ereilt euch selbiges Unheil!«
Erfreulich, dass über fast alle Parteigrenzen hinweg in Deutschland das Vorgehen der Türkei auf das Schärfste verurteilt wird. Dass sich die demokratischen Parteien in Deutschland mit Yücel und seinen Kolleginnen und Kollegen in der Türkei solidarisieren, ist ein wichtiges Signal. Nicht so erfreulich ist, dass es erst zu massenhaften Solidaritätsbekundungen kam, nachdem ein deutscher Korrespondent Opfer des türkischen Regimes wurde. Als habe man sich bis dahin damit abgefunden, dass der Nato- und Flüchtlingspakt-Partner Türkei in Bezug auf Menschenrechte ein »failed state« ist.
Bundeskanzlerin Angela Merkel reiste in den vergangenen 12 Monaten fünfmal in der Türkei. Menschenrechte waren dabei maximal ein Randthema. Erst bei ihrem letzten Besuch am 2. Februar 2017 hat sie sich mit der Opposition getroffen, um mit dieser über die Lage der Menschenrechte in der Türkei zu sprechen. Zu diesem Zeitpunkt hielt sich Deniz Yücel seit mehreren Wochen in einem Gebäude der deutschen Botschaft auf. Dort hatte er Zuflucht gefunden, nachdem bekannt wurde, dass ihn die türkische Staatsanwaltschaft sucht. Als er sich vor rund zwei Wochen entschloss, den Verfolgungsbehörden Rede und Antwort zu stehen, endete auch für ihn die Freiheit und er kam in Untersuchungshaft. Diese kann in der Türkei bis zu fünf Jahre dauern.
Setzen wir uns weiterhin gemeinsam dafür ein, dass für Deniz Yücel und alle anderen Kolleginnen und Kollegen, die Forderung nach sofortiger Freiheit möglichst bald in Erfüllung geht!