EuGH kippt Vorratsdatenspeicherung
Heute hat der Europäische Gerichtshof verkündet, dass er die EU-Richtlinie zur verdachtslosen Vorratsspeicherung sämtlicher Verbindungs- und Standortdaten für ungültig und nicht verhältnismäßig hält.
Die unterschiedslose Vorratsspeicherung von Informationen über jedes Telefonat, jede SMS, jede E-Mail und jede Internetverbindung der gesamten Bevölkerung sollte alle bisherigen Überwachungsmaßnahmen in den Schatten stellen. Eine Vorratsdatenspeicherung zeichnet dauerhaft das alltägliche Kommunikations-, Bewegungs- und Internetnutzungsverhalten aller 80 Mio. Menschen in Deutschland auf; durchschnittlich alle vier Minuten werden Informationen über jede/n von uns festgehalten. Dieser Speicherung kann auch durch Nutzung alternativer Formen der Kommunikation kaum entronnen werden. Eine Offenlegung der umfassenden Kommunikationsprofile durch Datenpannen, Hacking oder missbräuchlichen Zugriff wäre nur eine Frage der Zeit, da bereits heute täglich Datenmissbrauch aus unterschiedlichsten Quellen festgestellt wird.
In seinem Urteil vom 2. März 2010 zum ersten deutschen Umsetzungsgesetz hat das Bundesverfassungsgericht die Vorratsdatenspeicherung zwar nicht grundsätzlich für verfassungswidrig erklärt, sondern nur das damalige Gesetz selbst. Allerdings sprach das Gericht von der Erforderlichkeit einer Gesamtrechnung, nach der das Ausmaß aller Überwachungen ein bestimmtes Maß nicht überschreiten dürfe. Mit den Erkenntnissen der vergangenen neun Monate zu den ausufernden Spionageprogrammen von NSA und GCHQ muss diese Rechnung heute aber zu einem anderen Ergebnis führen. Denn was vor vier Jahren so gerade eben noch in das zulässige Maß hineingepasst hätte, würde heute den Rahmen der Grundrechtsverträglichkeit sprengen.
Die verdachtsunabhängige und wahllose Vorratsdatenspeicherung hätte sich für viele Bereiche der Gesellschaft als höchst schädlich erwiesen. Sie beeinträchtigt vertrauliche Kommunikation in Bereichen, in denen Menschen berechtigterweise auf Nicht-Rückverfolgbarkeit angewiesen sind (z.B. Kontakte zu Psychotherapeuten, Ärzten, Rechtsanwälten, Betriebsräten, Eheberatern, Kinderwunschzentren, Drogenmissbrauchsberatern und sonstigen Beratungsstellen) und gefährdet damit die körperliche und psychische Gesundheit von Menschen, die Hilfe benötigen, aber auch der Menschen in ihrem Umfeld. Wenn Journalisten Informationen nicht mehr elektronisch über nicht rückverfolgbare Kanäle entgegen nehmen können, gefährdet dies die Pressefreiheit und beeinträchtigt damit Funktionsbedingungen unserer freiheitlichen demokratischen Gesellschaft. Eine verdachtsunabhängige und wahllose Vorratsdatenspeicherung schafft Risiken des Missbrauchs und des Verlusts vertraulicher Informationen über unsere persönlichen Kontakte, Bewegungen und Interessen. Telekommunikationsdaten sind außerdem besonders anfällig dafür, Unschuldige in den falschen Verdacht einer Straftat zu bringen und diese ungerechtfertigt strafrechtlichen Ermittlungen auszusetzen.
Die im Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung zusammengeschlossenen Bürgerrechtler, Datenschützer und Internetnutzer (darunter auch FREELENS) forderten gemeinsam mit über 100 Organisationen aus 23 europäischen Ländern »die Aufhebung der EU-Vorgaben zur Vorratsdatenspeicherung zugunsten eines Systems zur schnellen Sicherstellung und gezielten Aufzeichnung von Verkehrsdaten.«
[Update] Justizmister Heiko Maas (SPD) dazu: »Die Grundlage für die Vereinbarung im Koalitionsvertrag ist entfallen. Deutschland ist nicht mehr zu einer Umsetzung der Richtlinie verpflichtet.«