Magazin #32

Zwischen Wohnhölle und Himmelbett

Gewalt, Sexualität, Trostlosigkeit. Die Fotografin Margaret M. de Lange fängt düstere Momente in Bildern ein – in ihren eigenen. Bei den Auftragsarbeiten setzt sie geschmackvolle Wohnlandschaften in Szene. Himmel und Hölle, die zwei Welten einer Fotografin

Text – Peter Lindhorst

Der Erzählstrom von Margaret M. de Langes düsterer Schwarz-Weiß-Serie zieht den Betrachter erst unbemerkt, dann bestimmt und immer heftiger mit sich fort. Wähnte sich dieser eben noch auf der sicheren Seite der Rezeption, wird er umso schneller in ein Gefüge aus Traum, Fantasie und Realitätsbruchstücken mitgerissen, das seine etwas zu vorschnelle Kategorisierung heftig erschüttert. Er kann nicht anders – zu dem, was die Fotografin bietet, muss er sich verhalten. »Leute reagieren sehr unterschiedlich auf meine Bilder. Einige sind sehr ablehnend und finden sie verstörend. Allerdings entdecken die meisten Leute, mit denen ich zusammentreffe, irgendetwas in den Fotos, was sie kennen. Die Art und Weise, wie wir sind, wenn wir privat und verletzbar sind. Wenn die Einsamkeit einsetzt«, berichtet Margaret M. de Lange. Aus den Nasen tropft das Blut, Tränen rollen über die Wangen, Augen sind mit »Veilchen« versehen. Runtergezogene Röcke geben den Blick frei auf Körperkartografien aus blauen Flecken und Narben. Das ist beunruhigend, erreicht aber nicht den Grad der Verstörung, der den Betrachter erfasst, wenn er in die leeren Augen der Porträtierten und damit direkt in die Tiefe ihres Daseins blickt.

In wuchtigen Bildern, die Margaret M. de Lange zu einem schnellen Rhythmus verwebt, geht es um die Leere, die unerfüllte Sehnsucht und Einsamkeit, an der die Beteiligten leiden. »Die Einsamkeit, die wir erfahren, wenn wir von Leuten umgeben werden, ist eine Einsamkeit, die wir aufs Stärkste zu verbergen suchen. In unbewusster Weise suche ich danach in mir, wenn ich die Leute, die mich umgeben, betrachte. Die, denen ich nah bin, aber auch Fremde, mit denen ich nur flüchtige Begegnungen habe. Diese Leute werden zu Spiegeln für mich. Damit zeige ich etwas, was ich zu verbergen suche. Meine Unsicherheiten, Träume und Bedürfnisse. Mein Glück und meine Traurigkeit, meine Siege und Niederlagen. Meine Einsamkeit.« Diese Aussage stellt die in Oslo ansässige Fotografin dem Betrachter als Handhabe ihrer Serie »Surrounded by No One« zur Seite, die als Buch erschienen ist und gerade als Einzelschau im größten skandinavischen Fotomuseum, dem Stockholmer »Fotografiska«, gezeigt wurde.

Selten gibt es in der Serie Anflüge von Heiterkeit, die mit der vorherrschenden Tristesse kopulieren: Etwa jene schillernde Szene eines Männerpaares, das sich innig umarmt. Einer der beiden hält einen zähnefletschenden Hund unter dem Arm, vor dem wir als Betrachter lieber Reißaus nehmen. In manchem Moment findet gar eine thematische Entschleunigung statt: Eine Schale mit Vogelfutter in einer Schneelandschaft; im Wald eine Vogelscheuche; ein verendetes Reh auf dem Asphalt. Vorgeführte Banalitäten unserer Existenz, doch wir ahnen: Unter der Oberfläche bilden sich erste tiefe Risse.

Düstere Blicke in schummrige Zimmer: Flecken verschütteter Körpersäfte auf den Laken, enge Umarmungen, entblößte Brüste, Zungen, die aus Mündern gestreckt werden und sich in andere schieben, Masturbations- und Beischlafszenen, postkoitale Erschöpfungen. Körper krümmen sich zwischen den Laken, Menschen sitzen entrückt auf der Bettkante. Haben wir es bei Margaret M. de Lange mit einer Fotografin zu tun, die – ähnlich wie die junge Nan Goldin – die exhibitionistischen Eitelkeiten der eigenen Szene vorführt? Auch wenn sie eine aus den Fugen geratene Welt darstellt, in der die Protagonisten vereinzelt und orientierungslos wirken, führt sie selbst alles andere als ein Bohème-Leben, wie es für Goldin typisch war. Nachdem die Norwegerin schon früh Grafikdesign studiert hatte, kam sie erst spät zur Fotografie und reüssierte dort in einem anderen Metier: »Ich war schon 27 Jahre alt, als ich mit einem zweijährigen Studium an einer Fotoschule in Oslo begann. Nachdem ich meinen Abschluss machte, habe ich fast drei Jahre als Assistentin im kommerziellen Bereich gearbeitet. Ich arbeite heute hauptsächlich in den Bereichen Werbung, Interior und Food und fotografiere viel für Designmagazine wie Elle Decoration und verschiedene Food-Magazine. Das Arbeiten an meinen eigenen Projekten ist also ganz anders als das, womit ich Geld verdiene …«

In ihren freien Arbeiten sind die Tische unaufgeräumt, die Betten zerwühlt. Ein dreckiges Handtuch hängt an einem Halter, die Kücheneinrichtungen wirken karg. Mit ihrem subjektiven Dokumentarismus befindet sie sich auf der anderen Seite dessen, was ihr eine kommerzielle Fotografie, die sie im beruflichen Alltag erlebt, abverlangt: eine makellose, hippe Wohnästhetik, wie sie in den virtuellen Hochglanzwelten der Einrichtungsmagazine vorgeführt wird. Heimelige Himmelbetten statt befleckter Matratzen. Die durchgesessenen Sofas, auf denen ihre müden Akteure hocken, haben herzlich wenig mit den geschmackvoll in Szene gesetzten Sitzmöbeln ihrer Interior-Fotografie gemein. Erlebt da eine Fotografin ihren Dr.-Jekyll- und Mr.-Hyde-Moment? »Ich finde es überhaupt nicht problematisch, dass meine kommerzielle Arbeit ästhetisch so stark von meinen freien Serien abweicht. Ich mag tatsächlich beide Bereiche, auch wenn sie zwei ganz unterschiedliche Welten bedeuten. Es ist für mich ein sehr schöner Umstand, dass ich mit meiner kommerziellen Arbeit genug Geld verdienen kann. Ich arbeite mit sehr netten Leuten und sehe es als unbedingte Herausforderung, perfekte, schöne Bilder zu liefern. Aber natürlich kann ich nicht leugnen, dass mir meine freien Projekte am Herzen liegen und ich diesen Weg in der Zukunft noch zielstrebiger beschreiten will. Ich subventioniere meine freie Arbeit durch Aufträge und versuche mein Bestes, das im ausgewogenen Verhältnis hinzukriegen. Aber manchmal nimmt der kommerzielle Bereich noch zu viel Raum ein, fürchte ich!«

Angefangen hatte sie vor Jahren mit ihrem freien Projekt »Daughters«, das es erst sehr viel später als Ausstellung und Buch geben sollte. Kindheit als mythischer Ort, als intensive Erfahrung mit der Natur, so lässt sich die Serie grob umschreiben. In einer in dunkle, erdige Töne getauchten Fotografie inszeniert sie ihre Töchter als Fantasiewesen einer archaischen Welt. »Ich begann mit dem Projekt, als ich noch studierte. Zu der Zeit war ich eine junge Mutter, und fotografierte meine Töchter auch um Dinge auszuprobieren. Die Reaktionen, die die Bilder hervorriefen, waren sehr ermutigend. Das, was als reine Fingerübung für die Fotoschule gedacht war, geriet zu einem größeren Projekt über Kindheit in Norwegen. Zwölf Jahre habe ich schließlich daran gearbeitet.«

Die Mutter wartete, bis ihre Kinder erwachsen wurden und der Veröffentlichung zustimmen konnten. »Daughters« brachte ihr zahlreiche Auszeichnungen ein und bestärkte sie, den Spagat zwischen rauer Schwarz-Weiß-Fotografie und cleaner, farbiger Hochglanzfotografie, zwischen freier Arbeit und kommerziellen Aufträgen weiter zu betreiben. Während sie einerseits gefeierte Ausstellungen in Brüssel, Paris und New York eröffnete, wurde sie weiterhin von den Agenturen gebucht und arbeitete bereits an einem Folgeprojekt.

In »Surrounded by No One« umwebt ein lebensdüsterer Schleier das Dasein der Menschen. In der grobkörnigen, von harten Kontrasten bestimmten Fotografie findet dies seine kongeniale Entsprechung. Margaret M. de Lange hat zu einer ganz eigenen Ästhetik gefunden, ohne Einflüsse anderer Kollegen zu leugnen. »Tatsächlich merke ich, wie genau ich in die Tradition einer skandinavischen Fotografie passe. Ich kannte gar nicht die Arbeiten der Fotografen Anders Petersen und Christer Strömholm, bis ich fast fertig war mit ›Daughters‹. Vielleicht drückt die Fotografie die Art und Weise aus, wie wir hier im Norden sind. Anders Petersen ist ein sehr guter Freund von mir geworden und ich habe eine Menge von ihm gelernt. Er ist ein fantastischer Fotograf und ein noch besserer Mensch. Ich bin ein bisschen von ihm und meinen anderen Helden beeinflusst: Strömholm, Nan Goldin, Antoine D’Agata und Daido Moriyama.«

Ihre Fotos wirken wie inszenierte Halluzinationen, die uns Widrigkeiten des Zusammen- und Alleinseins vorführen und die unweigerlich in Sackgassen wie Apathie oder Gewalt münden. Schwebte ihr von Anfang an ein klares Konzept im Kopf? Und wie gelang es, so derart nah an ihre Protagonisten heranzukommen? »Der neue Zyklus begann ähnlich wie ›Daughters‹. Ich hatte keinen genauen Plan für ein definiertes Projekt. Ich hatte einfach immer die Kamera dabei und fand interessante Dinge um mich herum, die ich dann fotografierte… Die Menschen, die man sieht, sind meine Freunde, meine Familie, manchmal auch Leute, die ich ich nur kurz getroffen habe. Ich kann nicht beantworten, wie ich ihr Vertrauen gewonnen habe, aber mir gelang es einfach, Zugang zu finden und eine Verbindung aufzubauen. Am Ende des Tages kennen mich die Leute besser, mit denen ich zusammenarbeite und die ich fotografiere, und sie wissen, dass ich das Vertrauen, das sie mir bewiesen haben, niemals missbrauchen würde, wenn sie mich mit meiner Kamera einlassen.«

Die Verzweifl ung einer jungen Frau, die vor dem Klo hockt. Eine völlig erschöpfte Mutter, die neben ihrem Baby einschläft. Das kummerverzerrte Gesicht eines Mädchens. Kann die Fotografin auf ihre Berufsroutine zurückgreifen, wenn sie in solchen Momenten auf den Auslöser drückt? »Job und Arbeiten an meinen freien Serien sind absolut zwei verschiedene Paar Schuhe. Vor allem, da ich selten Leute in meinen Aufträgen ablichte. Ich versuche niemals, Leute zu etwas zu überreden, denn so funktioniert meine Arbeit nicht. Menschen finden es entweder in Ordnung, wenn ich dabei bin, oder ich lege die Kamera weg«, berichtet Margaret M. de Lange, »Da gibt es zum Beispiel dieses Foto, in dem sich zwei Frauen küssen. Das geschah nach einem Tagesjob. Wir waren fernab in den norwegischen Bergen, wo wir die Nacht verbrachten. Nachdem wir den ganzen Tag gearbeitet hatten, saßen wir zusammen. Wir tranken und die Stimmung war ausgelassen, als plötzlich zwei Frauen sich direkt vor mir umarmten und küssten. Wie immer hatte ich meine Kamera dabei, machte einige wenige Bilder und legte sie dann weg. Man muss sehr sensibel sein für eine Situation, um zu erkennen, wann es der richtige Zeitpunkt ist, auf den Auslöser zu drücken – und noch wichtiger, wann man verschwinden sollte.«

So entsteht eine intime Nähe zu ihren Mitmenschen, der sich der Betrachter kaum entziehen kann. Immer hat man das Gefühl, dass sich in der Abbildung der anderen auch stückweise die Existenz der Fotografin refl ektiert. Darf man von der festgehaltenen Lebenswelt auf die Fotografin selbst rückschließen? »Ich habe viele Seiten in mir. Die meisten Leute würden mich als lebensbejahenden Charakter beschreiben, keinesfalls als pessimistische Person. Bis zu einem gewissen Grad stimmt das auch. Ich bin glücklich, aber wie wir alle habe ich Seiten in mir, die ich vor den anderen verberge. Genau diese Seiten sind Bestandteile meiner Fotografie.«

Bleibt abzuwarten, wie es mit der Fotografin weitergeht. Gut möglich, dass die Ausstellungsliste länger wird, weitere Auszeichnungen und Publikationen folgen und sie ihren Durchbruch mit ihren dokumentarischen Serien erlebt. Bis es soweit ist, wird sie ihre Rolle als Grenzgängerin zwischen Auftragsjobs und Kunstwelt weiterhin unbeirrt und mit Verve ausfüllen. »Ich ziehe meine Sache durch. Mein Traum ist allerdings, vor allem meine eigenen Geschichten voranzutreiben. Meine Kamera habe ich immer dabei. So arbeite ich automatisch schon an einem neuen Projekt, das möglicherweise wieder in einem neuen Buch und einer Ausstellung mündet. Ich weiß zwar noch nicht, worum es genau geht, aber ich werde es mit der Zeit herausfinden.«

Biografisches
Margaret M. de Lange

1963 geboren, widmete sie sich nach einer grafischen Ausbildung 1991 an der School of Photography in Oslo dem fotografischen Handwerk. Die Mutter zweier Töchter lebt und arbeitet als Freiberuflerin in der norwegischen Hauptstadt. Ihre bislang veröffentlichten Bücher »Daughters« (2009) und »Surrounded by No One« (2011) sind beide bei Trolleybooks in London erschienen.

www.margaretmdelange.com

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Peter Lindhorst

war Lektor verschiedener Fotobuchverlage und arbeitet heute als freier Autor. Seine Beiträge erscheinen in Magazinen und Büchern. Er ist Kurator der FREELENS Galerie und betreibt einen Fotobuchblog.