Magazin #24

Werke, die lebendig bleiben

Ob der Nachlass eines Fotografen Zukunft hat, ist oft dem Zufall überlassen. Oder ihm nahe stehender Personen. Damit die Bilder weiterhin präsent bleiben, bedarf es also besonderer Umstände. Fünf Beispiele.

Text – Kai-Uwe Scholz

»Fotografie war sein Leben. Nein, sie war unser Leben.« Karin und Dirk Reinartz waren ein eingespieltes Team: Er machte die Fotos, sie hatte den kaufmännischen Part übernommen. Der Rheinländer und die Hamburgerin ergänzten sich ideal – beruflich wie privat.

Buchstäblich auf der Höhe seines Daseins wurde Dirk Reinartz im März 2004 aus dem Leben gerissen. Sekundentod durch plötzlichen Herzstillstand, mitten im Gespräch, mitten in einem angefangenen Satz. »Eigentlich ein Tod, wie man ihn jedem nur wünschen kann – auch sich selbst«, sagt Karin Reinartz. Doch der Schock saß tief. Ihr Mann wurde gerade 56 Jahre alt.

Reinartz hatte 1970 als Fotoreporter beim Stern begonnen – noch vor Abschluss seines Studiums an der Essener Folkwangschule bei Otto Steinert. Mit 24 Jahren war er der jüngste Reportagefotograf, den es beim Stern je gegeben hat.

1977 wurde Reinartz Mitglied der Fotografenagentur Visum in Hamburg. 1980 heiratete er Karin; zwei Jahre später, am 1. Januar 1982, machte er sich selbstständig. »Es lief ziemlich schnell ziemlich gut«, erinnert sich seine Frau. Neben Arbeiten für Art, Merian, Spiegel, Stern und das Zeitmagazin entstanden Bildbände wie Kein schöner Land (1989), Künstler (1992), totenstill (1997, mit Fotos aus ehemaligen deutschen Konzentrationslagern) oder Innere Angelegenheiten (2003). 1998 wurde Dirk Reinartz als Professor für Fotografie an die Kieler Muthesius-Hochschule für Kunst und Gestaltung berufen. Für den kommunikationsfreudigen Fotografen ein Traumjob: den eigenen Ansatz nicht nur verfolgen, sondern auch vermitteln zu können.

Im März 2004 wurde das Werk zum Nachlass. Sowohl das Büro in Kiel als auch der große Raum unter dem Dach im heimatlichen Buxtehude, der als Atelier und Archiv diente, waren plötzlich verwaist – ein Foto von Joseph Beuys neben dem Fenster, eine Trauerweide davor.

Nachlass 1: »In den ersten Wochen konnte ich da überhaupt nicht rein«, erinnert sich Karin Reinartz. Als nach zwei Monaten wieder Anfragen nach Bildern kamen, gab sie sich einen Ruck. »Mit dem Tod umgehen zu können, gehört auch zum Leben«, sagt sie. Und ihr wurde klar, dass sie zur Nachlasspflegerin nicht erst bestellt werden musste. Irgendwie sei ihr Mann immer davon ausgegangen, dass sie das mache, falls ihm etwas zustoße. Ein ausgesprochenes Vermächtnis sei das nicht gewesen – eher eine stillschweigend angenommene Selbstverständlichkeit.

Fotoausrüstung und Laborausstattung ihres Mannes überließ Karin Reinartz den Muthesius-Schülern in Kiel. Übrig blieben – neben dem umfangreichen Archiv gedruckter Arbeiten und zahllosen Prints – rund 250 Ordner mit Negativen. »Dieser Bestand ist eine komplette Dokumentation seines Schaffens, von der Jugendzeit bis zu den letzten Fotos«, erläutert Karin Reinartz. Darunter befinden sich auch unvollendete Projekte.

Zu einem Viertel fertig war etwa ein Band mit Reportagefotos aus New York, in Reinartz’ Anfangszeit entstanden, die er zu seinen besten zählte. Das schlicht Ein New Yorker betitelte Bild aus dieser Serie war das überhaupt einzige Foto von allen seinen Arbeiten, das Reinartz bei sich zu Hause an der Wand duldete. »Ich habe den Dummy dann so fertig gemacht, wie ich meine, dass er es gemacht hätte«, berichtet seine Frau: »Ich bin noch immer in einer Art Dialog mit ihm und könnte einfach so hersagen, wie er Bilder kommentieren oder anordnen würde.« Erscheinen soll der Band bei Steidl.

»So lange im Nachlass meines Mannes solche ungehobenen Schätze liegen, kann ich das Material keinesfalls weggeben, selbst wenn sich die Arbeit daran nicht mehr rechnen würde«, sagt Karin Reinartz. Und sie verkauft inzwischen auch Bilder – die Sicherung des Nachlasses macht es unabdingbar.

Die Tragweite der Aufgabe, plötzlich mit einem Nachlass umgehen zu müssen, könne er gut verstehen, meint Marco Bischof, Sohn des Fotografen und Magnum-Mitglieds Werner Bischof, der zusammen mit bekannten Kollegen in den Zeitschriften Life, Paris-Match und Du neue Maßstäbe im modernen Bildjournalismus setzte und in einer kurzen Wirkungszeit von nur 15 Jahren mit seinen Fotos weltberühmt wurde. 38-jährig verunglückte Werner Bischof 1954 bei einer Reportage in den peruanischen Anden.

Nachlass 2: Es wäre kein Problem gewesen, die Hinterlassenschaft seines Vaters an eine Institution zu geben, erläutert Marco Bischof. Durch die Prominenz der Person und die Bedeutung des Werkes wäre eine sachgerechte Erschließung gesichert gewesen. Bei der Entscheidung, den Nachlass selbst aufzuarbeiten, war auch hier die enge Verflechtung der Hinterbliebenen mit der Arbeit des Erblassers ausschlaggebend.

Sein Vater habe um die 60.000 Aufnahmen gemacht, doch sei er nicht nur begabter Fotograf, sondern auch Zeichner, Texter, Brief- und Tagebuchschreiber gewesen, berichtet Sohn Marco. Allein die Korrespondenz Bischofs mit seiner Frau Rosellina – Leiterin des Magnum-Büros in Zürich, Mitbegründerin der Schweizerischen Stiftung für Photographie und in zweiter Ehe mit Magnum-Fotograf René Burri verheiratet – würde über zwei laufende Meter umfassen. Naturgemäß sei mit diesem Material niemand so vertraut wie die eigene Familie, sagt Marco Bischof, der nach dem überraschenden Tod der Mutter die Arbeit am Werk seines Vaters weiterführte.

»Wir wollten eben nicht nur einfach Royalties abkassieren, sondern Werner Bischofs Werk lebendig erhalten, sein humanistisches Engagement weitertragen und kreativ umsetzen«, sagt der Sohn. Das ist ihm gelungen. Außer in Ausstellungen, Büchern und Filmen hat der heute 66-Jährige Bilder seines Vaters auch auf CD-ROM zugänglich gemacht und als didaktisches Material bis in den Kunstunterricht Schweizer Schulen getragen. Kein Wunder: Marco Bischof hat nicht nur die Münchner Filmhochschule absolviert, sondern auch Pädagogik und Psychologie studiert. Gerade hat er ein neues Buch herausgebracht, den opulenten Band Werner Bischof Bilder (Benteli Verlag, 79,80 Euro).

Das Werk der Bauhaus-Schülerin Elsa Thiemann wäre dagegen wohl einfach untergegangen. Die Berlinerin, Jahrgang 1910, hatte ab 1929 am Bauhaus Dessau bei Walter Peterhans gelernt und war ab 1931 als freie Fotografin und Reporterin in ihrer Heimatstadt tätig gewesen. Zusammen mit ihrem Mann, dem Maler Hans Thiemann, siedelte sie 1960 nach Hamburg über. Ihre berufliche Tätigkeit hatte sie schon vorher eingestellt, interessierte Nachkommen waren nicht vorhanden.

In diesem Fall war es die mit Thiemann befreundete Hamburger Fotografin Margot Schmidt, Angehörige einer späteren Generation, die Thiemanns Werk aus der Versenkung holen half. Die jüngere fragte nach der legendären Bauhaus-Zeit, die ältere erzählte – und holte eines Abends beim Rotwein schließlich auch Zeugnisse ihres eigenen Schaffens hervor. Es waren ein Schuhkarton mit 9×12-Glasnegativen sowie eine ganze Reihe von Vintage-Prints: Still Lifes im Stil ihres Lehrers Peterhans und Berlin-Bilder, die in flaneurhaften Aufnahmen das Leben der Stadt von den 30er bis in die 50er Jahre hinein dokumentieren.

Nachlass 3: Als Elsa Thiemann 1981 starb, übernahm Margot Schmidt die Betreuung des fotografischen Vermächtnisses. Gemessen am Volumen und Taxationswert im Vergleich zum Gesamtnachlass von Hans und Elsa Thiemann, hätte das Fotokonvolut leicht in Vergessenheit geraten können. Und ein Verkauf des kleinen Bestands hätte kaum Gewinn gebracht – »Elsa Thiemann war damals einfach zu unbekannt«, meint Margot Schmidt.

Dass inzwischen öffentliches Interesse und eine deutliche Wertsteigerung zu verzeichnen ist, hat nicht zuletzt mit Margot Schmidts privatem Engagement zu tun. 2004 hat sie Thiemanns Arbeit in einer kleinen Sonderausstellung im Berliner Bauhaus-Archiv samt Katalog (Kupfergraben Verlag, 9,90 Euro) präsentiert. »Plötzlich fragen auch Sammler nach.«

Ob Thiemanns Werk ohne ihre Initiative entdeckt worden wäre und in den Kreislauf von Kunsthandel und kulturellem Leben zurückgefunden hätte, wagt Margot Schmidt zu bezweifeln. Auch die Weitergabe an Archive oder Museen sei keine Garantie für adäquate Aufarbeitung und Vermittlung an ein interessiertes Publikum. Es wäre vorgekommen, dass öffentliche Einrichtungen Nachlässe von Fotografen »versehentlich« so unsachgemäß gelagert hätten, dass sie wegen Nässeschäden nur noch entsorgt werden konnten, kolportiert eine Fotografin.

»Bei uns gewiss nicht«, sagt Elke Schwichtenberg vom Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz (BPK) in Berlin – mit einem Bestand von rund zwölf Millionen Fotografien eine der bedeutendsten Institutionen dieser Art in Europa. Natürlich seien die Erschließungskosten bei Fotografenachlässen sehr hoch – und nicht wenige Archive hätten massive Platzprobleme. Doch sei gerade das BPK hervorragend aufgestellt, berichtet die stellvertretende Leiterin.

Obwohl öffentlich-rechtliche Einrichtung, hat das Bildarchiv nur ein einziges Mal – beim Ankauf des Nachlasses von Erich Salomon – staatliche Mittel in Anspruch nehmen müssen. Denn seit seiner Gründung – die mit dem Erwerb des riesigen »Historischen Bildarchivs Hermann Handke« zusammenfiel – wirtschaftet das Haus als Profitcenter. Seit den 70er Jahren arbeite man auch als exklusiver Vermarkter von Einrichtungen wie den Berliner Staatlichen Museen und der Hamburger Kunsthalle, berichtet Schwichtenberg. Von daher könne das Archiv weitgehend selbstständig kalkulieren, planen – und sich gezielt um Nachlässe kümmern. In diesem Jahr präsentierte das Haus etwa das 1996 erworbene Archiv des Sachfotografen Willi Moegle – Nachlass 4 (Bildband: Hatje Cantz Verlag, 39,80 Euro).

Während Kosten für die konservatorische Behandlung – das manuelle Verbringen von Negativen und Prints in säurefreie Papierhüllen und die Aufbewahrung unter Archivbedingungen – einigermaßen kalkulierbar seien, kann sich Sichtung und Recherche schlecht gepflegter, ungeordneter oder einfach nie ausgedünnter Bestände als ungeahnt schwierig und dadurch als extrem personal- und kostenintensiv erweisen. Bei einem der ersten Zugänge, dem Nachlass des verarmt verstorbenen Berliner Fotografen Friedrich Seidenstücker, hat sich die Mühe allerdings mehr als gelohnt. Zwar entpuppte sich dessen 1966 angekauftes Archiv als ein Sammelsurium kaum geordneter und beschrifteter Fotos. Aufwendige Recherchearbeiten erschlossen dann jedoch einen einzigartigen Bestand historischer Berlin-Bilder, der bis heute einen Glanzpunkt des Archivs darstellt.

Positives Gegenbeispiel sei der Nachlass zu Lebzeiten, sagt Elke Schwichtenberg. Nach dem Erwerb des Fotoarchivs von Gerhard Kiesling im Jahr 1996 – Nachlass 5 – habe man den Ost-Berliner Fotografen »in die Aufarbeitung und Erschließung der Bestände eingebunden und ihm für zwei Jahre sogar einen eigenen Arbeitsraum im Hause zur Verfügung gestellt«. Für Elke Schwichtenberg der Idealfall, der aber nicht unproblematisch ist: Ein Fotograf bewertet sein Werk unweigerlich subjektiv und wird in der Rückschau frühe Arbeiten zweifellos anders behandeln, als es eine distanziertere Person täte. Einen Nachlass wirklich angemessen aufbereiten können daher nur kultur- und fotohistorisch ausgebildete Fachleute – von denen es zweifellos mehr geben müsste…

___
Kai-Uwe Scholz
ist Redakteur in Hamburg und kümmert sich um Bereiche der Kultur jenseits des Mainstreams.