Magazin #32

Weiter, als wir sehen können

Die Fotografin Bertien van Manen stellt eines ihrer Lieblingsbücher vor: »Doroga« von Ljalja Kuznetsova

Text – Bertien van Manen
Übersetzung – Peter Lindhorst

Grobkörnige Schwarz-Weiß-Fotos schälten sich vom Papier, eine Welt, die ich so nicht kannte. Kraft und Lebenslust und tiefe Melancholie. Die Fotos von Ljalja Kuznetsova sah ich zum ersten Mal 1988 in einer Anthologie über neue sowjetische Fotografie im Buchladen des New Yorker MOMA. Im ersten Kapitel von Kuznetsovas Übersichtsmonographie »Doroga« findet sich ein charakteristisches Foto: Zirkusartisten aus der russischen Stadt Kazan. Ein Paar sitzt auf Stühlen in der Mittagssonne und raucht, er in Unterhosen, sie hat Schmuck umgelegt und ist für den kommenden Auftritt zurechtgemacht. Den Hintergrund bildet eine dunkle, absplitternde Holzwand, eine Zeltbahn, halb sichtbar, vor der ihre weißen Umrisse noch trauriger wirken.

Ljalja Kuznetsova ist beeinflusst vom italienischen Neorealismus, speziell Fellinis »Die Nächte der Cabiria«. Als sie diesen Film das erste Mal anschaute, merkte sie sofort, dass etwas Bedeutendes mit ihr geschah. Nach eigener Aussage hätte sie nicht gewusst, wie ihr Leben verlaufen wäre, hätte sie diesen Film nicht gesehen. Noch heute beschäftigt sie die Erinnerung daran. Sie erkannte sich selbst in dem Streifen. Die Italiener erfuhren dort dasselbe Leid und die gleichen Freuden wie die Menschen um sie herum in Russland und Kasachstan! Für jemanden, der zeitlebens mit einem sowjetischen Feindbild gegenüber der westlichen Welt aufgewachsen war, bedeutete dieser Film eine einzige Offenbarung.

Fotos reisender Roma aus dem Ural, aus Odessa, Kazan, Uzbekistan und Turkmenistan. Als Tatarin fühlte Kuznetsova sich den Leuten eng verbunden, verbrachte viel Zeit mit ihnen. Die daraus entstandenen Fotos sind von atemberaubender Schönheit. Anders als in vielen Fotobüchern über Roma sind ihre Bilder intensiv, aufrichtig, persönlich, nah, sehr dynamisch und räumlich.

In den Fotos von Kuznetsova findet man überall Menschen oder Körperteile von Menschen. Mal ein Arm, dann ein Kopf, von oben, unten oder von der Seite ins Bild ragend, als ob sich die Fotografin nicht mit den Grenzen des Raums abfinden könne. Einst wuchs sie in der Unendlichkeit der kasachischen Steppe auf. So sucht sie nach Freiheit und nach Weite in ihrer Fotografie, wie etwa in dem Foto, in der ein Junge auf einer Grasfläche kniet und eine Taube aufsteigen lässt. Rechts steht ein Planwagen, bereit zum weiterfahren. Links läuft ein Mann aus dem Bild. Das alles nimmt nicht mehr als ein Viertel des Bildes ein, der Rest ist Luft und Wolken, Raum, Freiheit!

Als Betrachter spürt man den Wind, die öde Weite der Steppe, man hört die Musik, die Kinder, balgende Jungen, die Frauen, die dich an sich ziehen und berühren. Ljalja Kuznetsovas Roma leben. Es sind nicht einfach nur schöne Bilder. Die Fotografin hat die Fähigkeit, Schwarz-Weiß-Bildern Farbe zu geben. Die Verspieltheit eines flatternden Schals einer Frau in einem wogenden Kornfeld, die Bewegung der Hände des schüchtern lächelnden Mädchens, daneben stehen harte Jungs. Was für eine Erotik, welch ein Gefühl für Komposition, für Licht und Schatten, für die Macht des Schwarz-Weiß!

Eines der eindrucksvollsten Fotos ist jenes von einem großen Festmahl in Uralsk. Im Vordergrund, auf der Hälfte des Bildes, stehen Dutzende von Schalen mit Äpfeln, Früchten, Gemüse, dazu werden Kuchen und Flaschen mit Wein gereicht. Eine lange Reihe von Männern mit Kopfbedeckungen und Bärten sitzen auf dem Boden. In einer Ecke befinden sich vier Jungen, die einander fest umarmen. Auf einer im Hintergrund hochkant an die Zeltwand gelehnten Matraze befindet sich eine religiöse Darstellung. Nirgendwo ist eine Frau zu entdecken.

Schließlich wird die jüngere Arbeit Kuznetsovas in dem Buch vorgestellt. Der Raum verschwindet aus ihren Bildern, der Horizont ist weg, die Spannung nimmt zu. Auch hier entsteht eine Sogwirkung. Der letzte Teil von 2008 zeigt die wenigen, verbliebenen Juden in Buchara. Nichts ist mehr von der Weite der Steppe oder der Wüste Usbekistans zu spüren. Jetzt befinden wir uns in engen Räumen und die Beklemmung nimmt zu. Die letzten Fotos – etwa eine Hand, die ein altes Familienfoto hält oder das hinter dem Flügelschlag einer weißen Taube verborgene Gesicht eines Jungen mit wilden, dunklen Augen, überirdisch, dämonisch und gleichzeitig engelhaft – bekräftigen den Gesamteindruck, den man von diesem Buch erhält: es ist von einer besonderen Fotografin gemacht, deren Blick viel weiter geht, als wir sehen können.

Ljalja Kuznetsova
Doroga

Mit einer Einleitung von Aleksander Lapin
Treemedia Books, Moskau 2010, 208 Seiten mit 89 Duotone-Tafeln, gebunden, 35 Euro
Bezug über Schilt Publishing, Amsterdam
www.schiltpublishing.com

___
Bertien van Manen

Die niederländische Fotografin hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, wie das mit Preisen überhäufte Langzeitprojekt »A hundred summers, a hundred winters«. Gerade ist das wunderbar gestaltete »Let’s sit down before we go« bei Mack Books erschienen.