Magazin #35

Was kommt jetzt?


Für ihn sei das Projekt definitiv abgeschlossen, sagt Rob Hornstra. Irgendwie habe er es inzwischen auch ein wenig satt. »Ich möchte jetzt unbedingt etwas Neues starten.« An Enthusiasmus fehlt es dem Fotografen jedenfalls nicht. Und in ein tiefes Loch ist er nach Abschluss des Langzeitprojekts auch nicht gefallen. Wenn Künstler über Jahre an einem Thema gearbeitet haben, etwa Schriftsteller an einem Roman oder Regisseure an einem Film, dann klagen sie oft über innerliche Leere. Ihnen fehlen plötzlich eine Aufgabe und ein Rhythmus, die wie zuvor ihren Tagesablauf bestimmen. Doch Rob Hornstra wirkt völlig ausgeglichen. Er scheint weder die Anspannung der letzten Monate noch den ständigen Austausch mit dem Arbeitspartner zu vermissen. Und doch kann er sich noch nicht so recht von Sotschi lösen.

Wie auch? Schließlich war das Projekt für ihn in den vergangenen drei Jahren ein Vollzeitjob, der seinen ganzen Einsatz verlangte. Denn daheim in Utrecht arbeitete Rob Hornstra ohne Backoffice und ohne ein Team von Helfern. Niemand hielt ihm den Rücken frei und niemand nahm ihm eine der vielen organisatorischen Aufgaben ab. Mit Arnold van Bruggen stemmte er alle Anforderungen so gut wie alleine: sei es die mitunter komplizierte Reiseplanung, die umfangreiche Recherche oder das ausgeklügelte Marketing. Um Assistenten einzustellen, fehlte ihnen schlichtweg das Geld. Sogar heute noch, obwohl das Projekt seit Januar endlich ein wenig Gewinn abwirft.

Auch das Merchandising hat die finanzielle Unabhängigkeit des Projekts gesichert: Dass so viele Publikationen entstehen würden, war nicht vorhersehbar.
Auch das Merchandising hat die finanzielle Unabhängigkeit des Projekts gesichert: Dass so viele Publikationen entstehen würden, war nicht vorhersehbar.

Erwartungsgemäß erreichte die Berichterstattung über »The Sochi Project« in den Wochen vor Beginn der Olympischen Spiele ihren Höhepunkt. Für einen anderen Fotografen mag die Arbeit beendet sein, wenn die Bilder geschossen sind. Für Rob Hornstra noch lange nicht. Fotografieren ist nur ein kleiner Teil seines Jobs. Wesentlich mehr Aufwand steckt in der Nachbereitung des Langzeitprojekts. Das bislang nicht ausgewertete Bildmaterial aus Sotschi spart sich Rob Hornstra zwar für die Zeit als Rentner auf. Trotzdem wird ihn Sotschi noch eine Zeit lang beschäftigen. Hornstra muss Buchbestellungen bearbeiten, er hält Vorträge, gibt Workshops und nimmt an Podiumsdiskussionen teil. Außerdem konzipiert er jede Station der Wanderausstellung neu. Allein im Mai 2014 ist »The Sochi Project« zeitgleich in Groningen, Toronto und New York zu sehen.

Jede dieser Tätigkeiten weckt zwangsläufig Erinnerungen an Interviewpartner in Sotschi und im Nordkaukasus. Die Spiele sind längst beendet, aber die Repressionen gegenüber Andersdenkenden halten an. Mehrmals sind Hornstra und van Bruggen während ihrer Recherche mit Behörden und der Polizei in Konflikt geraten. Im vergangenen Jahr verweigerte Russland ihnen schließlich die Einreise. So konnten die Journalisten während der Wettkämpfe ihre Arbeit nicht fortsetzen. Seit des Einreiseverbots halten sie den Kontakt zu ihren russischen Partnern und Freunden via Facebook und Twitter aufrecht. Nur selten erfahren sie gute Nachrichten. Vier ihrer Interview-partner wurden in der Zwischenzeit von staatlichen Sicherheitsdiensten getötet. Immer wieder fragten sich die beiden: »Haben wir die Menschen in Gefahr gebracht, mit denen wir gesprochen haben? Sind wir für den Tod dieser Menschen verantwortlich?« Rob Hornstra ist überzeugt: »Wir sind es nicht«. Die Opfer standen bereits unter Überwachung, bevor sie die Interviews führten. Es waren vor allem politische Aktivisten, die gezielt Journalisten eingeladen haben, um über die Situation vor Ort zu berichten.

Ein wenig traurig ist Rob Hornstra schon, nicht wieder nach Sotschi reisen zu können. Sollte der Einreisestop nach fünf Jahren wieder aufgehoben werden, will er der Menschen wegen zurück, die er auf seinen Reisen kennengelernt hat. »Wir fühlen uns besonders den Freunden verbunden und verpflichtet, aber auch dem Land. Dabei geht es nicht um unsere persönlichen Gefühle, sondern darum, der Welt zu zeigen, dass Wladimir Putin die Verantwortung für all das trägt, was derzeit im Nordkaukasus passiert.« In seiner Arbeit wahrt Rob Hornstra stets Distanz zum Thema. Im Gespräch aber vermag er seine persönliche Anteilnahme kaum zu verbergen.

Nicht zuletzt deshalb will sich der Fotograf in diesem Jahr erst einmal neu orientieren. Nicht etwa, dass er es eilig habe oder verzweifelt nach einem neuen Projekt suche. Nein, er möchte sich einfach eine Auszeit nehmen und nicht gleich wieder in ein Langzeitprojekt stürzen. Aktuell sei für ihn alles offen. Wenn die Bedingungen stimmen, hofft er auf ein paar Aufträge, um Geld zu verdienen. Allerdings sei er nicht bereit, jeden Job anzunehmen. Die Aufgabe müsse zu seiner Arbeitsweise passen. Als ihn ein niederländisches Großunternehmen um Aufnahmen bat, sagte er nur deshalb zu, weil er Szenen aus dem Alltagsleben fotografieren sollte. »Das ist ein Thema, an dem ich sowieso arbeite.« Kurioserweise kannte die Firma seine freien Projekte überhaupt nicht.

Intelligente Vermarktung des »Slow Journalism«: Für ihre Macher sind die Bücher eine geeignete Präsentationsform, für Buchliebhaber begehrte Sammlerstücke.
Intelligente Vermarktung des »Slow Journalism«: Für ihre Macher sind die Bücher eine geeignete Präsentationsform, für Buchliebhaber begehrte Sammlerstücke.

Es klingt paradox, aber trotz des großen Erfolgs von »The Sochi Project« wird Rob Hornstra nicht mit Aufträgen überschüttet. Anscheinend ist es lediglich einigen wenigen Modefotografen vergönnt, gleichermaßen mit kommerziellen Auftragsarbeiten wie mit freien Projekten erfolgreich zu sein. Wie auch immer, sollte Hornstra keinen für ihn annehmbaren Fotoauftrag erhalten, hilft er vielleicht wie früher am Kneipentresen aus. »Die Arbeit eines Barkeepers hat für mich wesentlich mehr mit der Tätigkeit eines Dokumentarfotografen zu tun als irgendein kommerzieller Auftrag.«

Nun ist es nicht so, dass es sich Rob Hornstra finanziell erlauben könnte, leichtfertig auf lukrative Angebote zu verzichten. An »The Sochi Projekt« verdienen er und Arnold Bruggen kaum etwas. Alle Einnahmen in Form von Verkaufserlösen, Ausstellungseinnahmen, Subventionen und Spenden fließen in die von ihnen gegründete Stiftung Traktor. Was an Plus reinkommt, wird für zukünftige Projekte gespart. Nur dank der steuergünstigen Stiftungsform war es überhaupt möglich, genügend Gelder für die Arbeit an Sotschi einzuwerben. Kaum einem anderen Fotoprojekt gelang es so gut, über einen derart langen Zeitraum laufend neue Unterstützer zu gewinnen. Zum gelungenen Marketing zählte neben einer Crowdfunding-Kampagne auch eine bis dato beispiellose Informationsoffensive auf diversen Social-Media-Kanälen. Einige Spender haben bereits zugesagt, auch die kommenden Vorhaben des Duos zu fördern.

Hornstra weiß um die Gefahr einer erfolgreichen Masche

 

Ursprünglich war »The Sochi Project« weniger groß angelegt. Erst allmählich entpuppte es sich als Langzeitprojekt. Im Vorhinein weiß Rob Hornstra nie, wie sich die Dinge entwickeln. Er will es wohl auch nicht. Bevor er sich diesmal einem neuen Thema zuwendet, möchte er die bisherige Arbeit gründlich überdenken. Denn inzwischen besitzen seine Bilder einen unverwechselbaren Stil. Er könnte also durchaus in den Sudan fliegen und genauso weitermachen wie bisher. Doch so einfach mag es sich der Fotograf nicht machen. Rob Hornstra ist sich der Gefahr einer erfolgreichen Masche bewusst. Noch hat er keine Ahnung, wie er Wiederholung vermeiden könnte. Nur eines ist für ihn sicher: Er will weiterhin an Langzeitprojekten arbeiten.

Die heute übliche Echtzeit-Berichterstattung wäre für den Fotografen jedenfalls undenkbar. Er selbst bezeichnet seine Arbeitspraxis als »langsamen Journalismus«. Bisher dauerten seine Projekte jeweils etwa zwei Jahre. Um Dinge zu verstehen oder etwas Neues zu entwickeln, benötige er nun mal viel Zeit. Und obschon er sein letztes Foto vor über sieben Monaten aufnahm, vermisst er seine Kamera nicht. Tägliches Fotografieren gehört nicht zu Rob Hornstras Selbstverständnis als Fotograf.

Derweil ist sein Partner Arnold van Bruggen schon wieder mit zwei, drei neuen Projekten beschäftigt. Dass die beiden zukünftig wieder zusammen arbeiten wollen, ist beschlossene Sache. Es könnte um Slums in aller Welt gehen. Aber zuviel mag Hornstra noch nicht verraten. Mit Arnold van Bruggen tauscht er sich auch weiterhin aus. Nur nicht mehr täglich. Eine Zeitlang sah er den Kollegen häufiger als die eigene Freundin. Daher sei es gut, ein wenig mehr Abstand zu gewinnen.

Stattdessen verbringt Rob Hornstra wieder mehr in seinem Atelier im Arbeiterviertel Ondiep. In Utrecht ist die Gegend als sozialer Brennpunkt bekannt. 2004 startete der Fotograf dort das Projekt Willem & Kid, für das er zwei seiner Nachbarn porträtierte. Der ältere Mann ist inzwischen weggezogen, der jüngere, ein Junkie, verstorben. Rob Hornstra möchte die Arbeit dennoch fortsetzen und nun die Familien der beiden aufnehmen. Wenn es klappt, könnte er in diesem Jahr ein weiteres Langzeitprojekt abschließen.


Markus Weckesser
lebt als freier Kulturjournalist in Essen. Sein thematischer Schwerpunkt liegt auf künstlerischer Fotografie.