Magazin #20

Was bleibt?

Papyrus und tönerne Keilschrifttafeln überdauerten Jahrtausende. Doch die nachfolgen den Medien haben immer kürzere Halbwertzeiten. Wie lange werden die digitalen Text- und Bilddatensätze unserer Tage überdauern? Die Frage nach der Notwendigkeit des Sammelns und Bewahrens analoger Fotografien stellt sich neu – welche Antworten gibt es?

Text – Enno Kaufhold

Ihre Fotografien hängen in zahlreichen internationalen Museen und Ausstellungen, und sie wurden und werden mit Preisen geehrt. Die Rede ist von Hilla und Bernd Becher, die seit vier Jahrzehnten in Europa und in den USA systematisch Industriebauten und -anlagen mit ihren baulichen Ausprägungen, ihren Varianten, ihren Mustern und Typologien fotografieren. Ihre markanten Bilder vergangener wie gegenwärtiger Industrialisierung sind inzwischen selbst zu Kulturgütern geworden. Die hohe Akzeptanz ihrer Arbeit macht leicht vergessen, dass es weit mehr fotografische Bilder mit weit mehr Facetten der jüngeren Vergangenheit gibt, die jedoch weniger beachtet werden – die es aber ebenso zu sammeln und zu bewahren gilt.

Damit soll nicht dem privaten Sammeln das Wort geredet werden, so konsequent oder gar obsessiv es auch betrieben wird, und es geht auch nicht um die kommerziellen Fotoarchive mit ihren speziellen Anforderungen. Die Rede soll sein vom Sammeln und den Sammlungen im öffentlichen Kontext. Denn für ein Sozialwesen geht es um andere, höher anzusiedelnde Belange – nämlich die des sozialen Erinnerns und des kollektiven Gedächtnisses. Anders formuliert: Inwieweit sollte und muss sich eine Gesellschaft, wie die unsere in der Kulturregion Mitteleuropa, für das Sammeln und Bewahren von Fotografien engagieren und tätig werden?

Gerade einmal seit fünf Generationen menschlicher Population existent, scheint bereits in Vergessenheit zu geraten, in welchem Maße gerade Fotografien konstitutiv mit der Entfaltung bürgerlicher Kultur in Verbindung stehen und damit der Kultur, die nach wie vor unseren Alltag prägt. Denn all das, was wir heute an massenwirksamen zivilisatorischen Erscheinungen antreffen, konnte nur in Verbindung mit diesem ersten technisch gegründeten Bildmedium realisiert werden. Es bedeutet insofern mehr als nur eine zufällige zeitliche Parallele, wenn die Verdrängung feudaler durch bürgerliche Gesellschafts- und Produktionsformen – Stichwort Industrialisierung – genau in den Jahren Fortschritte machte, als die Fotografie etabliert wurde.

Die nach 1839 anhebende Entwicklung fotografischer Techniken fiel folglich nicht zufällig – nur dieser Gedanke soll hier etwas detaillierter ausgeführt werden – zeitlich mit dem Bau der ersten Eisenbahnen und Nähmaschinen zusammen. Als um 1860 auf der Grundlage des nassen Kollodiumverfahrens die Cartes-de-Visite als Ausdruck gesellschaftlichen Repräsentierens in groß aufgelegten und motivisch standardisierten Serien aufkamen, erfolgte dank der technisch verbesserten Nähmaschinen parallel die Umstellung der bislang manuellen Bekleidungsproduktion auf konfektionierte und damit seriell hergestellte Kleidungen. Dieses Ineinandergreifen technischer und sozialer Abläufe bedurfte, wie hier exemplarisch deutlich wird, eines effizienten visuellen Mediums, und es war bei steigendem numerischen wie qualitativen Bedarf vornehmlich die Fotografie, die diese Transfers quantitativ wie qualitativ leistete.

Mit dem Sammeln von Fotografien hat das insofern unmittelbar zu tun, als Fotografien ungeachtet der weiter manuell geschaffenen Bilder ebenso wie der weiter angehäuften Schriftmaterialien unmittelbar über die Konstituierung der bürgerlichen Gesellschaft in allen Details der Alltagskultur Aufschluss geben. Sie zählen folglich zu unseren wichtigsten historischen Quellen. Das bedeutet allerdings nicht, dass alle Fotografien um ihrer selbst Willen gesammelt werden müssen. Wer käme auf die Idee, alles beschriebene oder alles bedruckte Papier aufzuheben?

Folglich ist eine Auswahl unabdingbar – eine Auswahl, die sich als Resultat eines öffentlichen Diskurses auf bestimmte Überlegungen und Kriterien gründet. Dieser Diskurs ist bislang kaum – und wenn, dann eher in engeren Fachkreisen – geführt worden.

Was die praktisch anzuwendenden Kriterien der Bewertung betrifft, so lassen sich für die Klassifizierung einzelner Fotografien wie geschlossener Konvolute folgende Merkmale skizzieren: Die Differenzierung sollte bei den Bildautoren beginnen, ungeachtet der in den bislang vorliegenden fotohistorischen Publikationen zu beklagenden Lücken. Denn die Wertschätzungen der einzelnen Bildautoren bemessen sich – hierarchisch abgestuft – daran, ob sie international, national, regional oder aber nur individuell bekannt sind. Danach ist ein im entscheidenden Augenblick von einem namenlosen Fotografen aufgenommenes Bild von weit geringerer Bedeutung als eine Fotografie von Henri Cartier-Bresson.

Dann ist eine Unterscheidung hinsichtlich der physischen Beschaffenheit der Fotografien zu treffen, die gerade bei älteren Papieren erheblich schwankt. Damit verbindet sich die Frage nach dem verwendeten Bildmaterial, ob es sich – wiederum hierarchisch gestaffelt – um seltene alte Salzpapiere, dem Unikat gleichkommende Edeldrucke, um Vintageabzüge oder moderne Prints handelt ober aber um vervielfältigte Drucke wie beispielsweise Photogravüren oder sogar nur um Reproduktionen.

Ferner macht es einen Unterschied, ob die Fotografien nur als Einzelstücke oder aber in Massenauflagen existieren, ob es sich um alte, aus der Frühgeschichte des Mediums stammende oder neuere Arbeiten handelt, ob das betreffende Bild nachweislich in Ausstellungen gezeigt und/oder in Büchern und Zeitschriften abgedruckt und damit für den öffentlichen Diskurs relevant geworden ist.

Des weiteren ist dem fotohistorischen, kunstgeschichtlichen und allgemeinen kulturgeschichtlichen Kontext Rechnung zu tragen. So haben – um wiederum nur ein Beispiel zu nehmen – die systematisch erfassten Industriebauten der Bechers ihren ästhetisch-künstlerischen Wert; neben diesem kommt aber noch derjenige fachspezifischer Natur ins Spiel. So geben diese Fotografien den Ingenieuren der Eisenverhüttung, der Wasserwerk- oder der Gastechnologie ebenso wie den Architekten Aufschluss über frühere Produktions- und Konstruktionsformen. Mit diesen fachlichen Betrachtungen verbinden sich die unterschiedlichsten ökonomischen, sozialen und politischen Komponenten. In all diesen Zusammenhängen können einzelne Fotografien bereits Gegenstand wissenschaftlicher Abhandlungen gewesen sein, oder aber als solche in absehbarer Zukunft in Frage kommen.

Schließlich spielt als wesentliches Kriterium die fotoästhetische Qualität eine Rolle und damit eine Größe, die sich aus dem Vergleich mit zeitgleichen anderen Fotografien sowie der Vor- und Nachgeschichte ermisst und sowohl den Zeitstil als auch die maßgebend vom Bildautor stammende Handschrift erkennen lässt.

Zu all diesen Kriterien gibt es selbstredend die Ausnahmen: Existiert von einer Naturkatastrophe nur eine einzige Fotografie, so hat sie in jedem Fall ihren Wert – egal, wie sie aufgenommen wurde und in welchem physischen Zustand sie sich befindet. Gibt es von einem namhaften Bildautor von einem Motiv nur einen oder wenige Abzüge in schlechtem Zustand, dann ist auch darüber hinwegzusehen. Und schließlich kann bei all dem nicht ausgeschlossen werden, dass wir auch in Zukunft auf Fotografen stoßen werden, die zu ihren Lebzeiten weder publiziert noch irgend einen Bekanntheitsgrad als Fotograf erlangt haben, die sich aus heutiger Sicht aber als überragend erweisen. Bestes Beispiel ist Heinrich Zille, dessen moderne Fotografien erst vier Jahrzehnte nach seinem Tod öffentlich wurden und erst heute nach und nach ihre Würdigung finden.

In diesem Gespinnst von Kriterien, die als Vektoren mit unterschiedlichen, von Fotografie zu Fotografie wechselnden Kräften beschrieben werden können, lässt sich hinsichtlich der Gesamtbewertung ein Fazit ziehen.

Das Erkennen all dieser Merkmale – gängige Etikettierungen wie »Dokument« oder »Kunst« verlieren dabei ihre Bedeutung – setzt Kenntnisse der speziellen Foto- wie der allgemeinen Kulturgeschichte voraus, und Kultur ist hier im breitesten Sinn zu verstehen. Das sind Kenntnisse, die ihrerseits von historischen Veränderungen, innergesellschaftlichen Kontroversen und individuellen Ansichten und Erfahrungen abhängen.

Dennoch führt am Auswählen kein Weg vorbei, eingedenk des Wissens, dass jede Gesellschaft, die das »Auswählen« nicht allein den Kriegen, Bränden und Wasserfluten überlässt, unausweichlich Gefahr läuft, sich in den Augen der Nachgeborenen – die mit wiederum anderen Fragestellungen auf die Fotografien blickt– zu blamieren. Das gilt gleichermaßen für Individuen. Da die meisten öffentlichen Sammlungen und Archive auf die Sammelleidenschaften unserer Urgroß-, Groß- und Elterngeneration zurückgehen, großteils mit enzyklopädischem Anspruch und akademisch verankert, bedeutet das weniger, was zukünftig gesammelt werden soll, sondern wie die vorhandenen riesigen Bestände mit hunderttausenden Fotografien jetzt behandelt werden müssen. Denn angesichts der generell zu beobachtenden Missachtung des Gesamtproblems – gepaart mit den allerorten knapper werdenden Geldern für öffentliche Aufgaben – erscheint es aussichtslos, dass zukünftig alle Fotografien ungeachtet ihres jeweiligen Einzelwertes mit der gleichen Sorgfalt archivalisch wie konservatorisch versorgt werden. Die digitalen Archivierungsmethoden bieten da, um das nur kurz anzudeuten, aufgrund ihrer geringen Halbwertzeiten und der nicht geringeren Kosten keine Perspektive.

Insofern geht es zunächst um Minimalforderungen, damit wenigstes die erhaltenswerten Stücke besser versorgt werden. Schließlich steht mehr auf dem Spiel als nur der physische Erhalt von einigen Fotopapieren. Wir sind im Begriff, wachen Sinnes zuzusehen, wie unersetzbare Quellenbilder unserer Vergangenheit verschwinden. Das bedeutet nicht allein den Verlust eben dieser Vergangenheit, sondern – schlimmer noch – den unserer Zukunft.

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Enno Kaufhold
arbeitet als freier Fotohistoriker und Publizist sowie als Lehrbeauftragter an der Fachhochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin. Er betreute im Jahr 2000 die Sichtung der fotografischen Sammlungen in den Museen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz.