Magazin #27

Unbekannte Flugobjekte

Sechs Uhr morgens in Frankreich, Landung in Rouen im Supermarkt. Die Frisur hält. Braucht Supermann neues Shampoo? Nein. Der Überflieger ist ein Modell von Denis Darzacq, der seine »Objekte« im Flug einfriert – nur mit der Kamera.

Text – Claudia Zels

Ein Augenblick, ein winziger Augenblick, der eingefangen und verewigt wird – das macht Fotografie aus. Sie gestattet uns, diesen Moment nun so lange zu betrachten wie wir wollen, obgleich er in der Realität nur einen Bruchteil einer Sekunde gedauert hat. Der französische Fotograf Denis Darzacq nutzt die Kürze dieses Moments auf faszinierende Art und Weise. Er vermittelt ein Gefühl, als müsse man vor Schreck einatmen, und lässt uns mit verwunderten Augen verstehen, wieviel Glück, Arbeit und Zufall es braucht, genau diesen Augenblick einzufangen.

Die Serie »Hyper« (Supermarkt) entstand kurz nach der Aufsehen erregenden Serie »La Chute« (Der Fall), in der Denis Darzacq Breakdancer aus Pariser Vororten in die Luft springen ließ und ihre Körper in ähnlich erstaunlichen Positionen kurz vor dem Fall fotografierte. »La Chute« fand große Beachtung, da sie als Metapher für eine im freien Fall befindliche Generation interpretiert werden kann.

»Hyper« wurde im Auftrag der Stadt Rouen (Normandie) fotografiert. Die Idee des Projekts war, Jugendliche in und um Rouen in ihrem sozialen Umfeld zu zeigen. Denis Darzacq bemühte sich bei verschiedenen Supermärkten am Stadtrand von Rouen um die Genehmigung, zu fotografieren. Diese Supermärkte hatten oft recht agressive Namen, wie Attac, oder King Kong. In Sport- und Tanzklubs der Stadt überzeugte er ein Dutzend junger Leute, für ihn Modell zu stehen oder besser »zu springen«. Die Shootings fanden in aller Herrgottsfrühe um 5.30 Uhr in den Gängen der Supermärkte statt, bevor die ersten Kunden auftauchten.

Denis Darzacq dirigierte die jungen Leute auf besondere Weise, um den Bildern zwei Atribute zu verleihen: fallende oder schwebende Menschen, ähnlich wie in der Serie »La Chute«. Zudem versuchte er, gewisse Merkmale des manieristischen Stils der italienischen Maler des 16. Jahrhunderts nachzuempfinden. Seine Modelle fügten aus eigener Initiative eine dritte Kategorie hinzu – ähnlich wie in Comics scheinen ihre Körper auf Schläge oder Zusammenstöße zu reagieren.

Denis Darzacq ist 47 Jahre alt und lebt in Paris. Er ist Mitglied der Agentur VU in Paris und wird regelmäßig in Frankreich und vielen anderen Ländern ausgestellt. Während seiner Laufbahn wandte er sich mehr und mehr der zeitgenössischen Kunst zu, und bewegt sich heute auf dem feinen Grat zwischen Kunst- und Reportagefotografie – mit großem Erfolg.

Seine Arbeiten der letzten Jahre sind stets Serien, oft Installationen. Sie bestehen ausschließlich aus sehr realistisch gehaltenen Farbfotografien. Keiner der erstaunlichen Effekte wurde mit Programmen wie Photoshop herbeigezaubert. Denis Darzacq fühlt sich von der Wechselwirkung zwischen Mensch und Urbanismus angezogen und analysiert sehr feinfühlig das soziale Umfeld, in dem wir leben. Menschen leben häufig in Städten. Städte wurden von Menschen geschaffen. Denis Darzacq beobachtet Bewegung der Körper in der Stadt, erfasst Spannungspunkte und Gleichgewichte, soziale Stereotypen, Standardisierungen, und stellt sie in Gegensatz zu Individualität, schöpferischer Energie, Streben nach Ausgelassenheit und Entfaltung.

Wie gliedern sich unsere Körper durch ihre Bewegungen und Haltungen in das soziale Umfeld ein? Wie tragen sie zur Zusammensetzung unseres Umfelds bei? Wie formt die Gesellschaft, in der wir leben, unsere Körper? Mit ihrem fast surrealistischen Aspekt führt uns die Fotoserie »Hyper« diese Fragen vor unsere erstaunten Augen.

In dieser neuesten Serie konfrontiert uns Denis Darzacq mit vom Boden abgehobenen jungen Menschen in einem extrem geordneten, geometrischen, überladenen und fast kitschigen Umfeld, dem Supermarkt. Diese Konsumtempel vermitteln ja eigentlich ein eher stressendes Gefühl, statt Lust auf Kreativität, Selbstverwirklichung, Ausflucht. Heutzutage werden Menschen leider eher danach bewertet, was sie haben, als danach, was sie tun und sind. Wie in seinen früheren Arbeiten interessiert sich der Fotograf für eine soziale Spannungszone, in der gesellschaftlicher Konformismus und Sehnsüchte des Individuums aufeinandertreffen. Die eigenartigen, mysteriösen Fotos provozieren Gedanken an Träume, an »aus dem Rahmen ausbrechen« wollen, Neues ausprobieren. Jemand scheint über Tapeten zu fliegen, ein anderer schwebt schlafend über dem Regal mit Tiefgefrorenem. Wieder ein anderer hebt inmitten von Plastikeimern ab einem unsichtbaren Horizont entgegen.

»Hyper« ist vom 3. Oktober bis 22. November 2008 in einer Ausstellung im Pavillon Carré de Baudoin, 119–121 rue Ménilmontant, 75020 Paris, zu sehen. Dort wird eine umfassende Retrospektive zu den Arbeiten von Denis Darzacq gezeigt, wo man die hervorragenden Serien »Ensembles«, »Bobigny Centre Ville«, »Nu«, »La Chute« wiedersehen kann. Die Serie »Hyper« wird hier zum ersten Mal in Frankreich ausgestellt.

Antoine de Saint Exupéry schrieb einst: »Wir haben die Welt von heute nicht von unseren Ahnen geerbt, sondern von unseren Kindern geborgt.« Dieses kostbare Gut zu verwalten, ist unsere Lebensaufgabe. Ein Menschenleben ist zeitlich begrenzt. Es ist wichtig, ab und an Abstand zu nehmen, zu hinterfragen, Position zu beziehen. Kunstwerke wie »Hyper« helfen uns dabei. Jeder Moment ist kostbar.

Denis Darzacq
1961 in Paris geboren, absolvierte er 1986 die Kunsthochschule ENSAD und arbeitete seitdem als Fotograf in verschiedenen Bereichen, meist Presse, Musik und Film. Ab 1994 begann er seine Arbeiten auszustellen. Das französische Kulturministerium gab ihm 1999 eine Arbeit mit Jugendlichen in Auftrag, wodurch er gezwungen war, sich mit dieser Thematik intensiv auseinanderzusetzen. Denis Darzacq wurde im Jahr 2000 der Altadis-Preis verliehen, er stellte 2005 auf dem Fotofestival Rencontres d’Arles aus, und erhielt 2007 den hochangesehenen World Press Award der Kategorie Stories.

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Claudia Zels
arbeitet als stellvertretende Fotochefin bei Prisma Presse in Paris und ist Vize-Präsidentin des französischen Bildredakteurverbandes ANI.