Magazin #17

Spätes Debüt

Manche Fotos kollidieren mit politischen Machtverhältnissen und verschwinden deshalb in der Versenkung. Hinweise auf ein Buch mit ungewöhnlicher Geschichte.

Text – Christoph Moderegger

»Berlin ist keine Situation mehr!« Mit diesen Worten beendete 1961 ein staatliches Kommissionsmitglied auf der Leipziger Herbstmesse das Buchprojekt Situation Berlin. Die Mauer war errichtet, und jetzt sollten die Ostberliner Bürger die Existenz Westberlins vergessen. Hans Egloff – der Leiter des Verlags Edition Leipzig – hatte seinen Messestand komplett mit Fotografien von Arno Fischer dekoriert, um für das kurz vor dem Druck stehende Buch Situation Berlin zu werben; nun verschwanden Klebeentwurf und bereits produzierte Klischees in irgendwelchen Schubladen. Doch die Schwarzweiß-Aufnahmen des nicht erscheinenden Buches blieben auf eigenartige Weise präsent; sie stellen eine wichtige Etappe der Fotogeschichte der DDR dar.

40 Jahre später liegt nun ein Buch mit dem Titel Situation Berlin vor. Der Untertitel »Fotografien 1953 – 1960« macht jedoch deutlich, dass es diesmal nicht um die gegenwärtige Lage der Stadt, sondern um eine Retrospektive geht. Auf den ersten Blick ist der Band von Arno Fischer ein klassisches Fotobuch mit einer kurzen Einleitung zu den historischen Hintergründen und dem Fotografen, gefolgt von ausführlichem Bildteil, Biografie des Fotografen, Verzeichnis der Ausstellungen und Sammlungen mit Bildern Fischers sowie einer Bibliografie.

Auf den zweiten Blick jedoch bekommt das Buch andere Dimensionen. Es ist ein Zeitzeugnis, eine Monografie; es ist ein aktuelles Buch, ein Bilderlesebuch. Anstatt eines Vorwortes ist eine aus zwei Einzelaufnahmen zusammengesetzte Panoramafotografie abgebildet: 1956, eine weite leere Fläche in Berlin Kreuzberg, eingerahmt von Brandmauern. Zwei Menschen bewegen sich auf dem Bild und zwei Autos. Andere Autos sind auf einem sandigen Platz abgestellt. Im Zentrum des Fotos stehen niedrige Sträucher, dahinter Baracken, und ganz im Dunst der Ferne ist eine weitere Häuserzeile nur schwach zu erkennen. Es ist sonnig und trocken, ein fahrender Wagen zieht eine leichte Staubfahne hinter sich her. Eine Frau geht aus der unteren rechten Ecke hinein in das Bild.

So weit der Einstieg in das Buch. Der folgende Text ist zweisprachig, jeweils links in Englisch, rechts auf Deutsch. Der Fotohistoriker Ulrich Domröse berichtet von dem jungen Kunststudenten Arno Fischer, der eine fünfjährige Ausbildung als Bildhauer absolvierte und nebenbei die Fotografie für sich entdeckte. Er erzählt, wie Fischer als »Wanderer zwischen den Welten« – oder anders gesagt: zwischen Berlin West und Berlin Ost – das Leben der Menschen auf den Straßen, Plätzen und bei Versammlungen ablichtete. Er war auf der Suche nach dieser besonderen Spannung, die das noch nicht geteilte, aber schon auseinandergelebte Berlin vor dem Bau der Mauer prägte.

Domröse beschreibt, wie Fischer Schritt für Schritt von den Möglichkeiten der Fotografie gepackt wurde und sich ihr ganz zuwandte. 1955 wurde der Besuch von Edward Steichens Ausstellung The Family of Man zum besonders einschneidenden Erlebnis; auch die Filme des späteren italienischen Neorealismus beeindruckten Fischer. Regelrecht wesensverwandt fühlte er sich dem Fotografen Robert Frank und dessen Arbeit Les Américains. Arno Fischer hatte durch Zufall ein paar Fotografien Franks im U.S. Camera Annual entdeckt und sich sofort das 1958 zunächst nur in Frankreich erschienene Buch besorgt. Die kritische Sicht auf das, was nach außen so strahlend war, der Blick auf die im Inneren vereinsamten Menschen und das Aufdecken von Widersprüchen zwischen Arm und Reich, Oben und Unten spornten ihn an, seine Arbeit in Berlin fortzuführen.

Die Früchte dieses Berlin-Projekts sind im Bildteil zu sehen. Hier liegt das besonders Schöne an diesem neuen alten Buch: Es ist der liebevoll nüchterne Umgang mit den Fotografien. Ganz in der Manier der »straight photography« sind Fischers Aufnahmen nicht beschnitten, also so formatfüllend wiedergegeben, wie er sie durch seinen Sucher gesehen hat. Es sind schwarzweiße Quer- und Hochformate im Seitenverhältnis 2 : 3, sie sind alle gleich groß und mittig auf den Seiten angeordnet. Der weiße Rand hat genau die richtige Breite, um die Fotos wirken zu lassen. Es gibt keine Bildunterschriften, nur kleine, grau gedruckte Seitenzahlen; nichts stört bei der Betrachtung. Durch die gefühlvolle, nicht chronologische Gegenüberstellungen und die rhythmisierenden Einzelabbildungen – in unregelmäßigen Abständen bleibt eine Seite frei – erhält jeder Betrachter die Möglichkeit, das Eigene, Typische an den Fotografien Arno Fischers zu entdecken und sich in die damalige Situation einzudenken.

Bei jedem Foto fragt man sich unweigerlich: Ist das jetzt Berlin Ost oder Berlin West? Man spürt die besondere Situation der Stadt zwischen den Machtblöcken, bevor sich der Eiserne Vorhang schloss. In den Gesichtern der Menschen sieht man ihre Sorgen und weniger ihre Hoffnungen. Der vergangene heiße und der gegenwärtigen kalte Krieg sprechen aus diesen Bildern. Formal erkennt man – speziell in den Aufnahmen der Menschen – das durch die Bildhauerei besonders für die Komposition von Personengruppen geschulte Auge des damals jungen Fotografen.

Die Bildlegenden sind sehr knapp, aber ausreichend. Der Leser findet sie hinten im Buch, doch sie sind nicht der Schlüssel zu den Fotografien – der liegt in den Bildern selbst und im Text des Autors Domröse, der auch für die Auswahl verantwortlich zeichnet. Er ist seit 1991 Kurator der Photographischen Sammlung der Berlinischen Galerie und seit vielen Jahren ein besonderes guter Kenner der DDR-Fotografie.

Zum besseren Verständnis der Fotografien erhellt Domröse in seinem Text – einem Blitzlicht gleich – die wirtschaftlichen und politischen Hintergründe Berlins und erzählt die Entstehungsgeschichte des nicht erschienenen Buches. Leider sind nur zwei Seiten des ursprünglichen Klebeentwurfs in sehr kleinen Reproduktionen abgebildet worden sind. Es wäre sehr spannend gewesen, dieses Layout einmal ganz zu sehen, um mehr als einen flüchtigen Eindruck davon zu bekommen, wie diese nicht einfachen und nicht plakativen Fotografien in ihrem historischen Umfeld präsentiert und verstanden werden sollten.

Das Buch erscheint nun zu einem Zeitpunkt, da Berlin wieder eine »Situation« darstellt, Ost und West nicht mehr durch eine sichtbare Grenze getrennt sind. Heute besteht die Aufgabe nicht darin, sich zu teilen, sondern zusammenzuwachsen. So ist der Band für alle jene besonders interessant, die verstehen wollen, wie und warum Berlin damals zu Ost- und West-Berlin wurde und heute so schwer eins wird.

Arno Fischer zählt zu den wichtigsten Fotografen der ehemaligen DDR, und viele Generationen von Fotografinnen und Fotografen – sowohl noch in der DDR als auch jetzt im größer gewordenen Deutschland – verdanken ihm eine fundierte Ausbildung. Mit diesem Buch wird somit ein wichtiger Baustein für die deutsche Fotogeschichte geliefert.

Arno Fischer
Situation Berlin. Hrsg. von Ulrich Domröse 92 Schwarzweiß-Abbildungen.
Berlin: Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlinische Galerie/Landesmuseum für Moderne Kunst, Photographie und Architektur 2001.
29,90 Euro

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Christoph Moderegger
Lehrer für Kommunikation, Fotogeschichte und Gestaltung an der Landesberufsschule Foto und Medien Schleswig-Holstein in Kiel.