Land der Belanglosigkeit
Editorial – Manfred Scharnberg
Deutschland ist stinklangweilig. Geradezu belanglos. Den Eindruck hat man zumindest, wenn man in unsere Printmedien schaut. Da müssen schon ein paar Prominente her, um dem Ganzen den Drive und einen gewissen Glanz zu geben. Dazu einige kluge Worte von Fachleuten, ein paar Einkaufstipps, die Versprechen der Politiker – natürlich kritisch kommentiert. Fertig ist das Blatt. Aber sonst scheint das Land journalistisch leergefegt, ausgequetscht.
Dabei findet hier und heute ein in der Bundesrepublik beispielloser Umverteilungsprozess statt, mit Verlierern und Gewinnern. Doch die Branche bleibt ausdruckslos. Das Drama des Lebens findet vor unseren Augen statt, und keiner schaut hin. Niemand lässt uns, werden einige jetzt entgegnen und meinen die Entscheider bei den Medien – die anderen. Dabei sollten wir Fotografen uns einmal an die eigene Nase fassen.
Ein Blick in die Bildarchive wirkt erhellend. Nehmen wir das Thema Kinderarmut: Getty, einer der Branchenführer, wirft bei dem Stichwort gerade einmal 31 Fundstellen aus: Inszenierte Details oder Fotos aus Entwicklungsländern. Aber auch von freien Fotografen bestückte Archive bleiben bei dem Thema seltsam blass. Inszenierte Fotos von traurig dreinblickenden Kindermodels, wahlweise mit Sparschwein oder dünner Suppe. Der beste Ansatz sind dokumentarische Bilder bei der Essenausgabe einer sozialen Einrichtung. Einer der wenigen Lichtblicke, ist die wunderbar fotografierte Serie von Anne Schönharting, aus der wir hier ein Foto abdrucken. Sie hat sich auf das Thema, auf die Menschen, eingelassen.
Fotografen, Redaktionen, Leser – will das wahre Leben keiner mehr sehen? Niemandem soll das soziale Gewissen abgesprochen werden. Wenn man auf die Homepages freier Fotografen schaut, begegnen einem unzählige gute – und gut fotografierte – Themen, die ein Mitgefühl für das Schicksal von Menschen dokumentieren. Eindrucksvolle Bilder von Gewalt, Krieg, Armut und Elend existieren hier weitaus häufiger als in unseren Medien.
Sucht man aber nach guten Sozialreportagen aus Deutschland, wird die Luft ziemlich dünn. Natürlich ist der Blick in die Dritte Welt dringend nötig, um uns immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurück zu holen. Aber sind wir denn blind geworden für das Geschehen vor unserer eigenen Haustür?
Sicherlich fehlt den Bildern, die man hier machen kann, die Dramatik eines Krisengebietes. Klar, muss man als Fotograf heute international denken. Und der heimatliche Alltag lässt sich weniger spektakulär abbilden als in einem exotischen Umfeld. Die spannende Geschichte im Alltag zu finden, ist ein schwieriges Unterfangen. Doch seit wann scheitern Fotografen, die im Kugelhagel überleben, an einer Reportage über Kinderarmut in Deutschland?
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FREELENS Magazin Chefredakteur Manfred Scharnberg gehört zu den Gründungsmitgliedern des Fotografenverbandes.