Gut Ding will Weile haben
Journalistischer Fotografie wird immer weniger Zeit eingeräumt. Die Redaktionen setzen enge Limits. Warum kann man eine gute Fotostrecke nicht auch in einer Woche hin bekommen? Das kann nur fragen, wer Fotografie als Abklatsch gängiger Klischees betrachtet. Eine kleine Argumentationshilfe.
Text – Rolf Nobel
Fotos – Gerd Ludwig
»Der Weise kennt keine Hast, und der Hastende ist nicht weise.« – »Wer schnell geht, bekommt die Antilope nicht zu Gesicht.« Bantu und Philosophen eint die gemeinsame Weisheit: Willst du etwas gut machen, brauchst du dafür Zeit.
Das gilt auch für die Fotografie. Denn Fotos sind komplexe Produkte, deren Qualität von verschiedenen Faktoren abhängt: Die Interaktion der Menschen . Der richtige Augenblick. Das Licht. Die Perspektive. Der Ausschnitt. Es bedarf keiner großen Vorstellungskraft einzusehen, dass sich die gewünschte Verdichtung eines Motivs nicht zufällig in einem Sucher einstellt, sondern dass man dafür häufiger als gewünscht lange Zeit arbeiten und warten muss. Und um wie viel aufwendiger ist es, wenn man mehrere Fotos für eine schwierige Geschichte fotografieren muss?
Um deren Bilder zu finden, bedarf es des zweiten Blicks. Wir Fotojournalisten müssen einfach genauer hinsehen, um das zu finden, was man gemeinhin nicht sieht, das, was hinter den Kulissen oder unter der Oberfläche liegt. Das ist umso wichtiger, je mehr man von der Auffassung gelenkt wird, dass dem Journalismus als vierte Macht im Lande eine wichtige Kontrollfunktion zukommt.
Das genaue Hinsehen ist aber nicht nur eine Frage der eigenen Sehschärfe. Eine gute Brille allein hilft da wenig. Genaues Hinsehen ist auch eine Frage von Wissen und Suchen. Denn nur wer im Thema ist, kann auch geeignete Situationen oder richtige Schauplätze erkennen. Die findet man selten im Vorbeigehen. Das gilt umso mehr, je komplexer ein Thema ist.
Es wird im Fotojournalismus oft und gern ein Satz von Robert Capa zitiert, der leider meist falsch gedeutet wird. »Wenn dein Bild schlecht ist, dann warst Du nicht nah genug dran!«, meint natürlich nicht eine physische Nähe zum Motiv, sondern eine Affinität zum gewählten Gegenstand und ein fundiertes Wissen über die Vorgänge, basierend auf einer gründlichen Recherche, einem gewissen Einfühlungsvermögen gegenüber den Menschen, sowie auf das starke Bedürfnis, anderen Menschen die Situation so wahrhaftig wie möglich zu vermitteln.
Gute Fotografen dürfen also nicht sein, was der bekannte Reporter, Buchautor und Kisch-Preisträger Andreas Altmann mal geringschätzig »Belichtungsbeamte« nannte: Rasende Reporter, die vom Schauplatz ihrer Fotoserien selten mehr kennen als die Adresse des Hotels, in dem sie absteigen. Natürlich gibt es solche Fotografen, keine Frage – leider.
Aber gute Fotografen müssen neugierig sein. Sie müssen wissen wollen. Sie müssen wie Schwämme sein, die alles interessiert aufsaugen, was ihnen zum Thema unterkommt. Sie müssen Fakten, Eindrücke und Motive sammeln. Sie müssen all das gesammelte einordnen und bewerten. Und wenn sie die Schlüsselmotive ihrer Reportagen oder Bildserien gefunden haben, dann erst kommt die eigentliche fotografische Arbeit. Dann erst müssen sie die Motive in eine Form bringen. Noch dazu in eine, in der sich Form und Inhalt des Bildes ergänzen und stützen. Eine Form, die den Inhalt adäquat transportiert, nicht abgehoben oder gar kontraproduktiv. Und sie müssen die Geschichte zu Ende erzählen, in eben jenen Fotos, die wir brauchen, um sie verstehen zu können. All das ist eine zeitaufwendige Prozedur, die nur wenig zu tun hat mit dem locker aus der Hüfte gemachten Schnappschuss, den der Laie so gemeinhin im Kopf hat, wenn er an außergewöhnliche Bilder denkt. Auch Bildern, die auf den ersten Blick so aussehen, als seien sie irgendwie zufällig oder nebenbei entstanden, ist meistens der zweite Blick vorausgegangen. Es ist selten der Zufall, der dem Fotografen die spannenden Situationen zuführt.
Leider räumen die Auftraggeber uns Fotografen heute kaum mehr jene Zeit ein, die eine qualifizierte Arbeit möglich machen. Getrieben von sparwütigen Betriebswirten haben die Bildredaktionen fast aller deutschen Magazine die Dauer der Assignments im letzten Jahrzehnt drastisch reduziert. Denn Verlagsmanager richten sich nach der Devise »Zeit ist Geld«, die auf den ehemaligen amerikanischen Präsidenten und Zeitungsverleger Benjamin Franklin zurückgeht.
Selbst ein Magazin wie National Geographic blieb davon nicht verschont. Einst lag die normale Dauer eines Reportagejobs dort bei sechs Monaten, heute sind es nur noch vier. Das klingt immer noch üppig. Ist es auch. Aber immerhin eine Kürzung um ein Drittel.
DAS ULTIMATIVE BILD
Bei uns in Deutschland kann man selbst von der Dauer solch gekürzter Assignments nur träumen. Nicht selten muss man auch eine umfassende Reportage in drei bis fünf Tagen fotografieren. Was bei einem solchen »Quickie« herauskommt, kann man an einer Hand abzählen: Der Fotograf muss Klischees abarbeiten, fotografisch und inhaltlich. Und er muss vieles inszenieren. Mit gutem Fotojournalismus oder Autorenfotografie hat das Ergebnis in der Regel nichts zu tun. Denn zum Finden originärer Bilder bleibt einfach nicht die Zeit.
Kurz nach dem Mauerfall hat der deutsche National-Geographic Fotograf Gerd Ludwig eine Reportage im Osten Deutschlands fotografiert. In dem kleinen Nest Kesselsdorf nahe Dresden entdeckte er am Wegesrand einen auf einer Wiese stehenden Schaukasten. Ein ehemaliger LKW-Fahrer hatte mit seiner Frau einen provisorischen Rastplatz für Autofahrer eingerichtet, und in einer Glasvitrine stellten sie Bananen, Orangen, Äpfel und einige Getränke zur Schau, die man dort als Reiseverpflegung kaufen konnte. Mehrere selbstgemalte Schilder wiesen auf das provisorische Ergebnis ersten unternehmerischen Denkens hin.
Gerd Ludwig wartete, bis eine ältere Frau des Weges kam. Als sie sich nach dem Schaukasten umdrehte, löste er aus. Für ihn erzählte das Foto so viel über die Veränderung in der ehemaligen DDR, dass er noch zweimal an diesen Ort zurückkehrte, um das Bild vielleicht durch besseres Licht und eine stärker wirkende Person zu optimieren. Letztlich war es doch das Foto vom ersten Besuch, das National Geographic als Doppelseite druckte.
Den Roten Platz in Moskau besuchte Gerd Ludwig mehrfach. »Zehn bis fünfzehn mal war ich dort, um das Foto zu bekommen, das ich mir vorgestellt hatte«, berichtet er. Ein Großplakat mit einem, in edlen Zwirn gehüllten Modell, prangte auf dem Platz und Gerd Ludwig suchte nach lebenden Pendants, die das Plakat passieren. Täglich zwei Stunden lang zur Blue Hour verbrachte er und sein Assistent, der den Blitz hielt, dort. Bis er endlich Passanten fotografiert hatte, die dem Plakat entstiegen sein könnten. Es wurde ein ungestelltes wahres Bild – denn solche Passanten gehören zum Moskauer Stadtbild. Das Streben nach dem ultimativen Bild kostet eben Zeit.
Man muss als Fotograf auch die Menschen einer Geschichte für sich gewinnen. Man kann nicht fordernd und rücksichtslos auftreten und wie ein Elefant im Porzellanladen durch eine oft heikle Wirklichkeit trampeln. Man muss vielmehr, um wieder eine Aussage von Andreas Altmann zu zitieren, wie ein »Snake Charmer« vorgehen: behutsam, schmeichelnd, immer aufmerksam. Beim Schlangenbeschwörer können Hektik und Hast tödlich sein, beim Fotografen können sie das vorzeitige Ende der Geschichte bedeuten.
Für viele deutsche Magazine ist ein Zeitraum von einer Woche die Schmerzgrenze, die es nicht zu überziehen gilt. Eine Woche Arbeit für die Darstellung einer 14-Millionenstadt wie Kalkutta mit all ihren Aspekten und Problemen? Eine Woche Arbeit für eine Reisereportage über Zypern, wo man zum Überbrücken der großen Entfernungen den größten Teil seiner Zeit im Fahrzeug verbringt? Eine Woche Arbeit für die Darstellung von Arbeitslosigkeit im Osten unserer Republik, über deren Ursachen und Hintergründe selbst Berufspolitiker seit Jahren mit unterschiedlichen Auffassungen streiten?
ABLICHTEN VON KLISCHEES
Die Antwort ist simpel: Es geht nur dann, wenn man an der Oberfläche bleibt, darauf verzichtet, der Fotografie jene Kraft zu entlocken, die diesem Medium inne wohnt. Wenn man sich leicht zugänglichen Klischees zuwendet, für die man nicht suchend und forschend das Thema entwickeln muss. Wenn man in den Fußstapfen anderer Fotografen wandelt und sich damit zufrieden gibt, deren Bilder nach zu fotografieren. Modifiziert und etwas besser, wenn man Glück hat. Eine Stadt oder eine Insel kann man im Schweinsgalopp nun mal nicht neu interpretieren, selbst der beste Fotograf kann das nicht. Das Resultat ist das ewige Wiederholen von Klischees, die Illustration.
Es ist also nicht die Gier nach maßlosen Honoraren, die jene Fotografen treibt, die nach ausreichenden Zeiträumen verlangen, um einen guten Job zu machen. Angesichts der finanziellen Realität, der seit Jahren stagnierenden Honorarsätze bei gleichzeitig steigenden Lebenshaltungskosten und der hohen Renditen von Verlagsaktionären, erscheint mir ein solcher Argwohn lächerlich.
Es kommt nicht von ungefähr, dass die herausragenden Leistungen in der Fotografie zumeist Arbeiten sind, mit denen die Bildner lange Zeit verbracht haben. Eines meiner Lieblingsbücher ist der Band »Mennoniten« des kanadischen Fotografen Larry Towell. Zehn Jahre lang hat er an seinem Buch über die alttestamentarische Religionsgemeinschaft fotografiert.
Beispiele für eine solche Arbeitsweise gibt es glücklicherweise auch heute noch genug. Zum Beispiel Sebastiao Salgados Werke »Worker« und »Migrants«, Patrick Zachmanns Arbeiten zur chinesischen Diaspora und Immigration, Abbas Bücher über den Islam und das Christentum, Kai Wiedenhöfers Darstellung des Palästina-Konfliktes, Martin Parrs Blick auf Massentourismus und Fast Food oder Nan Goldins Bildband über die New Yorker Subkultur. Alle diese Fotografen eint trotz unterschiedlicher Themen und fotografischen Auffassungen eines: Sie haben sich viel Zeit genommen.
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Rolf Nobel
nach etlichen Jahren als Reportagefotograf arbeitet er heute als Professor für Fotografie an der FH Hannover.