Fotos, die vom Leben erzählen
Es werden immer weniger Fotoreportagen gedruckt, immer seltener in Auftrag gegeben. Spielt die Reportage als Genre eine immer geringere Rolle?
Text – Stefan Enders
Interviews – Theresa Hallermann
Eine Begebenheit aus meinem ersten Semester als Hochschullehrer: Eine Studentin präsentiert ihre in klassischem Schwarzweiß geprintete Semester-Abschlussarbeit, und am Ende der Besprechung mache ich sie darauf aufmerksam, dass in einem Bild ihr eigenes Stativ zu sehen sei, was sie wohl übersehen habe. Ein Kommilitone bemerkt dazu nur kurz, na, dies könne sie ja leicht in Photoshop »herausnehmen«. Meine Entgegnung, dass ich dies in einer solchen Reportagearbeit absolut nicht akzeptieren würde, war für ihn erst einmal vollkommen unverständlich und nicht nachvollziehbar.
Ich begegne einer Generation von Studenten, die komplett im digitalen Zeitalter groß geworden ist, von der ein Teil nicht einmal mehr erlebt hat, dass ihre Eltern im Familienurlaub einen Film in die Kamera einlegten, eine Generation, die mit jeder Art von Bildbearbeitung am Rechner bestens vertraut ist. Gleichzeitig erlebe ich in meiner eigenen fotojournalistischen Praxis, dass es zunehmend schwieriger wird, Menschen, die im Rahmen einer Geschichte fotografiert werden sollen, dazu zu bewegen, mich für das Foto zu einer bestimmten Location zu begleiten, eventuell dort auch noch auf eine gewisse Lichtstimmung zu warten. »Das können Sie doch alles am Computer zusammenbauen«, ist ein Satz, mit dem ich immer öfter konfrontiert werde.
Wir befinden uns in einer Welt, in der sowohl seitens der Bildproduzenten als auch der -rezipienten die Veränderung und Manipulation von Fotos als mögliche Tatsache zunehmend akzeptiert und verinnerlicht wird. Immer leistungsfähigere Bildbearbeitungsprogramme ermöglichen eine Leichtigkeit und Schnelligkeit von Bildmanipulationen, welche in analogen Zeiten nur wenigen Profis vorbehalten war. Gleichzeitig führt uns die fehlende Verifizierbarkeit von Bildveränderungen in eine vollkommen neue Dimension der Fotografie.
KALT FOTOGRAFIERT
Dass die Werbefotografie sich als eine künstliche und im Nachhinein montierte Welt darstellt, dürfte uns wenig erschrecken; selbst dass bei der inszenierten Porträtfotografie in manch redaktionellem Umfeld digitale Bearbeitungsmethoden eingesetzt werden, überrascht nicht mehr allzu sehr. Ganz anders die Reportagefotografie: Auch wenn uns der subjektive Aspekt des Fotografierenden – die Auswahl des Zeitpunktes, des Ortes, der Blickrichtung etc. – durchaus bewusst ist, lebt diese Fotografie von einem authentischen Moment. Einem authentischen Grundcharakter, der uns sichergehen lässt, dass sich im Moment der Belichtung die im Bild erkennbare Konstellation tatsächlich vor der Kamera befunden hat.
Die digitalen Möglichkeiten stellen diesen authentischen Moment massiv in Frage und berühren die Reportagefotografie in ihrer Grundsätzlichkeit. Man sollte ernsthaft die Frage stellen, ob dieses Genre nicht mit dem Ausklang des 20. Jahrhunderts oder spätestens mit Henri Cartier-Bresson zu Grabe getragen wurde.
Gleichzeitig müssen wir uns als Fotografen mit einem Phänomen vertraut machen, das man mit dem Satz »Die Welt ist abfotografiert« umschreiben kann. Während im vergangenen Jahrhundert die Welt mit Mitteln der Fotografie entdeckt wurde, Magazine wie Life, Stern oder Geo den Menschen bis dahin unbekannte Aspekte dieser Erde offenbarten, befinden wir uns heute an einem Punkt, den Hans-Hermann Klare, Auslandschef des Stern, so zusammenfasst: »Die Welt ist nicht mehr zu entdecken. Selbst Berichte und Fotoreportagen über Hungersnöte in Afrika lösen beim Betrachter nur noch das Gefühl aus: ‚Kenn ich schon, weiß ich alles.‘« Dies führt oft dazu, dass Fotografen die einzige Chance einer aktuellen Reportagefotografie darin sehen, einen bestimmten fotografischen Stil, eine bestimmte Mode in den Vordergrund und den Mittelpunkt ihres Interesses zu stellen.
Aber nicht nur hinsichtlich des allgemeinen Bewusstseins haben wir »schon alles gesehen«; die Welt liegt in fotografisch reproduzierter Form in bislang ungeahnten Ausmaßen in Bildarchiven vor. Jeder Ort, jede Situation ist für so genannte »Bild-Verwerter« weltweit abrufbar und in kürzester Zeit verfügbar. Es gibt immer seltener die Notwendigkeit, einen Bericht, eine Reportage neu und aktuell fotografieren zu lassen – die Bilder liegen vor, lassen sich in jeder gewünschten Form zusammenstellen. Dies ist deutlich billiger, als einen eigenen Fotografen zu beauftragen. Selbst das Risiko, dass der Fotograf nicht mit dem erwarteten Ergebnis zurückkommt, ist damit ausgeschlossen bzw. auf den einzelnen, frei produzierenden Fotografen verlagert.
Bei den Textkollegen gibt es einen Begriff für die vom Schreibtisch aus verfasste »Reportage«: »kalt geschrieben«. Die terminologische Übertragung liegt für eine solche, aus vorhandenem visuellen Material komponierte Geschichte auf der Hand: »kalt fotografiert«. Dies betrifft genauso die aktuelle Berichterstattung. »Wir werden bei jedem Ereignis mit Bildmaterial sowohl von Agenturen als auch einzelnen Fotografen zugeschüttet. Die Bilder sind durch die digitalen Techniken sofort vorhanden«, berichtet Petra Göllnitz, langjährige Bildredakteurin beim Stern. »Es muss nicht mehr jeder Termin besetzt werden. Wir schicken eindeutig weniger Fotografen los als früher.«
VORBESTIMMTE JOBS
Die Zielsetzung, Kosten zu sparen, bestimmt bekanntlich schon seit längerem auch das journalistische Geschehen in den Redaktionen. Finanz-Controller vergleichen die Zahl und Kosten der Reisen von Redakteuren mit deren Output an gedruckten Geschichten. Diese von der Wirtschaftlichkeit geprägte Haltung steht in krassem Widerspruch zu einer journalistischen Offenheit, welche ganz besonders die Reportage als eine der wichtigsten Ausdrucksformen voraussetzt. Reportagen sind im Voraus nicht 100-prozentig planbar – die Bereitschaft, den Menschen, dem Leben zuzuschauen, führt dazu, dass sich eine Geschichte vor Ort entscheiden, möglicherweise auch verändern können muss. Diese Offenheit während der Arbeit lässt sich jedoch kaum noch vereinbaren mit dem finanziellen Druck, der heute in den Redaktionen herrscht. Das habe ich kürzlich bei einer Auslandsreportage für ein großes Magazin zu spüren bekommen, als sich vor Ort herausstellte, dass die Ausgangshypothese nicht zu halten war. »Forget the facts and push the story«, war die unmissverständliche telefonische Anweisung des Ressortleiters an meinen schreibenden Kollegen.
Möglicherweise lassen sich andere Formen des Journalismus leichter mit den Ansprüchen der Verlage zur Kostenersparnis vereinbaren. Vielleicht ein Journalismus, der vom Schreibtisch aus planbar ist, eine Fotografie, die inszeniert und vorbestimmbar ist, deren Aufwendungen damit besser zu kalkulieren sind?
Während wir bei den renommierten Printmagazinen den Rückgang der Reportage beklagen, stellen wir fest, dass immer öfter Kollegen von Corporate-Medien – also Firmen- und Kundenmagazinen – für Reportageaufträge gebucht werden. Große, teilweise aufwändig produzierte Hefte wie z.B. das Volkswagen Magazin schicken Fotografen um die ganze Welt.
Ist es vielleicht weniger ein Rückgang, hat sich nicht ganz einfach der Rahmen, das Umfeld verändert, in dem heute Reportage stattfinden kann? Möglicherweise bieten sich hier ganz neue Arbeitsfelder jenseits der klassischen, bekannten Printmedien. Doch sollten wir bei Publikationen aus diesem Bereich die Überlegung im Blick behalten, ob hier nicht grundsätzliche Grenzen verwischt werden. Wir müssen uns fragen, ob für unsere Arbeit und unser Selbstverständnis als Fotojournalisten nicht Unterschiede bestehen zwischen Magazinen, die als Unternehmen letzten Endes auch Geld erwirtschaften müssen, ansonsten aber journalistischen Grundsätzen verhaftet sind, und Magazinen, deren Aufgabe eindeutig darin besteht, das Image von Produkten und Unternehmen zu verbessern.
Können wir uns vorstellen, dass ein Kundenmagazin, das den Lesern seine neueste Produktpalette in all ihrer exklusiven Vielfalt darbietet, auf den nächsten Seiten James Nachtweys Geschichte vom Leben eines indonesischen Mannes druckt, der bei einem Unfall einen Arm und ein Bein verloren hat und nun mit seiner Familie in ärmlichsten Verhältnissen zwischen Bahngleisen lebt?
Sieht heute vielleicht Reportagefotografie auch anders aus, hat sich möglicherweise nur die Bildsprache verändert, während wir noch immer die Schwarzweißbilder eben jenes James Nachtwey vor Augen haben? Neue Fotografengenerationen müssen neue Ausdrucksformen suchen und finden. Die Bildsprache, die sich in den letzten Jahren entwickelt hat, zeichnet sich durch eine andere Farbigkeit, besonders aber durch die Tendenz zu größeren Aufnahmeformaten ab. Reportagen werden nicht mehr mit Kleinbildkameras in Schwarzweiß fotografiert, der Trend zum Mittelformat mit Farbnegativfilmen ist offensichtlich. Dem Stilmittel des dadurch reduzierten Schärfentiefebereichs begegnen wir permanent. Gleichzeitig erschweren größere Aufnahmeformate dynamische, bewegte Bild auffassungen und forcieren statische, ruhigere Kompositionen. Das Porträt als gebautes und geplantes Bild rückt in der heutigen Reportagefotografie immer mehr in den Mittelpunkt.
Diese bildsprachlichen Veränderungen bewirken aber gleichzeitig eine inhaltliche Tendenz. Ein Stilmittel, das bei einem Porträt den Schärfebereich auf wenige Zentimeter begrenzt, mag formal als klarer, sachlicher, moderner angesehen werden; es erzählt uns jedoch eindeutig weniger. Ein Hintergrund, der nur noch in der Unschärfe verläuft, gibt dem Betrachter keine Auskunft über das Umfeld und den Kontext der Situation.
Eine Mode, die den Fotografen aus technischen Gründen zwingt, auf das spontane Bild zu verzichten und das inszenierte Porträt zu favorisieren, führt zu einer Fotografie, die immer weniger über das Geschehen, über das Leben erzählt. »Früher haben Fotografen sozusagen dem Volk zugeschaut, haben die Menschen agieren lassen. Heute haben wir eine Trendwende: Alles wird inszeniert, es wird mit einer Idee hingegangen, die bereits vorher entstanden ist«, beschreibt Petra Göllnitz die Situation.
Hans-Hermann Klare bedauert, dass unter jüngeren Fotografen »eine zunehmende Ästhetisierung« stattfindet. »Egal, was sie fotografieren, ob Hunger in Afrika oder die Sex-Industrie in Las Vegas – einen Trend zu finden, steht im Vordergrund.« Junge Fotografen erscheinen ihm »gelangweilt von Themen«. Auch Rüdiger Schrader, Bildchef von Focus und verantwortlich für die jede Woche erscheinende Reportage im Heft, stellt dasselbe Phänomen fest: »Junge Fotografen interessieren sich nicht mehr für Themen, sie arbeiten immer weniger an Themen.«
VERPACKUNG IM VORDERGRUND
Diesen Verlust von »inhaltlichem Denken von Fotografen« sieht auch Silvia Schwack, Geschäftsführerin der Fotografen-Agentur Bilderberg, als eine der Ursachen für den Rückgang von Reportagefotografie. »Früher standen Themen im Vordergrund. Es wurde irrsinnig lange über Inhalte diskutiert. Die Themen als solche interessierten – nicht nur, wie ich sie fotografisch umsetzen kann.« Fotografen waren durch die oftmals engere Bindung an Redaktionen viel intensiver an der Entwicklung von Geschichten beteiligt. Während es früher noch Festanstellungen gab, werden heute Fotografen kurzfristig gebucht, eine intensive Beschäftigung mit einem Thema wird immer weniger möglich. Fotografen als »Geschichten-Springer« – heute für den Spiegel unterwegs, morgen das nächste Thema für Focus. Bebilderung statt inhaltlicher Auseinandersetzung.
Scheinbar stoßen wir hier auf den eigentlichen Kern der Problematik. Es ist weniger eine spezifische Thematik von Reportagefotografie, sondern der zunehmende Verlust an engagiertem Journalismus, an inhaltlichen und thematischen Auseinandersetzungen, den Stern-Redakteur Hans-Hermann Klare als »den Zweifel an der Kraft von Themen auch in den Redaktionen« beschreibt. Alle Aspekte – vom wirtschaftlichen bis hin zum bildsprachlichen – lassen sich letztlich auf eine Fragestellung reduzieren: Findet eine engagierte, kritische und Stellung beziehende Auseinandersetzung statt, oder wird nur eine äußere Verpackung in den Vordergrund geschoben? Erzählt uns diese Fotografie etwas vom Leben?
Fast alle genannten Aspekte belegen, wie sehr und auch warum die Reportagefotografie in die Krise geraten ist. Doch diese alles entscheidende Frage – Was erzählen uns die Bilder? – erfüllt mich hinsichtlich der Zukunft des Genres mit Erleichterung. Der Wunsch nach Geschichten aus dem Leben – der Wunsch, Geschichten zu erzählen, Geschichten erzählt zu bekommen – ist in unser Kulturgeschichte tief verwurzelt und wird sich nicht durch die Darstellung seelenloser, austauschbarer Oberflächen, die kein Erlebtes beinhalten, ersetzen lassen. Der Boom der Hörbücher ist dafür nur ein Indiz. Bei diesem absolut »un-optischen« Medium spielen letzten Endes auch Bilder eine zentrale Rolle. Bilder, die – im Gegensatz zur Ästhetik der Videoclip-Berieselung – auch bei der engagierten Reportagefotografie entscheidend sind: Bilder, die vom Leben erzählen, Bilder, die entschlüsselt und gelesen werden müssen.
WIEDERERLANGTE BEDEUTUNG?
Die Überzeugung auch vieler Blattmacher, dass Reportagefotografie ihre Bedeutung in unserer Medienlandschaft behalten bzw. wiedererlangen wird, gleichzeitig aber in den letzten Jahren deutlich vernachlässigt wurde, führt zu einem Paradoxon sonders gleichen. Wenn heute eine Reportage vergeben werden soll, stehen Bildredakteure neuerdings vor dem Problem, geeignete Fotografen zu finden. »Wir wissen manchmal nicht mehr, wem wir eine Reportage geben können«, sagt Petra Göllnitz. »Da die klassischen Reportageleute in den letzten Jahren immer weniger herangezogen wurden, stehen viele nicht mehr zur Verfügung – als ob sie alle ausgewandert wären.« Rüdiger Schrader: »Alle fotografieren nur noch Porträts, alle inszenieren. Immer weniger Fotografen beherrschen heute die Reportage. Die Fähigkeit zu einer schlichten, beobachtenden Fotografie verkümmert zunehmend. Alle wollen nur noch Jürgen Teller sein.«
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Stefan Enders
seit vielen Jahren als Magazin-Fotograf tätig. 2005 Berufung zum Professor an die FH Mainz.
»Die Fotoreportage sollte für den Betrachter eine Form sein, die Welt zu entdecken«
Name: Jordis Antonia Schlösser. Alter: 38.
Fotoausbildung: Fotografie-Studium an der FH in Dortmund. Wohnort: Berlin und Paris
»Die klassische Fotoreportage ist teilweise in andere Publikations-Kanäle abgewandert, findet etwa im Rahmen von Ausstellungen oder Buchprojekten statt«, sagt Jordis Schlösser, Mitglied der Berliner Agentur »Ostkreuz«, die sich dem Prinzip der »concerned photography« verpflichtet fühlt. Zu ihren Kunden zählen reportage-affine Magazine wie Stern, Geo oder National Geographic.
»Ich bekomme viele Aufträge, deren Themen mich auch persönlich sehr interessieren.«
Sie sieht die Reportage im Wandel: »Heutzutage geht es auch in der Reportagefotografie um Dinge, die uns nah liegen. Das eigene Leben ist wichtiger als ferne Völker, und die Zeiten, als der Rest der Welt noch unentdeckt und spannend war, sind vorbei.« Eine Entwicklung, die auf dem veränderten Bedürfnis des Lesers basiert, meint sie. Reisen ans Ende der Welt sind bezahlbar geworden. »Die Welt ist geschrumpft – auch für Fotografen. In den Spitzenzeiten der Fotoreportage hatte man tatsächlich das Gefühl, noch nicht alles gesehen zu haben«, sagt sie.
Doch dann und wann gelingt es auch heute noch, Menschen zu überraschen. Etwa wenn man, wie Schlösser, für den Stern zum Thema »Sex in islamischen Ländern« u.a. in Kairo und Beirut unterwegs war. Bei allen Veränderungen und neuen Trends, denen die Reportagefotografie unterworfen ist, steht für Jordis Schlösser nach wie vor der Mensch im Mittelpunkt. »Mir ist wichtig«, betont sie, »Nähe und Vertrauen zu entwickeln und es dem Betrachter zu ermöglichen, sich in eine andere soziale Wirklichkeit hineinzuversetzen«.
»In der Gesellschaft gibt es einen enormen Wunsch, Fotos zu kategorisieren«
Name: Julia Baier. Alter: 34. Fotoausbildung: Grafikdesign-Studium mit Schwerpunkt Fotografie an der Bremer Hochschule für Künste. Wohnort: Berlin
Seit acht Jahren verdient Julia Baier mit der Fotografie ihr Geld. Die Kunsthochschulabsolventin mag Bilder, die mit dem Wasser zu tun haben. Für ihre Diplomarbeit »Die öffentliche Badeanstalt« wurde sie 2003 mit dem BFF-Förderpreis ausgezeichnet.
Julia Baier betrachtet sich als Grenzgängerin. »Ob Kunst oder Reportage, ich weiß selber manchmal nicht, was ich mache«, sagt sie und versucht es anders zu beschreiben: »Meine Arbeit begreife ich eher als Fotoessay, aber ich bediene mich der Mittel einer klassischen Fotoreportage. Von der inszenierten Fotografie grenze ich mich klar ab.«
Julia Baier ist sich nicht sicher, ob sie es jemals geschafft hat, eine komplette klassische Reportage zu fotografieren – natürlich gab es schon mehrere kürzere Jobs, aber »einen großen Reportage-Auftrag von A-Z habe ich zumindest noch nie bekommen. Die Redaktionen bedienen sich vielmehr des Wortes ‚reportagig‘«, berichtet sie. »Ich bin zu spät dazu gestoßen, als dass ich die Möglichkeit der Umsetzung einer Fotoreportage erlebt hätte. Ich habe den Markt nicht anders kennen gelernt. Es will einfach keiner mehr bezahlen, jemanden so lange Zeit loszuschicken, die es braucht, eine Reportage zu beenden.«
Julia Baier sieht die Fotoreportage nicht nostalgisch. »Aber ein Großteil meines Herzens schlägt eindeutig für die klassische Reportage und vermisst sie auch«, gibt sie zu. Weil die deutsche Magazinlandschaft zwar üppig ist, aber die Reportage darin tatsächlich nicht weit verbreitet, schaut die junge Fotografin über den Tellerrand. »Am liebsten habe ich das britische Magazin foto 8ight«, sagt sie. »Darin kann ich sie ohne Mühe finden – die in meinen Augen klassische Fotoreportage.«
»Die Zeiten, als man mit ’nem Bündel Schwarzweißfilme und ’ner Leica loszog, sind vorbei«
Name: Christoph Bangert. Alter: 27. Ausbildung: 21/2 jähriges Fotodesign-Studium an der FH in Dortmund, 1 Jahr Photojournalism am International Center of Photography (ICP) in New York. Wohnort: New York
»Ich habe gerade erst angefangen, aber ich will und werde Reportagen machen. Die klassische Fotoreportage ist nicht gestorben«, sagt Christoph Bangert. »Aber sie ist teuer geworden, und es wird immer schwieriger, Reportageaufträge zu bekommen, denn die Qualität der Agenturfotos wird immer besser. Dadurch geht der Fotograf als Autor flöten, und die Layouts werden schlechter.«
Der 27-Jährige beschreitet einen, wie er sagt, »altmodischen« Weg, um in der Fotografie Fuß zu fassen. Auf eigene Faust fährt er in Kriegsgebiete und Krisenregionen, um dort zu fotografieren und sich durch veröffentlichte Bilder einen Namen zu machen. »Erfahrungen sammeln«, nennt er seine Touren nach Palästina, Afghanistan, in den Sudan, das vom Tsunami zerstörte Indonesien oder den Irak. Der Plan scheint aufzugehen: Über seine Agentur Polaris Images bekommt er Aufträge für die New York Times, die FAZ, Newsweek oder das Time Magazine.
»Im Irak ist es aus Sicherheitsgründen sehr schwierig, Reportagen zu machen«, sagt Bangert. »Es ist gefährlich, sich lange Zeit nur an einem Ort aufzuhalten«, erklärt er. Aber er kehrte immer wieder zu den Menschen zurück, die er porträtieren wollte, und veröffentlichte schließlich in der Wochenendbeilage der New York Times eine klassische Reportage über einen jungen Notarzt in Bagdad. »Eine gedruckte Doppelseite ist schon toll, aber auch das Netz ist ein Kanal, der künftig Reportagen veröffentlichen wird«, sagt Bangert. So freut er sich über das Interesse von Tageszeitungen, die auf ihren Internetseiten vertonte Slideshows zeigen: »Eine tolle Möglichkeit, mehr als ein Foto zu publizieren.« Er will seiner Strategie weiter treu bleiben: »So viel wie möglich fotografieren, damit auch viel gedruckt wird. Und auch mal fremdgehen: ein Buch machen zum Beispiel, unterrichten oder mal einen Abzug an eine Galerie verkaufen – man muss eben offen sein.«
»Von Reportagefotografie kannst du keine Familie ernähren«
Name: Rolf Bauerdick. Alter: 48. Fotoausbildung: Fachwissen von einem Mentor. Wohnort: Dülmen
»Wir können unseren Lesern nichts Schweres mehr zumuten, davon haben sie schon im Fernsehen genug.« Das hört Rolf Bauerdick immer öfter. Für einen Fotografen, der sich auf Sozialreportagen aus Krisenregionen spezialisiert hat, ist das ernüchternd: »Das Interesse an solchen Themen ist dramatisch gesunken, sie müssen immer häufiger Shoppingtipps, Lebensberatung oder dem Abfeiern von Standard-Kulturevents weichen.« Das könnte – abgesehen von der Einstellung einiger Magazine und Beilagen – an einem Wandel in den Redaktionen liegen. »Früher waren die Bildredakteure älter als ich, lebenserfahrener«, erzählt er. »Die neue Generation hat kein Interesse mehr an hautnahen Geschichten. Oft habe ich den Eindruck, dass es ihnen nicht mehr darum geht, etwas zu sagen, sondern nur das Heft zu füllen. Ich lasse mir ungern von solchen Idioten sagen ‚Fotografieren Sie das mal etwas netter, die Aidskinder gucken alle so traurig.‘«
An solchen Aussagen und Umständen liegt es, dass Bauerdick seine Arbeitsweise geändert hat. »Für meine freien Projekte nehme ich mir viel Zeit, manchmal Jahre. Die Kosten decke ich durch Unterstützung von Nichtregierungsorganisationen und Stipendien ab.« Weil er auch Schreiber ist, kann er Text und Bild als Einheit liefern. Das macht ihn für Auftraggeber interessant. Für ihn muss eine »gute Reportage in der Lage sein, anhand von Schicksalen gute und schlechte Weltzusammenhänge deutlich zu machen«.
»Der Ort einer Reportage ist heutzutage nicht primär die Galerie. Möglichkeiten, sie in Zeitschriften von Hilfswerken zu zeigen, gibt es ja auch noch«, stellt Bauerdick erleichtert fest. Was er aber bei den meisten gedruckten Reportagen vermisst, ist das Überraschende: »Die Bildsprache hat sich verändert. Früher wurde viel echter und umfassender fotografiert. Heute muss auf einem Foto alles zu sehen sein. Die Folge sind inszenierte und standardisierte Bilder.« Jedoch: »In Zeitschriften kommen die spannenderen Fotos oft von den Werbefotografen. Mit der veröffentlichten Reportagefotografie ist einfach nicht viel los.«