Magazin #04

Fotografie als Überlebenstraining

Er ist nicht das Klischee des Fotoreporters. Andre Lützen ist Dokumentarfotograf, ständig auf der Suche nach dem authentischen Bild seiner Mitmenschen. Konsequent macht er seine stillen, beobachtenden Fotos

Text – ROLF NOBEL

Keine Farbbilder, kein Anbiedern an die vordergründige Ästhetik der Magazinfotografie, meist ohne Garantie oder gar Auftrag eigene Geschichten fotografieren – André Lützens konsequente Haltung beeindruckt. Der Preis, den der 33-jährige Hamburger Fotograf dafür bezahlt: Kaum Magazinveröffentlichungen. Ein Leben am Rande des Kontonotstands. Fotografie, sagt er, sei für ihn eher Überlebenstraining als Broterwerb. Umso mehr, weil er niemals nachrechne, »ob das, was ich an Zeit reinstecke, finanziell auch wieder rauskommt«.

Studiert hat André Lützen in Hamburg an der Hochschule für bildende Künste (HfbK). Später ist er dann nach New York gegangen, hat am ICP gelernt, dem International Center of Photography. Bei Lehrern wie den Magnum-Größen Gill Peress und Eugene Richards. Dieses Jahr habe ihn sehr geprägt, sagt Lützen. Erst schien ihm die Qualität seiner Lehrer unerreichbar, »aber das relativierte sich bald«.

Die Arbeit von Eugene Richards hat ihn besonders beeinflußt – sicherlich auch deshalb, weil er nach dem Jahr am ICP bei Magnum Fotos für ihn geprintet hat. »New York war für meine Entwicklung wichtig. Vor allem die Auseinandersetzungen mit den Lehrern.« Anders als in Deutschland ließen sich dort bekannte Fotografen in die Karten gucken: »Die haben auch keine Probleme, mal eine Schwäche oder Unzulänglichkeit zuzugeben.«

Seine wichtigste Arbeit in dieser Zeit war »Thor & The Quiet Storm«. Eine Geschichte über zwei schwarze Boxer in New York. Über ein Jahr hat er daran fotografiert. Er, der Weiße, inmitten einer schwarzen Welt. Unsicher erst, aber die Zeit läßt Beziehungen wachsen, schließlich gehörten er und seine Kamera dazu. In Deutschland will kein Magazin diese Fotos. »Abgegriffenes Thema« sagen die, für die sich Boxen auf Stars wie Maske und Michalczewski beschränkt. Boxen als Ausdruck sozialer Verhältnisse – wen interessiert das? Die TAZ druckt schließlich ein paar Fotos. Froh darüber, Bilder dieser Qualität für ihre Mini-Honorare zu bekommen. André Lützen arbeitet ohne finanzielle Absicherung. Mit Fotojobs verdient er das Geld, um wieder Filme zu kaufen.

Während seines Aufenthaltes in den USA reist er durch Louisiana. Es entstehen Bilder von dörflichen Tanzveranstaltungen, auf Aligartorfarmen, Alltagsszenen. Ihn fasziniert die Musik der Kreolen. »Zydeco ist wilde, rauhe Tanzmusik, die ihrem Publikum zuruft: ,Shake that thang, Baby!’« Der Funke sprang über. Neben bewegenden Bildern machte er bewegte Bilder mit der Hi 8 Videokamera.

Zurück in Deutschland 1994 – »so etwas wie ein Kulturschock« – fotografiert er sein nächstes Thema. Er reist drei Wochen nach Marokko in die West-Sahara und fotografiert einen Reisebericht nach dem Tagebuch von Michel Vieuchange. Der junge Schriftsteller reiste 1930, als Frau verkleidet, neunzig Tage von Agadir nach Smara. Auf dem Rückweg erkrankte er und starb schließlich 26jährig in Agadir. »Sein Tagebuch ist ein eindrucksvolles Werk über Anstrengung, Willenskraft und Bereitschaft zur Entbehrung«, sagt Lützen.

Das Tagebuch hatte er in einem Antiquariat gefunden und vielleicht war es die Seelenverwandtschaft, die ihn schließlich mit der Kamera auf die Spur Michel Vieuchanges führte. Es entstanden poetische, aber niemals kitschige Bilder, keine starre Spurensuche, eher eine eigene Interpretation, aber doch seltsam dicht am Duktus des Tagebuchs. Auch für diese Bilder interessierte sich in Deutschland kein Magazin.

Wie lebt es sich damit, wenn man in seine Arbeit so viel Zeit, Leidenschaft und Geld investiert und dabei doch kaum auf einen grünen Zweig kommt? Braucht man nicht unbedingt die Magazinveröffentlichungen fürs Ego? Nein, sagt Lützen. »Ich fotografiere niemals für Redaktionen, immer nur für mich selbst.« Natürlich wolle auch er die Veröffentlichung, aber das sei nicht das Wichtigste. Fotografie ist seine Sprache, und die zu entwickeln, darauf kommt es ihm in erster Linie an. Kritische Auseinandersetzungen über seine Arbeit führt er mit Freunden, weil es für intensive Gespräche in Redaktionen kaum Gelegenheit gibt.

Manchmal hat auch er Glück. Die hamburger Kulturbehörde gab ihm ein Stipendium – ein Jahr lang 1.600 Mark monatlich. Er faßt sein Thema »Deutsche Feste« sehr weit. »Auch Love Parade und Chaostage sind für mich deutsche Feste.« Wieder mit der Kamera auf der Suche. Diesmal nach der eigenen Identität: »Was macht eigentlich meine Nationalität aus?« Wie Deutsche feiern, findet er, könne diese Frage beantworten. Im Januar war die Antwort auf Kampnagel zu sehen, zusammen mit den Arbeiten anderer Stipendiaten.

Zurück im Hier und Heute. Gerade ist André Lützen zum zweiten Mal in diesem Jahr nach Belfast gereist. Vor sechs Jahren hatte er dort erstmals einen Jungen fotografiert. Paul Austin, ein Ballymurphy Boy, einer aus dem Viertel, das man dort Klein-Beirut nennt, einer IRA-Hochburg im Westen der Stadt. Damals träumte Paul davon, Profifußballer zu werden. Oder IRA-Kämpfer.

Jede Woche ging er zu den Gräbern der Kämpfer auf dem Milltown Cemetery, auf denen »Killed in Action« eingemeißelt steht. »Die Leute sind von den Briten ermordet worden, weil sie für ihr Land kämpften. Irland ist irisch und die Briten werden es nie kriegen!«, sagte er André damals.

Es war das erste Mal, daß Lützen sich viel Zeit für ein Thema genommen hatte. »Ein Bild, das Lebensumstände einer Person beschreibt, das in seinem Moment, seiner Aussage und in seinem Aufbau stimmt, macht man nicht im Vorübergehen.« Vier Wochen beobachtete er Paul. »Ich brauchte diese Zeit, auch um mir während der Arbeit darüber klar zu werden, wie ich mir dieses Essay vorstellte. Ich mußte ein Verfahren finden, das meiner langsamen Arbeitsweise entspricht und in einer intimen Sprache außergewöhnliche Situationen meines und eines anderen Lebens artikuliert.«

Jetzt war André wieder in Belfast – um zu sehen, was aus Paul geworden war. Ein Stück nordirische Geschichte erzählen, menschgeworden an einem Jungen aus Belfast. Der Empfang war alles andere als freundlich. Paul hatte sich die Reportage übersetzen lassen, die damals das ZEITmagazin zu den Bildern von André Lützen veröffentlicht hatte. Sie hat dem Ballymurphy Boy nicht gefallen: »Weil darin nicht die Wahrheit stand!« Eine Viertelstunde sei die Autorin nur in der Springhill Avenue gewesen, beschwerte sich Paul bei André. Und sie hat geschrieben, daß die Kinder in seinem Viertel, dem katholischen Teil, Häuser zerstört haben. »So, wie es dort steht, ist es eine glatte Lüge! Die Häuser standen längst leer und waren schon halb verfallen.«

Eine Woche brauchte André, um das Vertrauen erneut aufzubauen. Ständig Anwesenheit, viele Gespräche, kaum fotografieren. Allmählich ging es dann besser. Aber Paul ist nicht mehr derselbe. Arbeitslos verbringt er seine Zeit mit Freunden: Rumhängen, Musik hören, Glotze gucken, saufen. Natürlich hält er es noch heute mit der IRA, aber eigentlich ist er eher unpolitisch. »Der große Abenteuerspielplatz Belfast des jungen Paul ist einer grauen, öden, tristen und perspektivlosen Realität gewichen«, sagt André Lützen.

Zurück mit den Bildern aus Belfast, überholt die Realität seine fotografierte Geschichte. Dem unendlich langsam vorankommenden Friedensprozeß in Nordirland folgen Nachrichtenbilder von brennenden Häusern und Autos. Unschuldige kommen bei Bombenattentaten um. Militär zieht auf. Straßenschlachten. Andrés Bilder von Paul sind »veraltet« noch ehe die Papierabzüge richtig trocken sind. In den Redaktionen, wo er seine stillen Bilder zeigt, vermißt man die Action. Also zieht er erneut nach Belfast, wieder einige Wochen Arbeit, wieder ohne Auftrag. Fotografie als Überlebenstraining.

André Lützen, 1963 geboren, studierte – nach Jobs wie Kioskverkäufer oder Diskjokey – Visuelle Kommunikation in Hamburg. Eine Ausbildung am International Centre of Photography in New York brachte den Kontakt zu Magnum-Fotografen, für die er Fotos printete. Seit 1995 arbeitet er als freier Fotograf.