Entfremdete Vertrautheit
Globale Erfahrung der Absurdität: Von ihren Reisen durch Europa, durch Afrika und nach New York bringen drei Fotografen Menschenbilder mit, die extremer nicht sein könnten – und vielleicht ähnlicher. Beobachtungen beim Blättern in neuen Fotobüchern.
Text – Michael Klein-Reitzenstein
Gebet am Sportplatzrand
Viereck als Spiegelbild: Der Niederländer Hans van der Meer hat Fußball-Amateure in ganz Europa beobachtet und ihre teils skurrilen Spielfelder dokumentiert.
In ein paar Wochen ist es soweit: Die Fußballweltmeisterschaft beginnt – und natürlich kommen Bildbände zum Thema in großer Zahl auf den Markt. Die meisten sind mittelmäßig und wenig originell, Bücher mit Fotografien, wie sie in jedem Sportteil einer Tageszeitung zu sehen sind.
Anders der Bildband, um den es hier geht. Der niederländische Fotograf Hans van der Meer begann Mitte der neunziger Jahre zuerst in Holland und später in allen anderen Ländern Europas, Fußballspiele »so weit wie möglich von der Champions League entfernt« (Vorwort) zu fotografieren. Im Unterschied zur heute vorherrschenden Sportfotografie, die sich meist des Teleobjektivs, des Ausschnitts und der Detailaufnahmen bedient, wählte van der Meer für seinen Band ausschließlich die Totale als durchgängiges fotografisches Stilmittel.
Seine Motive fand er nicht bei den hochrangigen Spielen in den großen Stadien, sondern bei denen der niedrigsten Klassen auf den einfachen, kleinen Dorf- und Vorstadtplätzen. Keine futuristischen Sportarenen und Tribünen mit Zuschauermassen sind auf seinen Aufnahmen zu sehen. Keine Werbetafeln und Logos von Sponsoren stören den Blick auf das Wesentliche.
Ausschlaggebend für die Motivwahl war für van der Meer auch immer die Umgebung des Spielfeldes und die Landschaft um das Feld herum. Oft sind die Grenzen zwischen Fußballplatz und Umgebung fließend, manchmal nur an ausgeblichenen Kreidestreifen, am unterschiedlichen Schnitt des Grases oder gar nur an den Eckfahnen zu erkennen. Auf einigen Bildern scheint das Feld im Laufe der Zeit in die Umgebung hineingewachsen zu sein, sich mit ihr verbunden zu haben. Andere wirken, als seien sie auf die allerletzten freien Quadratmeter zwischen die Häuser gequetscht worden, oder sie sehen aus wie mit dem Messer aus der Landschaft herausgeschnitzt.
Die unterschiedlichen Umgebungen bilden eine faszinierende Kulisse für das Geschehen auf dem Spielfeld. Diese Dualität ist beabsichtigt, denn Hans van der Meer will beides zeigen – das Spiel und die Landschaft rings herum. Er legte immer zuerst den Ausschnitt für die Landschaftsaufnahme fest und wartete dann, »bis das Spiel dazukommt«, wie er sagt.
Das beginnt, wie es sich gehört, mit der Mannschaftsaufstellung, der Begrüßung des (nur in geringer Anzahl anwesenden) Publikums auf den (meist nicht vorhandenen) Tribünen sowie der gegnerischen Mannschaft. Der Anpfiff ertönt, das Spiel fängt gleich mit einer haarscharf verpassten Torchance an. Es gibt gute und schlechte Spielzüge, geschickt geplante Angriffe und plötzliche Konter.
Es kommt zu tragischen und absurden Szenen. Ein Spieler scheint drei Beine zu haben. Hirsche wollen in das Spielgeschehen eingreifen. Für welche Mannschaft faltet der Pfarrer am Spielfeldrand seine Hände zum Gebet? Gegen Ende des Spiels lässt auch noch die Kondition nach, und die Nerven liegen blank. Abspielfehler häufen sich, der Ton wird schroffer. Die fehlenden Kräfte werden durch Fouls ausgeglichen, und Verletzte sind zu beklagen. Der Schiedsrichter gibt Elfmeter, noch ein letzter Gegenangriff – und dann der Abpfiff. Das Spiel ist zu Ende. Das Buch auch. Schade!
Hans van der Meer
Spielfeld Europa. Landschaften der Fußball-Amateure
Mit einem Text von Simon Kuper.
Göttingen: Steidl 2006.
176 Seiten mit 87 Fotos, 21 x 30 cm. 25 Euro
Befremdliches Wörterbuch
Guinea-Bissau. Sierra Leone. Liberia. Rebellen, Terror, Bürgerkrieg. Wolf Böwig ist ins Herz der Finsternis gereist.
Das Kind steht verloren da, den Blick ängstlich erhoben. Seine Hände sind gefaltet wie zum Gebet oder in namenloser Verzweiflung. Sein Name lautet Morie, und er ist etwa elf Jahre alt. Seine Heimat war ein kleines Dorf namens Bendu Malen in der Nähe des Malen-Flusses in Sierra Leone.
An einem Tag im Jahre 1997 umzingelten Rebellen das Dorf und töteten alle 1.200 Bewohner. Nur Morie ließen sie am Leben – er war fünf Jahre alt. Als sie ihn fanden, nahmen sie ihn an der Hand und führten ihn zu seinem Vater, der mit aufgeschlitztem Bauch und durchschnittener Kehle zwischen den Toten lag. Danach ernannten sie ihn zum Dorfchef.
Das Kriegsgeschehen in den westafrikanischen Staaten Sierra Leone, Liberia, Elfenbeinküste und Guinea-Bissau wird von der Weltöffentlichkeit nicht mehr wahrgenommen, und kaum jemand versteht noch, wer hier gegen wen kämpft und um was.
Cisse sitzt auf einem Stuhl. Demütig senkt er den Blick auf seine Arme. Wo einmal seine Hände waren, hat er nun zwei primitive, fast grotesk wirkende Ersatzarme mit eisernen Greifern. »Er kann Wasser trinken, wie Hunde es tun, ,nur mit dem Mund‘. Er hat das gelernt, nachdem sie ihm die Hände abgehackt hatten und ihn dann im Wald aussetzten. Sieben Tage lang kämpfte er um sein Leben…
,Die Soldaten der RUF kamen aus Kono. Ich war gerade im Garten. Meine Kinder konnten fliehen. Ich und sechs Freunde haben es nicht geschafft.‘ Die Freunde wurden an Ort und Stelle getötet. Cisse wurde bis zu einem Zaun gestoßen. Er musste die Arme ausstrecken und auf das Holz legen. Als die Machete zum Schlag ausholte, schrie Cisse ,Mein Gott!!‘ Sie machten sich über ihn lustig: ,Du hast einen Gott?‘ Dann kam die Machete zweimal nieder.« (aus der Bildunterschrift)
Der portugiesische Journalist Pedro Rosa Mendes und der aus Hannover stammende Fotograf Wolf Böwig sind nach Westafrika gereist, direkt ins Herz der Finsternis. Mehrmals haben sie zwischen 2003 und 2005 die entlegensten Winkel dieser Region aufgesucht. Um die Geschichten der Menschen dort festzuhalten. Um den Opfern und auch den Tätern Stimme und Gesicht zu geben. Um die Toten beim Namen zu nennen.
Eine schlanke Gestalt in einem viel zu großen Hemd. Über der Schulter trägt der Junge ein Gewehr. Die schwere Waffe krümmt den schmalen Körper. Das Gesicht ohne Ausdruck, die Augen blicken tot, völlig seelenlos. Sein Kampfname war »Face of War«. Er und vier andere Kindersoldaten haben einem Gefangenen über vier Tage mit Schilfblättern bei lebendigem Leibe den Kopf abgeschnitten.
Mut und Stärke gehören dazu, sich in diese Welt zu begeben, in der keine menschlichen Regeln mehr gelten. »Es ist eine – in ihrer Banalität grausame – Welt, die in unserem Verstand keinen Platz mehr findet, sei es, weil wir sie nicht mehr hören, sei es, weil die Worte, die sie an uns richtet, aus einem befremdlichen oder fremden Wörterbuch stammen, einer Grammatik der Entfremdung, die wir uns nicht zu eigen machen wollen, deren Existenz indes zumindest akzeptiert werden muss.« (Pedro Rosa Mendes)
Die Fotografien und Texte dieses Bandes sind geprägt von tiefer Anteilnahme und Mit-Leiden der beiden Autoren mit den Menschen, die sie auf ihren Reisen kennen gelernt haben. Schwarz.Licht ist ein Buch, das in seiner Eindringlichkeit bis an die Schmerzgrenze geht.
Pedro Rosa Mendes (Text)/Wolf Böwig (Fotos):
Schwarz.Licht.
Passagen durch Westafrika
Frankfurt/Main: Brandes & Apsel Verlag 2006.
208 Seiten mit 32-seitigem Fototeil. 19,90 Euro
Fantasiearchitektur auf Urgestein
Peter Granser hat einen mythischen Ort besucht und ist dem morbiden Charme einer alternden Diva erlegen. Coney Island als fotografische Versuchung – eine Fortschreibung.
Coney Island kennt jeder. Das Urgestein der amerikanischen Vergnügungsparks im New Yorker Stadtteil Brooklyn entstand kurz vor der Wende zum 20. Jahrhundert. Die Karussells und Attraktionen waren technisch und architektonisch immer auf dem jeweils neuesten Stand. Während seiner Blütezeit zog Coney Island Millionen von Besuchern an. Der Abstieg begann in den 1960er Jahren mit der Verslummung des Stadtteils Brooklyn. Nur noch wenig erinnert an den Glanz der großen Zeiten; Coney Island heute ist laut, dreckig und vulgär.
Aber seit jeher übt dieser kleine Zipfel New York nicht nur auf seine Besucher, sondern auch auf Fotografen eine besondere Faszination aus. Viele haben auf Coney Island fotografiert. Weegees Strandbild kennt jeder. Walker Evans war dort, Lisette Model und Robert Frank. Bruce Davidsons »Brooklyn Gang« verbrachte dort ihre Freizeit, Bruce Gilden schoss dort seine schrillsten Bilder, und vor ein paar Jahren hat Katharina Bosse hier die Mermaids fotografiert.
Nun also auch Peter Granser. In meist stillen und zurückhaltenden Fotografien führt er den Betrachter durch eine Welt aus heruntergekommenen Jahrmarktsbuden und kitschig-bunten Fahrgeschäften, die ihre besten Jahre lange hinter sich haben. Die Farben blättern ab, Unkraut bahnt sich seinen Weg durch Abfallberge, Graffitis überall. Und immer wieder Zäune in allen möglichen Variationen, die das allgegenwärtige Wahrzeichen von Coney Island zu sein scheinen. Wie schon Gransers vorherige Arbeiten zeichnen sich die Bilder durch sorgfältige Komposition und eher verhaltene Farbigkeit aus. Diese steht jedoch nicht im Widerspruch zu diesem schrillbunten Ort, sondern unterstreicht vielmehr die leise Melancholie, die dort über allem liegt.
Die vielen ironischen Details und Kuriositäten in den Bildern und Bildfolgen bereiten beim Blättern großes Vergnügen. »No« scheint das coole Pärchen anscheinend zur »US Army Recruiting Station« zu sagen. »Don’t piss here« steht bezeichnenderweise auf der Tür eines Getränkeshops.
In ihren oft bizarren Posen sehen die Menschen in den Bildern aus wie Agierende in einem modernen Tanztheaterstück. Die Besucher des Parks scheinen sich dieser großartigen Melange aus glamouröser Fantasiearchitektur und dem allgegenwärtigen Verfall anzugleichen. Folgerichtig hat Peter Granser eine Reihe von ihnen zum Porträt vor seine Kamera gebeten. Auf den ersten Blick oft absurd, kurios oder gar lächerlich, strahlen sie eine Würde und ein Selbstbewusstsein aus, die es dem Betrachter verbieten, sich über sie lustig zu machen. So geht von diesem Ort und seinen Besuchern trotz der überall sichtbaren Spuren des Niedergangs eine Vitalität und ein Lebenswille aus, die ihn faszinierend und liebenswert machen. Peter Granser ist es in seinem Vergnügen bereitenden Buch gelungen, diese eigenartige und einmalige Welt in wunderschönen Bildern einzufangen.
Peter Granser
Coney Island
Text von Vicky Goldberg.
Stuttgart: Hatje Canz 2006.
100 Seiten mit 72 Farbfotos. 28 Euro
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Michael Klein-Reitzenstein
leitet die Buchhandlung im Haus der Photographie in den Hamburger Deichtorhallen.