Einer flog über’s Kuckucksnest
Google observiert mit seinen Kameras auch die letzten Winkel öffentlichen Lebens. Aus dieser Bilderflut filterte Michael Wolf Absurditäten und Überraschungen des Alltags heraus. Diese erste Auseinandersetzung mit dem Streetview-Archiv ist bereits ein Klassiker.
Text – Michael Klein-Reitzenstein
Fotos – Michael Wolf
Immer wieder beschäftigt sich Michael Wolf in seinen fotografischen Projekten mit den großen Metropolen. Urbanität und Architektur, Bewohner und ihre Lebensbedingungen sind dabei der Schwerpunkt seiner Arbeiten. Herangehensweisen und Blickwinkel variieren stark. Sie sind meist überraschend und unkonventionell in der Umsetzung und Präsentation. Mit Serien wie »Sitting in China«, »Toy Story«, »Transparent City« oder »Tokyo Compression« hat er schon lange den Bereich der klassischen Reportage- und Dokumentarfotografie verlassen. Mit seinem Projekt »A series of unfortunate events«, das in einer kleinen Auflage als Buch erschienen ist, hat Michael Wolf eines der ersten Künstlerbücher veröffentlicht, das sich mit dem allgegenwärtigen und heftig umstrittenen »Google Street View« Archiv auseinandersetzt.
Wochenlang hat er vor dem Computer gesessen und ist virtuell durch die Straßen der großen Städte gestreift. Mit seiner Kamera hat er Bilder und Situationen abfotografiert, die man dort so nicht erwartet hätte.
Ein Mann steht auf dem Bürgersteig. In der Hand hält er einen Revolver und zielt damit auf eine Frau, die panisch vor ihm davonläuft. Die Szene, wie aus einem Gangsterfilm adaptiert, ist real und hat sich nahe am aufnehmenden Fahrzeug zugetragen. Typisch für die Bilder, auf die es der Fotograf abgesehen hat. Durch oft extremes Vergrößern der Ausschnitte macht Michael Wolf Details sichtbar, die schockierend sein können, seltsam oder auch sehr poetisch, wie die Aufnahme eines sich innig küssenden Paares in einem Hauseingang. Durch die Fokussierung auf bestimmte Bilddetails generiert er Aussagen und Bedeutungsassoziationen, die oft nichts mehr mit dem eigentlichen Inhalt, der Dokumentation eines bestimmten Ortes, zu tun haben. Die von »Google Street View« verwendeten grafischen Navigationssymbole setzt er dabei bewusst als formales Gestaltungsmittel ein. Eine alte Frau ist auf der Straße gestürzt und versucht vergeblich wieder auf die Beine zu kommen. Diese dramatische Szene, bekommt durch die Beibehaltung der Navigationspfeile und des Mauszeigerkreises im Foto die Anmutung einer abstrakten Tanzperformance.
Ein anderes Motiv zeigt in sehr starker Vergrößerung eine anmutige Frauenwade in einem hochhackigen Stöckelschuh. Überraschende Schönheit und eine ganz eigentümliche, durch die extreme Pixeligkeit an Siebdruck erinnernde, Ästhetik ist so entstanden.
Neben dieser erzählerisch-künstlerischen existiert jedoch noch eine weitere Ebene in den Bildern. In ihr reflektiert Wolf das Medium Fotografie und lotet die Möglichkeiten der Dokumentarfotografie bis an ihre Grenzen aus. Er berührt dabei so unterschiedliche Genres wie »Street Photography«, sozial- bzw. gesellschaftskritische Fotografie, Paparazzifotografie oder Found Footage. Fast spielerisch schlägt er mit »A series of unfortunate events« einen Bogen von Cartier-Bressons Postulat des »Decisive Moment« hin zu einer neuartigen Interpretation von »Street Photography«, in der anonyme Aufnahmeroboter zum Werkzeug des Fotografen werden. Die zufällig entstandenen »entscheidenden Augenblicke« werden eben nicht durch das Auge seiner Kamera sondern durch Recherche in der riesigen Bilder-Datenbank namens »Google Street View« gefunden, ausgewählt und sichtbar gemacht. Und sie werfen Fragen auf: Was sagen Bilder, wie die hier gezeigten, aus über die Auftraggeber und ihr Verhältnis zu Privatsphäre, Moral und Respekt? Ist es ethisch vertretbar, dass Boulevardmedien Rubriken eingeführt haben wie »Google Street View Katastrophen« oder »Erwischt auf Google Street View«?
Indem er das vorhandene Material benutzte, es veränderte und in einen neuen, künstlerisch-dokumentarischen Kontext überführt hat, reiht sich Michael Wolf ein in die Found Footage Tradition von Künstlern wie z.B. Peter Piller oder Hans Peter Feldmann. Grotesk, absurd, brutal, drastisch, beklemmend und manchmal entsetzlich sind diese Bilder, aber auch rührend, romantisch, komisch oder einfach nur schön.
Immer wieder schafft es Michael Wolf dabei, die einzelnen Aufnahmen in »A series of unfortunate events« zu kleinen Geschichten oder Dramen zu verdichten. So gelang es ihm, durch die geschickte Bearbeitung des Rohmaterials aus »Google Street View« eine spielerisch moderne Neuinterpretation der guten alten »Street Photography« zu erschaffen. – Chapeau!
Michael Wolf
asoue – A series of unfortunate events
Wanderer Books, Berlin, 2010
72 Seiten, 47 Farbabbildungen, Hardcover, 15 x 20 cm
Texte von Marc Feustel und Steven Harris
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Michael Klein-Reitzenstein
Buchhändler im Haus der Photographie, Hamburg, stellt im FREELENS Magazin regelmäßig seine Favoriten unter den neu erschienenen Fotobüchern vor.