Magazin #22

Ein Geburtstag ohne den Papa

Da wird mit großem Aufwand ein neues Fotomagazin lanciert – das Credo: Man will ein Forum sein für die Fülle guter Bilder. Beim Blättern in den ersten Ausgaben von View zeigt sich aber, dass Anspruch und Praxis noch nicht zusammenpassen.

Text – Kay Dohnke

Keine Frage: Da ist jemand stolz. Stolz auf die Idee, etwas Neues zu machen. Stolz, seinem Medium – der Fotografie – zu mehr Beachtung, mehr Öffentlichkeit zu verhelfen. »Die Idee«, wiegelt View-Redaktionsleiter Tom Jacobi ab, »war relativ nahe liegend, wenn man beim Stern arbeitet. Im Normalfall werden uns dort 4000 bis 5000 Fotos pro Tag angeboten, je nachdem, wie viele Agenturen man abonniert hat. Es ist eine Flut von Bildern, in der natürlich auch ganz außergewöhnliche Fotos versteckt sind, die – weil es bisher kein Medium dafür gab – unbeachtet durchrauschen und schnell in der Vergessenheit landen.«

Daher sann Jacobi – Art Director des Magazins und früher selbst als Fotojournalist aktiv – auf Abhilfe. Zumal die Bilder der Woche – im Stern vor dreieinhalb Jahren eingeführt – enorm erfolgreich seien und das Jahresendheft immer zu den am besten verkauften Ausgaben gehöre, genau wie das Buch mit dem Jahresrückblick. »Und wenn man dann noch weiß, dass das Gehirn nur Bilder speichern kann, aber keine Filme, und ein stehendes Bild sehr viel schneller wahrgenommen wird als eine Bewegung – wenn man das alles zusammen in einen Topf wirft, dann kommt geradezu zwangsläufig ein so bildbetontes Magazin wie View dabei heraus.«

UNGLAUBLICH DANKBARES FEEDBACK

Die Daseinsberechtigung für sein neues Heft steht für Jacobi außer Frage: »Nach Untersuchungen des Allensbach Instituts werden die Mediennutzer immer bildorientierter, das Bild wird als Lieferant von Information und Emotion wieder stärker geschätzt.« Und er macht auch gleich den Anspruch von View klar: »Wir wollten keine Mischform von Spiegel Reporter – was ein großartiges, aber leider erfolgloses Heft war – und Geo sein. View ist ein eigenständiges Magazin und begründet ein neues Segment; es gab zuvor nichts vergleichbares. Es mag sein, dass sich viele Fotografen noch mehr Reportagen im Heft gewünscht haben; andererseits haben wir ein unglaublich dankbares Feedback von den Agenturfotografen bekommen, weil es endlich ein Heft gibt, das deren unglaubliche Leistung würdigt. Tagtäglich schuften diese Kollegen wirklich an der Front, oft im wahrsten Sinne des Wortes, und werden in der Regel nicht wirklich gewürdigt. Das sind die namenlosen Fotografen dieser Welt, und was sie leisten, ist knochenharte Arbeit.«

Jacobis vollmundige Statements klingen nach einem überzeugenden Konzept. Doch auch ihn holt die nüchterne Praxis wieder ein. Denn da kommen die Bilder gleich in mehrfacher Hinsicht zu kurz. Das fängt bereits bei Verarbeitung und Layout an: View wird nicht klammergeheftet, sondern gelumbeckt – das ergibt zwar ein hochwertig wirkendes Heft und erlaubt einen Aufdruck auf dem Heftrücken, verschärft aber das Problem, Bilder doppelseitig über den Bruch laufen zu lassen: Die Fotos verlieren in der Mitte an Fläche, wirken meist deformiert, ja zerhackt. Außerdem sind die erläuternden Texte auf farbigen Fonds in die Bilder gesetzt – und zerschießen so den Gesamteindruck, zumal es sich dabei meistens um längere Ausführungen handelt.

Für das visuelle Bilder-Zapping mögen solche Kleinstgeschichten bzw. Ein-Bild-Reportagen mit Textkasten durchaus funktionieren. Schwieriger wird es aber, wenn doch einmal mehr Fotos zu einem Thema gebracht werden – da muss View offenbar erst noch eine Linie finden. Beispiel New Orleans im Startheft: Ein wirkungsvolles Doppelseitenbild wird beim Umblättern gleich von 14 kleinformatigen Fotos gefolgt. Fehlte hier der Mut, mehr Platz einzuräumen? Oder wollte man es nicht zu sehr dem Stern nachtun, der dem Hurrikan Katrina und den Folgen viele Bildseiten gewidmet hatte?

REPORTAGE – ODER WAS?

Und noch in einer weiteren Hinsicht ist View merkwürdig unentschieden, nämlich im Fall der Reportage: Startete man noch mit der Schwarzweiß-Arbeit von Jim Gehrz über eine im Irak verletzte US-Soldatin, funktionierte die Rubrik bereits im zweiten Heft nicht mehr – die Auswahl aus einem Vietnam-Bildband von Philip Jones Griffiths mit Fotos aus 30 Jahren mutiert nicht plötzlich zu einer Reportage, nur weil man es drüberschreibt. Auch Kazuyoshi Nomachis Fotos von »Menschen, die glauben« in View 12/05 stammen aus seinem Buch Camera Humana und sind keine kohärent durchfotografierte Reportage. Den Bildern tut das zwar keinen Abbruch – aber ein bisschen genauer dürfte man es in einem Fotomagazin mit den journalistischen Genres schon nehmen…

Auch wenn View für sich reklamiert, auf Seiten der namenlosen Agenturfotografen zu stehen, wird an entscheidender Stelle die Chance verpasst, zumindest den einen oder anderen dieser Kollegen persönlich hervortreten zu lassen – in der Schlussrubrik »Ein Bild hat Geburtstag«: Erzählt wird nur von der Verhaftung des Bhagwan Shree Rajneesh 1985, der Beerdigung John F. Kennedys 1963 oder der Ermordung John Lennons 1980 – doch man erfährt nichts davon, warum und unter welchen Bedingungen das gezeigte Foto entstand. Keiner der Urheber – die zentrale Ereignisse aus besonderer Perspektive miterlebten – kommt zu Wort, und mehrfach wird sogar im Credit ihr Name unterschlagen. Die Geburtstagsfeier findet also ohne den Papa statt, und es wird die Chance verschenkt, ein kleines Kapitel Fotogeschichte zu schreiben.

View hat zweifellos das Zeug dazu, Fotografie zu popularisieren und das Interesse wieder auf Bilder zu lenken, die etwas erzählen – doch einfach nur spektakuläre Fotos zwischen zwei Heftdeckel zu packen, reicht allein nicht aus, um den vielfach formulierten Ansprüchen zu genügen. Die Bilder hätten mehr Sorgfalt verdient.