Magazin #03

Die »anderen« Bilder

Jan Banning erklärt das hohe Niveau der Zeitungsfotografie in den Niederlanden.

Text – JAN BANNING

Am Anfang war das Wort. Und der Journalist war Gott. Welche Bedeutung niederländische Tageszeitungen früher der visuellen Seite beimaßen, macht die Schilderung von Louis Zaal deutlich. Als 19jähriger Journalist wurde er bei der Zeitung Trouw Anfang der 70er Jahre ins Layout geholt. »Eigentlich sollte ich nur dafür sorgen, daß die von den schreibenden Journalisten bestellten Fotos in Auftrag gegeben wurden. Die wenigen Fotoredakteure, die es damals gab, waren eine Art fleischgewordene Durchreiche für die Wünsche der Schreiber«, berichtet der heutige Direktor der Fotoagentur Holandse Hoogte.

Fotografen betrachte man damals zuallererst als Handwerker. Klar, es gab gute Tageszeitungsfotografen, aber ihr Material wurde kläglich gedruckt. De Volkskrant mit den beiden ausgezeichneten Fotografen Daniel Koning und Wim Ruigrok bezog seine Regionalfotos von Fotografen, deren hauptsächliches Qualitätsmerkmal darin bestand, daß sie ein Sendegerät für Fotos hatten. Die Seiten wurden vollgestopft mit kleinen Bildchen, die auch noch fröhlich beschnitten wurden. Ein Foto war lediglich der Beweis, daß die beschriebene Person oder Sitution auch wirklich existierte.

In den Siebzigern wurde die beschauliche Szene aufgebrochen, vor allem durch das Wochenblatt Vrij Nederland, damals journalistisch und fotografisch das führende Blatt. Besonders die seit 1977 erscheinende Beilage sprang ins Auge. Trotz – oder vielleicht dank fehlender Fotoausrichtung konnten Fotografen wie Diepraam, Toussaint, Nienhuis und van den Boogaard ihre eigene überraschende Handschrift zeigen. Auch das Wochenblatt De Groene Amsterdammer veränderte sich. Die Fotografie durfte mehr sein, als nur Dokumentationsbild für den Text.

Diese beiden Blätter wurden zur wichtigen Informationsquelle für junge, progressive Intellektuelle. Ihre Leser – eng verbunden mit der Aktionswelt der »Krakers« (Hausbesetzer) und Antiatombewegung – machten selbst Flugblätter und wollten eine eigene Fotografie. So nahmen Studenten die Kamera selbst in die Hand. Die Bilder mußten ihre Botschaft transportieren. Als sie Fotos von Aktionen und Demos nicht mehr sehen mochten, begann die Suche nach dem »anderen Bild«. »Warum sollte immer das Transparent zu sehen sein? Das ist doch der Versuch, die Bildunterschrift im Foto zu verarbeiten«, sagt Harry van Gelder, heute Fotoredakteur von De Volkskrant. »Wir wollten nicht auf dem Bild lesen, worum es geht. Wir wollten ein spannendes, emotionales Bild.«

Anfang der achtziger Jahre gab es einen regelrechten Boom an Fotobüchern aus Aktivistenkreisen. Fotografen waren auch Aktionsteilnehmer und gingen mit in die besetzten Häuser. Sie wurden beinflußt von modernen Philosophen, die Begriffe wie Objektivität und Wahrheit anzweifelten. Das Foto war nicht mehr »Fenster zur Wirklichkeit«, sondern bringt eine »eigene Wahrheit« hervor. Wie Christain Caujolle, Fotoredakteur der Libération sagt: »Es sind die Fotografen, die Bilder machen, nicht die Kameras.«

Um 1980 tauchten viele dieser Studenten als Fotografen und Fotoredakteure in den Redaktionen auf. »Die Zeitung wollte Fotoredakteure, die mit den schreibenden Kollegen reden konnten, deren Texte schnell verstanden und daher besser zurechtkamen«, berichtet Harry van Gelder, der 1984 als Fotoredakteur zu de Volkskrant kam. Diese ambitionierten Redakteure , die ausgereifte Bildkonzepte im Sinnhatten, waren sie in der Lage für eine gute Fotografie zu argumentieren. Harry van Gelder: »Für uns ist Fotografie kein Broterwerb, sondern eine Berufung.« Gemeinsam mit den Fotografen wehrten sie sich, wenn ein Schreiber wieder mal »ein Bildchen« wollte.

Die »neuen« Fotoredakteure begannen einen intensiven Umgang mit Fotografen zu pflegen und zogen politisch interessierte freie Mitarbeiter an. Diese Fotografen waren etwas anderes als »dressierte Affen mit Kamera«. Sie konnten eine Situation nach eigenem journalistischen Verständnis erfassen. Die Folgen: Das Beschneiden von Bildern wurde zum Tabu, eine konsequente Namensnennung logisch, denn das Foto galt nun als ein eigenes journalistisches Statement. Einspaltige Fotos wurden durch großzügig präsentierte abgelöst.

Im Laufe der Achtziger wuchs der Umfang der Zeitungen. Es gab mehr und mehr Beilagen mit großaufgemachten Geschichten. Hier setzte sich die neue Bildkultur zuerst durch. Zeitungen, bei denen die Fotografie bisher den Layoutern überlassen wurde, bekamen Fotoredaktionen, andere vergrößerten sie. Die Fotoredakteure holten sich ihre Inspiration jetzt auch aus ausländischen Zeitungen wie The Independent und Libération.

Aus den Beilagen drang das bessere Bild bis auf die Nachrichtenseiten. Die Zeitungen profilierten sich mit der Fotografie. Man versuchte Fotografen an sich zu binden und für Fotografen wurde es interessant für Tageszeitungen zu arbeiten. Fotos wurden gut plaziert und auch die Honorare wurden erhöht. Durch den Verzicht auf kleine Fotos und Einsparungen bei Funkbildern war mehr Geld für gute Fotografie da. Das Honorar war aber immer noch mager, selten mehr als 90 Mark für einen Auftrag.

Die Idee der Zeitungsmacher war: Das Blatt und damit auch das Foto, sollte überraschen. Dahinter steckte auch der Einfluß des Fernsehens. »Der Leser will morgens die Bilder, die er am Abend vorher im Fernsehen gesehen hat, nicht nochmal auf dieselbe Weise präsentiert bekommen«, sagt van Gelder. »Er erwartet von seiner Zeitung keine eingefrorenen Fernsehbilder. Wir müssen also eine andere Sichtweise zeigen.« Heutzutage findet man in niederländischen Tageszeitungen keine Fotos von Inszenierungen wie Pressekonferenzen, händeschüttelnde Minister oder Demos auf denen nur Transparente gezeigt werden. Viele Presseleute betrachten sich nicht als Podium für PR-Funktionäre. Vieleicht ist es auch ein Ausdruck der Demokratisierung der Gesellschaft, denn Geschichte wird nicht mehr allein durch die Würdenträger repräsentiert.

Fotografisch herausragend sind drei Tageszeitungen: De Volkskrant, Het Parool und Trouw. Alle drei Zeitungen wenden sich an eine gutausgebildete und gutverdienende Leserschaft, De Volkskrant (400.000 Auflage) und Het Parool (100.000 Auflage rund um Amsterdam) erreichen eine jüngere Zielgruppe, Trouw richtet sich an die etwas Älteren. Aber gerade dieses Blatt geht erstaunlicherweise modernere Wege als andere,auch in ihrer Typografie. Gemeinsam an der Gestaltung dieser Zeitungen sind wenig Bilder pro Seite, oft nur ein großes Aufmacherbild. Viele Fotos zeigen die persönliche Handschrift des Machers.

»An den Tagen ohne Nachrichten, die unbedingt auf Seite eins müssen, entscheiden wir uns bei der Auftragsvergabe des Titelfotos danach, welcher Artikel am besten zu visualisieren ist«, sagt Brechtje Rood, Chefin der Fotoredaktion von Trouw. Sie arbeitet mit einem festangestellten Fotografen und 15 festen Freien. »Ein gutes Nachrichtenbild ist eines, daß selbst die Nachricht erzählt auf eine persönliche, originelle Weise«, meint Rosetta Senese, Fotoredakteurin bei Het Parool. »Die Kernfrage ist immer: Hat ein Foto Aussagekraft?« Als Beispiel nennt sie einen Artikel über einen Euthanasie-Fall in einem Pflegeheim. »Wenn man da nicht einfach reinkommen kann, dann machen wir bestimmt kein Bild von der Fassade. Das sagt doch absolut nichts. Drinnen ist es passiert!« Auch Portraits publiziert Het Parool selten. »Bei einem langen Interview finde ich das okay« sagt Rosetta Senese. »Aber wenn zum Beispiel ein Wissenschaftler interviewt wird, werden wir ein Foto zu seinem Thema bringen.«

Bei Trouw, Het Parool und De Volkskrant haben Fotografen und Bildredakteure die Hauptentscheidung über die Fotoauswahl. Brechtje Rood: »Es gibt auch Fotografen, die uns nur ein Bild liefern. Als in Rotterdam ein Chemielager brannte, bekamen wir von Klaas-Jan van der Weij ein einziges, sehr grafisches Bild von Löschkränen. Die Redaktion meckerte zwar, daß darauf der Brand gar nicht zu sehen sei, aber wir fanden das Bild auffallend anders und sowas zeigen wir gern.«

Überhaupt pflegen holländische Zeitungen das »andere« Foto. Ein Besuch von Prinzessin Beatrix zeigt sie in Rückenansicht beim Betrachten eines Bildes im romantischen Interieur. Ein schöner Rücken kann auch entzücken! Und die Beerdigung des ermordeten Hamas-Bombenbauers wurde mit einem Foto illustriert, das in grafischer Reihung Nischen auf einer Empore zeigt, von denen Kinder auf das Geschehen blicken. Kein Sarg, kein Grab ist zu sehen.

Und noch etwas ist anders in Holland: De Volkskrant zum Beispiel stellt prinzipiell keine Fotos in einen andern, »fälschenden« Zusammenhang. Ein Archivfoto, das einen Parlamentarier zeigt, der sich die Augen reibt, weil er ein Sandkorn hineinbekam, mag vielleicht als Symbolbild zu macher politischen Sitution passen – weil sie zum heulen ist. Doch auf solch plattes Benutzen menschlicher Regungen verzichten die Blattmacher. Jeder reibt sich mal die Augen, jeder schaut mal auf die Uhr – fast jedem Foto kann man einen anderen Sinn geben.

Natürlich wird nicht alles publizierte Fotomaterial durch Aufträge abgedeckt. Oft profitieren die Blätter vom Angebot der Freien. »Wir legen natürlich Wert auf Exklusivität, das ist mit unserem Budget aber schwierig«, sagt Rosetta Senese. »Daher suchen wir die Zusammenarbeit mit anderen Zeitungen, die andere Lesergruppen beliefern.« So sind auch größere Geschichten für freie Fotografen machbar.

Ein Beispiel: Meine letzte freie Produktion, eine Serie über Birma, ist als Erstveröffentlichung im Wochenblatt HP/De Tijd gelaufen, das mittwochs erscheint. In der darauffolgenden Woche druckte Trouw zum Teil die gleichen Bilder auf dem Titel und im Innenteil. Auch Het Parool hat das Material veröffentlicht.

Und wie sieht es mit den Verdiensten der Fotografen aus? Die Tarife von De Volkskrant, Trouw und Het Parool schwanken bei Auftragsfotos zwischen 112 und 225 Mark, ohne Spesen und Material. Für die einmalige Veröffentlichung einer Serie (meist vier bis fünf Bilder) liegt der Preis bei 900 bis 1350 Mark. Wenn man die Anforderungen bedenkt, die an die Fotos gestellt werden, ist dies nicht gerade üppig. Dennoch sind Fotografen bereit, ihre Fotos und Serien Tageszeitungen anzubieten. Die niederländischen Wochenzeitungen zahlen dafür kaum mehr. Deshalb gibt es viele junge Zeitungsfotografen, die gerade das Existenzminimum verdienen. Mehr als drei Aufträge am Tag sind kaum machbar, üblicherweise müssen sie mit weniger vorlieb nehmen.

Ältere Kollegen können ihr Einkommen mit einem guten Archiv aufstocken. Und manche suchen zusätzliche Aufträge im kommerziellen Bereich. Zwar wurden die Fotobudgets in den letzten Jahren erhöht, aber trotzdem geben auch die Fotoredakteure zu, daß die Bezahlung schlecht ist. Die Tradition, daß Fotografen das finanzielle Schlußlicht einer Redaktion bilden, ist noch nicht überwunden.

Wie werden dennoch Fotografen ans Blatt gebunden? »Wenn wir Archivfotos brauchen, werden bei gleicher Qualität, die Fotos unserer Freien genommen«, erzählt Brechtje Rood. »Außerdem präsentieren wir die Bilder der Freelancer so gut wie nur möglich. Wir sind ihnen treu und sehen uns nicht jedes halbe Jahr nach anderen um.« Senese ergänzt: »Sie können hier entwickeln und vergrößern, das erspart ihnen Ausgaben. Und sie können hier Dampf ablassen, bekommen Feedback.«

Die magere Bezahlung für Fotos in den Niederlanden ließ die Fotojournalisten neue Geldquellen suchen. Engagierte Fotografen realisierten längere, tiefgreifendere Projekte – am Anfang unbezahlt. Aber in den 70er Jahren wurde diese Dokumentar-Fotografie von der Kunst entdeckt. Zunehmend interessierten sich Museen und Galerien dafür und es entstand eine Fotografie-Politik der Subventionstöpfe. Die Gemeinde Amsterdam und das Rijksmuseum begannen Fotoaufträge zu erteilen, angeregt von Fotografen wie Dolf Toussaint.

Diese subventionierten Fotoaufträge ermöglichen auch größere Projekte. Dabei bleibt häufig der Kontakt zu den Zeitungsredaktionen erhalten. Fotoredakteure sind einbezogen in die Auswahl für Bücher und Ausstellungen und die Resultate erscheinen oft in ihren Zeitungen. Ein Beispiel aus meiner Praxis: 1992 bekam ich ein Stipendium in Höhe von 36.000 Mark vom Fonds voor de Kunsten. Davon unternahm ich Reportagereisen nach Vietnam und brachte schließlich ein Fotobuch heraus. Schon vor der Abreise besprach ich mit De Volkskrant die Veröffentlichung von acht Fotokolumnen über die Begegnung von Ost und West in dem Land.

Erstaunlich ist, daß es in der Kunstfotografie eine Strömung gibt, die eine objektivistische, sachliche Form anstrebt (die »Becher-Schule«) – während im Journalismus der Raum für mehr persönliche Interpretation zugenommen hat. Anders gesagt: die journalistische Fotografie hat sich in Richtung Kunst bewegt, die Kunstfotografie hin zur Dokumentarfotografie.

Nicht alle holländischen Zeitungen bieten fotografischen Genuß. De Telegraaf , die auflagenstärkste Tageszeitung, ist für michl ein visuelles Irrenhaus: Überschriften und Fotos taumeln durcheinander, viele »Cheese-Portraits«, bei denen es nur darum geht, wer drauf ist, nicht wie. Kurz, das Blatt lebt noch in der fotografischen Steinzeit, hat die Anmutung einer deutschen Boulevardzeitung. Auch durch personelle Veränderungen in den Fotoredaktionen der hochwertigen Zeitungen hat manchmal deren Erscheinungsbild gelitten. Trotzdem scheint die Position der Zeitungsfotografie in den Niederlanden im Allgemeinen so gefestigt, daß die Qualität nicht so tief sinken wird wie auf das Niveau der meisten deutschen Tageszeitungen. »Wenn man diese Zeitungen sieht, glaubt man, es seien holländische von vor über zehn Jahren«, meint dazu Brechtje Rood.

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Jan Banning
Der niederländische Fotograf ist 41 Jahre alt. Er studierte Geschichte, begann seine fotografische Laufbahn 1981 und wird von der Agentur laif verteten.

Übersetzung: Urs Kluyver