Magazin #28

Der Terrorist mit dem Kindergesicht

Schon nach den ersten Schüssen im Bahnhof Chhatrapati Shivaji Terminus in Mumbai greift sich Sebastian D’Souza gegenüber in der Redaktion vom Mumbai Mirror seine Nikon, eilt zum Ort des Geschehens und verfolgt die Attentäter mit der Kamera

Text – Dirk Kirchberg

Er folgt den Schüssen, die  durch die Hallen des alten Bahnhofs peitschen. Als er die beiden Attentäter, die während ihres Amoklaufs rund 50 Menschen ermorden werden, das erste Mal sieht, realisiert er nicht, dass sie Terroristen sind. Erst als die beiden jungen Männer, die wie Touristen gekleidet sind, erneut das Feuer auf Pendler und Passanten eröffnen, erkennt D’Souza, dass es sich um »Rucksacktouristen mit Sturmgewehren« handelt, wie er es später beschreiben wird.

D’Souza verfolgt die beiden Männer rund 40 Minuten durch den Bahnhof. Er schleicht von Zugabteil zu Zugabteil, versteckt sich hinter Säulen, immer auf der Suche nach dem besten Blickwinkel. Und dann gelingt ihm das Foto, das ihn weltberühmt machen soll: Ajmal Amir Kasab, der einzige Terrorist, der die Anschläge von Mumbai überleben wird, hat einen Rucksack über die linke Schulter geworfen und hält ein Sturmgewehr in Hüfthöhe in der rechten Hand, während er unbeirrt durch den Bahnhof streift, um zu töten.

D’Souza fotografiert wie in Trance, rennt über Bahnsteige, warnt Reisende vor den Tätern, und beobachtet immer wieder, wie diese anscheinend wahllos Menschen erschießen. So den Besitzer eines Buchladens, der minutenlang verzweifelt versucht, sein Geschäft abzuschließen anstatt wegzurennen. Ihn und viele andere erschießen Kasab und sein Komplize, um dann andere wiederum überraschend am Leben zu lassen. »Eine Frau in einem Sari ließ sich überhaupt nicht beirren und ging an den beiden Männern vorbei, als wäre nichts. Ich weiß nicht warum, aber sie ließen sie einfach gehen«, erinnert sich D’Souza.

Der Fotograf beschreibt die beiden Attentäter als kaltblütig und kontrolliert: »Sie sind nie gelaufen, immer nur gegangen. Sie haben sehr präzise geschossen und keine Munition verschwendet.« Auch den Buchladenbesitzer tötete einer der beiden Terroristen mit einem einzigen Schuss. D’Souza konnte dem Mann nicht helfen und fotografierte, wie dieser vor seinem Geschäft in sich zusammengesunken starb: »Sie waren Todesengel. Wenn sie jemanden getroffen hatten, haben sie sich nicht einmal umgeschaut. Sie waren sich so sicher.«

Erst Tage später realisiert D’Souza, dass er als einziger die blutigen Anschläge von Mumbai dokumentiert hat. Denn bis auf einige grobkörnige Aufnahmen der Überwachungskameras gibt es keine Fotos von den Tätern des Anschlages auf den Bahnhof von Mumbai – im Zeitalter allgegenwärtiger Handy- und winziger Videokameras eine Sensation. D’Souzas Foto von Ajmal Amir Kasab erschien auf unzähligen Titelseiten und gab den Terrorakten von Mumbai, denen insgesamt 164 Menschen zum Opfer fielen, ein Gesicht – eines, das nur Fragen aufwirft und nichts erklären kann.

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Dirk Kirchberg

Jahrgang 1974, arbeitet als freier Autor, Konzepter und Online-Redakteur in Hannover.