Magazin #35

Der Fotograf, der in die Kälte geht

Seit 30 Jahren besucht der isländische Fotograf Ragnar Axelsson die indigenen Siedlungen der Inuit. Seine groß angelegten Dokumentationen erzählen von dem Daseinskampf der Bewohner einer weißen Welt, die durch Klimawandel und wirtschaftliche Interessen auseinanderzufallen droht.

von – Peter Lindhorst

»Es macht immer wieder Freude, in den äußersten Norden zurückzukehren. Auch wenn ich mir jedes Mal schwöre, nicht mehr dorthin zu fahren wegen der Kälte, die so unerbittlich ist. Einst sagte mir ein befreundeter grönländischer Jäger, Kälte sei vor allem ein mentaler Zustand. Wenn man sich auf sie konzentriere, werde man sich elend fühlen. Denke man an die Schönheit der Natur und genieße sie, gehe es einem gut!« Ragnar Axelsson (Jahrgang 1958) oder kurz RAX, wie ihn jeder ruft, verlässt seit vielen Jahren seine Komfortzone, um erhabene Ansichten des nordischen Lebensraums zu liefern, von seiner Heimat Island, den Färöer oder Kanada. Vor allem Grönland sei ein Magnet, von dem er angezogen werde, erzählt der sympathische Fotograf. Noch vor einigen Jahren habe bei Magazinen und Zeitungen kaum Interesse an der nördlichen Polarregion bestanden. Blinde fotografische Flecken, doch RAX hat die Leerstellen mit seinen Serien ausgefüllt.

Nach einer Fotografenlehre begann der 20-Jährige, für das Morgunbladid in Reykjavik zu fotografieren. Tatsächlich ist der international bekannte Fotograf heute noch für die größte Tageszeitung Islands tätig, auch wenn sich die Bedingungen verändert haben. RAX, dessen Reportagen in der New York Times, in National Geographic, Time Magazine oder Stern erschienen sind, richtet sein Hauptaugenmerk immer mehr auf eigene Projekte, die er mit extremer Tatkraft verfolgt. In der persönlichen Begegnung und einer verabredeten Email-Korrespondenz zeigen sich seine sprudelnde Energie und die große Empathie für die Belange Grönlands. Als Kind habe er alle Bücher über die Kultur der Inuit verschlungen, erinnert er sich. Aus der kindlichen Schwärmerei für einen bestimmen Kulturkreis ist mehr geworden, eine Art Verpflichtung den Leuten gegenüber. Dabei verlief die erste Begegnung mit dem Land so gar nicht nach seinem Geschmack:

»1979/80 machte ich einen Flugschein und flog als Assistent in einem Rettungsflugzeug, um Flugstunden zu sammeln. Auf dem ersten Flug nach Grönland kriegte ich den Auftrag, einen kranken Mann abzuholen. Als wir ankamen, war er nirgends auffindbar. Wir suchten und suchten, bis wir ihn irgendwo völlig betrunken fanden. Mein erster Eindruck von Grönland war enttäuschend. Als ich später als Fotograf dorthin reiste, fand ich schnell heraus, wie großartig die Menschen wirklich sind.«

RAX’ Arbeiten zeugen von der intensiven Auseinandersetzung mit den Menschen und ihrem Lebensraum. Es sind Fischer oder Jäger, denen in unwirtlichen Randzonen ein entbehrungsreiches Leben abverlangt wird. Seine Bilder vermitteln intime Einblicke in die Inuit-Gemeinschaften, die sich ihren Traditionen verbunden fühlen und gleichzeitig in ein neues Zeitalter bewegen, mit dem sie kaum Schritt halten können. Daneben sehen wir Landschaften von grandioser Kargheit, bestimmt durch die Brachialität der Eisformationen. Aber hinter der Erhabenheit dieser Szenen tut sich eine andere Komponente auf. Die Veränderung des Klimas hat im letzten Jahrzehnt immer stärker die Aufmerksamkeit des Fotografen erregt. Auf seinen Reisen in die Eislandschaften habe er oft so extrem gefroren, dass ihm ein Problem wie die Erwärmung zunächst gar nicht in den Sinn gekommen sei. »Die Bewusstwerdung kam zu einem späteren Zeitpunkt meines Projekts, als ich einige Jäger begleitete und merkte, wie besorgt sie waren. Einer der Männer bemerkte: Hier stimmt was nicht, das dicke Eis ist krank.« Das Eis ist brüchig geworden in der weißen Welt. Immer öfter bewegen sich die Jäger auf Eisschichten, die dramatisch abschmelzen. Durch den Klimawandel werden sie ihrer Reviere enteignet.

Der Fotograf empfindet eine starke Verbundenheit zu den Leuten, die er oft besucht und deren Vertrauen er mit seiner offenen Art gewinnt. Diese Wertschätzung beruht auf Gegenseitigkeit. Er darf sie auf die gefährliche Jagd ins Eis begleiten. Umgekehrt unterstützt er sie, wo immer es geht. »Ich fühle insofern Verantwortung, als ich die Lebensumstände der Bewohner abbilde und Leute für die dort anstehenden Probleme sensibilisieren will, die völlig außerhalb ihres Fokus liegen. Die Bevölkerung wird überleben. Das hat sie auch die letzten 4 000 Jahre. Aber sie wird mit völlig neuen Bedingungen konfrontiert, wenn man an die im Boden schlummernden Schätze denkt.«

Mit einem melancholischen Blick führt uns RAX eine indigene Lebenswelt vor, in der soziale und ökologische Probleme zu einem deutlichen Kulturverlust führen. Derzeit noch eine hermetische Gegend, könnte diese zu einer geopolitischen Schlüsselregion auswachsen, wenn Temperaturen steigen und der Permafrostboden auftaut. Wenn eines Tages riesige Rohstoffvorkommen zugänglich sind, wird dies Begehrlichkeiten verschiedener Staaten hervorrufen. Hinter der elegischen Stimmung, von der RAX’ Ansichten durchwoben sind, wird gleichzeitig ein aufklärerischer Ansatz deutlich. Ist er ein politischer Fotograf? »Ich sehe mich selbst nicht als politischen Fotografen, aber vielleicht bin ich es. Wenn du die Anzeichen eines Klimawechsels mit eigenen Augen so deutlich erkennst, macht dich das nachdenklich. Ich finde die Ignoranz politischer Entscheidungsträger, wie sie bestimmte Probleme anpacken – oder besser gesagt – übergehen, schon sehr bemerkenswert. Viele von denen haben Kinder und Enkel. Ob sie wollen, dass die auch eine Zukunft haben?«

RAX weiß, dass sich die Brisanz des Themas keineswegs auf »seine« Region beschränkt. So versucht er, sich dem globalen Problem in seiner Komplexität zu nähern: »Derzeit fotografiere ich die abschmelzenden Gletscher in Island und Grönland. Aber ich bin zu vielen Orten dieser Erde unterwegs, die von der Erderwärmung betroffen sind. Jedes meiner Fotos ist ein kleines Puzzlestück innerhalb eines umfassenden Bildes über den Klimawandel. Ich will denjenigen die Augen öffnen, die diesen nicht erkennen können oder bewusst wegschauen. Ich bin überzeugt, dass Fotografie noch immer eine bedeutende Rolle spielen kann, wenn es um ein so drängendes Thema geht.«

Sein Glaube an die Durchschlagskraft der Fotografie ist unerschütterlich. Die Dokumentationen zeigen jahrelange, manchmal jahrzehntelange Entwicklungen auf. Erstaunlich für einen Fotografen, der eigentlich aus dem auf Aktualität und Schnelligkeit ausgerichteten Geschäft des Tagesjournalismus entstammt. Wie passt das zusammen? Einerseits komplexe, drängende Menschheitsprobleme zu dokumentieren, andererseits sein Engagement für das Morgunbladid aufrechtzuerhalten und tagesaktuelle Aufträge zu isländischen Alltagsthemen zu bearbeiten? Es gelingt, weil RAX beides liebt – auch wenn sein Urteil über die Blätter seines Heimatlands nüchtern ausfällt: »Ich arbeite immer noch gern für die Zeitung, konzentriere mich aber mehr darauf, eigene Projekte voranzutreiben und als Bücher herauszugeben. Die Bedingungen des Tagesjournalismus haben sich hier wie überall auf der Welt verändert. Die Redaktionen haben finanzielle Engpässe, was es erschwert, größere Geschichten zu realisieren, Reisen zu machen und mehrere Tage an einem Ort zu verbleiben. Das spiegelt sich in der Qualität der fotografischen Arbeit wider. Für die Bilder und die Art des Erzählens hätte es vor ein paar Jahren sicher keine Akzeptanz gegeben. Wenn es vollkommen in Ordnung ist, Bilder mit dem Smartphone zu liefern, dann läuft irgendwas falsch. Ein gut gemachtes Foto ist nicht mehr gefragt. Die qualitative Fotografie kämpft um Legitimierung im Tagesjournalismus.«

Eine Art Analogie drängt sich auf. In ähnlicher Weise, wie die Welt der Inuit verschwindet, ist der Fotojournalismus, wie ihn RAX noch vor einigen Jahren erlebt hat, in seiner Existenz bedroht. Für einen Moment scheint der Fotograf ernüchtert über die Veränderung der Medienwelt, um sich dann kämpferisch zu geben: »Die Situation für Fotojournalisten ist nicht gut, wenn es um Zeitungen und Magazine geht. Man erinnere sich: was waren für Geschichten möglich, als die Blätter auf dem absoluten Höhepunkt waren. Ich hab die Erfahrung gemacht, dass sich Leute immer für Reportagen mit großer Fotografie interessieren. Selbst habe ich mich aber schon früh auf Bücher und das Web konzentriert und werde das weiterhin so halten. Die dokumentarische Fotografie wird zukünftig in neue Richtungen schreiten, gerade weil sich Zeitungen und Magazine woanders hin entwickeln und ihnen der Gebrauch guter Fotografie abhanden kommt. Das ist etwas, was einige Blätter noch mal überdenken sollten. Natürlich wird es dauern, sich zu konsolidieren, aber in der Konzentration auf ihre Kernstärken könnte es einige Blätter davor bewahren, unterzugehen.« Und RAX vergisst nicht, mit der norwegischen »Bergens Tidene« ein positives Beispiel einer Zeitung hinterher zu schicken, die ein ausgezeichnetes Layout habe und Geschichten ausführlich präsentiere.

Im Gegensatz zu Kollegen, die mit der veränderten Situation und einem Auftragsrückgang hadern, hat RAX heute genug Ausweichmöglichkeiten, weil er seit jeher auf verschiedene Einsatzfelder gesetzt hat. Die Angebote, die ihn erreichen, sind vielfältig, andererseits will er seine Geschichten weiter verfolgen, Bücher veröffentlichen, Ausstellungen konzipieren und eben für die Tageszeitung tätig sein. »Tatsächlich kriege ich Anfragen von Magazinen weltweit. Die größte Schwierigkeit ist, etwas anzunehmen, wenn ich gleichzeitig mit meinen Projekten beschäftigt bin. Andererseits habe ich natürlich auch Probleme, die eigenen, oft aufwendigen Arbeiten zu finanzieren. Bisher habe ich die Balance noch immer hingekriegt. Mal sehen, wie es in der Zukunft aussieht.«

Der Isländer hat viele Ideen für neue Geschichten. Um seine komplexen Stoffe zu fotografieren, betreibt er hohen Aufwand. Recherche und Vorbereitung verschlingen bei ihm viel Zeit. Lange ist er unterwegs, wenn er die Bewohner über Wochen begleitet und ihr Vertrauen gewinnt, bevor überhaupt das erste Foto entsteht. Entspricht ein Bild nicht seinen hohen handwerklichen Ansprüchen, setzt er alles dran, um nachzubessern. Eigentlich ein Luxus für jemanden, der als Tageszeitungsfotograf diametrale Erfahrungen mit immer enger gesetzten Abgabeterminen und Budgets macht. Doch für seine eigenen Serien setzt er andere Maßstäbe. Der Fotograf, der in der persönlichen Begegnung angenehm unprätentiös wirkt, besitzt nicht nur eine mentale Stärke, um die Kälte zu überwinden, er ist auch beharrlich in der Durchsetzung von Zielen: »Früher spielte ich Fußball und hasste es, zu verlieren. Ich kämpfte immer bis zur letzten Minute. Es ist das gleiche mit der Fotografie. Wenn ich merke, ich hab nicht das Richtige, kehre ich noch einmal zurück und mache das fehlende Bild. Das kann Monate, manchmal Jahre dauern. Ich finanziere meine eigenen Projekte alle selbst, Redakteure haben nichts damit zu tun, und niemand würde es mir bezahlen, zurückzugehen, um an einer Geschichte weiterzuarbeiten. Trotzdem würde ich es nicht Luxus nennen, Fehler zu machen und noch einmal zurückzukommen. Es ist eine Notwendigkeit.«

Einen Fußballverein gab es übrigens früher in seinem Stadtteil nicht. Den musste er erst mit Freunden gründen. Heute spielt dieser in der ersten isländischen Liga. Auch das ein Indiz, wie entschlossen RAX Dinge, die ihm wichtig sind, angeht. Er sei ein gnadenloser Chef sich selbst gegenüber, betont er. Für die Zeitung arbeite er tagsüber, dann komme er nach Hause, um sich sofort an die eigene Arbeit zu machen. Manchmal schlafe er über Monate nicht mehr als drei Stunden täglich, um etwas fertig zu kriegen. Der Aufwand lohnt sich: Am Ende präsentiert er Arbeiten, die gleichermaßen klug und poetisch sind. Heute hat er einen festen Platz in der ersten Liga der Fotografen.

Info
RAGNAR AXELSSON

Er ist der international bekannteste Fotograf aus Island. Ragnar Axelsson, der 1958 unweit von Reykjavik geboren ist, hat bereits im Alter von 16 Jahren als Schüler gelegentlich für die größte isländische Tageszeitung Morgunbladid gearbeitet. Seit über 30 Jahren dokumentiert er das traditionelle Leben der Menschen in seinem Heimatland und nördlich des Polarzirkels. Seine besondere Aufmerksamkeit gilt seit geraumer Zeit den verheerenden Auswirkungen des Klimawandels auf die Lebensformen der Menschen, die in abgelegenen Siedlungen auf Grönland leben.

Axelsson, der seinem Job als Tageszeitungsfotograf treu geblieben ist, hat immer wieder in wichtigen Magazinen weltweit publiziert, darunter National Geographic, New York Times, Newsweek, Le Figaro und Stern. Seine Arbeiten sind in zahlreichen Ausstellungen in Europa und den USA zu bewundern gewesen, in Deutschland zuletzt im Stadtmuseum Schleswig.

BÜCHER
Die Seele des Nordens. Island, Faröer, Grönland. Forker, 2006
Die letzten Jäger der Arktis. Inuit auf Grönland. Knesebeck Verlag, München, 2010
Behind the Mountains. Crymogea, 2013

www.rax.is