Der einzige Zeuge
Fotografen, die aus Kriegs- und Krisengebieten berichten, sind harte Burschen. Zynisch und geldgeil, bereit, für den guten Schuss über Leichen zu gehen. So weit das Klischee. Beliebt – aber falsch. Reich wird der Fotoreporter nicht bei seiner Arbeit, aber einsam. Und bestenfalls berühmt – für ein paar Tage
Text – Lutz-P. Eisenhut
Zuweilen, wenn er wieder zu Hause ist, kann er den Alltag nicht ertragen: die Banalitäten, Beliebigkeiten. Die lächerlichen Sorgen, wie er sie selbst einmal hatte. Lange her, vier Wochen oder acht, zwanzig oder dreißig belichtete Filme früher. Eine Ewigkeit, wenn man im Krieg war. Aber wer weiß das schon? Reden ist zwecklos, wenn keiner versteht. Manchmal – später – will er erzählen. Aber dann hört nicht einmal mehr jemand zu.
Seit sieben Jahren ist Sebastian Bolesch als Fotoreporter unterwegs: Kosovo, Kurdistan, Palästina, Nordirland, Süd-Sudan, Albanien. Wenn er zurückkommt, will er über Fußball sprechen, über Autos, Bücher, Kinofilme. Was das Leben halt so ausmacht in Deutschland. Doch seine Freunde lassen ihn nicht, stellen immer wieder Fragen – auf die er ihnen nicht antworten kann, weil sie ihn nicht begreifen würden. Auf die er ihnen nicht antworten will, weil er sich nach Ruhe sehnt. Nach dem friedlichen Alltag Mitteleuropas. An den aber muss er sich erst wieder gewöhnen.
Doch bisweilen fällt die Normalität jäh und unvermittelt über ihn her: Wenn Freunde zu früh von ihrem gewohnten Leben erzählen, vom Ärger etwa beim Renovieren. Dann hat Sebastian ein schlechtes Gewissen – weil er ihre Sorgen noch nicht wieder ernst nehmen kann. Wenn er in Gedanken noch Straßen sieht, an denen Ruinen stehen, Mauerreste, die einmal Häuser waren. Dann ist er bei der Wahl der richtigen Farben fürs Gäste-WC der denkbar schlechteste Berater.
Als Fotoreporter, der über Krieg und Krisen berichtet, lebt er in zwei Paralleluniversen, die scheinbar nur zufällig zeitgleich existieren. Nebeneinander, denn kompatibel sind die Welten nicht. Was in der einen zählt, gilt in der anderen gar nichts. Albträume in dieser sind in jener real; Träume dort sind hier Trivialitäten.
»Als ich aus Screbrenica zurück war, in Paris in einem Hotelzimmer saß, habe ich das Licht eingeschaltet. Und aus und an, immer wieder«, sagt Philipp von Recklinghausen. »Elektrisches Licht! Das war nicht zu fassen. Meine Welt wurde mit Kerzen beleuchtet.« Wenn überhaupt, denn Dunkelheit bedeutete Deckung.
Später hat er einen Termin bei Gamma. Laue Sommerluft weht durch geöffnete Fenster. Plötzlich ein Knall. Philipp wirft sich auf den Boden, reißt schützend die Arme über den Kopf. Schaut schließlich ungläubig nach oben: Ein Fenster ist zugeschlagen. Einfach so, ganz normal. Normal? »Ein Knall – aber keine Explosion! Auch das konnte ich nicht glauben.«
Andere Berichterstatter tasten sich langsam an Krieg und Krisen heran. Guenay Ulutunçok beispielsweise fotografierte jahrelang besetzte Häuser, Krawalle, Streiks. Er recherchierte im deutschen Untergrund und beschäftigte sich intensiv mit afrikanischen Befreiungsbewegungen, bevor er das erste Mal zu einer Auslandsreportage aufbrach. Hacky Hagemeier begleitete Hilfskonvois, Sebastian Bolesch gewalttätige Neonazis und Flüchtlinge auf dem Weg in die Heimat.
Philipp von Recklinghausen aber – der bis dahin ausschließlich in Berlin gearbeitet hatte – reiste 1993 als »völlig naiver grüner Junge« unvorbereitet direkt in den Krieg. Eben noch Neonlichter am Kudamm – jetzt Mündungsfeuer in Screbrenica. Krasser kann kaum ein Gegensatz sein, keine Veränderung unmittelbarer. Und wahrscheinlich deswegen ist sein Entsetzen noch tiefer, nachhaltiger, prägender als das jener Kollegen, die mental und logistisch vorbereitet wenigstens erahnen können, was sie an der Front erwartet.
Doch mehr als ein Dämpfer für die heftigen Eindrücke können auch die besten Vorbereitungen nicht sein. Irgendwann packt jeden das Grauen: Wenn er das erste Mal aufgerissene Körper sieht, in deren Eingeweiden sich Käfer und Fliegen tummeln. Die ersten menschlichen Schädel und Knochen. Und wenn er zum ersten Mal alte Männer wimmern hört und Kinder vor Angst kotzen sieht. Alle Werte, Normen, Gesetze, Regeln sind in der anderen Welt bedeutungslos. »Der Krieg hat mein Weltbild völlig auf den Kopf gestellt«, sagt Guenay Ulutunçok, der gegen seinen Willen zu misstrauen gelernt hat und »wie ein Soldat taktisch zu denken«: Wenn er heute eine Landschaft betrachtet, sieht er nicht mehr nur Hügel und Täler, sondern auch mögliche Unterstände und Verstecke.
Philipp von Recklinghausen lebte fast drei Monate in Screbrenica. Auch das unterscheidet ihn von anderen Reportern: Er konnte nicht weg! Selbst als es ihm längst zu viel wurde und er glaubte, an seinem Entsetzen ersticken zu müssen, hatte die Hölle keinen Ausgang. Screbrenica war von der serbischen Armee eingekesselt. »Man entwickelt ein Gespür für Gefahren, die man dann nach Möglichkeit umgehen kann«, sagt Sebastian Bolesch. Philipp von Recklinghausen hatte diese Möglichkeit nicht. Er war gezwungen auszuharren und auszuhalten.
»Absurd« ist die Vokabel, die er am häufigsten gebraucht, wenn er versucht, Krieg zu beschreiben. Eiter, Blut, den Gestank verwesender Leichen, verkohlter Häuser, schwelender Autos. Schwerverletzte, Durst, Hunger, Schmerz, Verzweiflung.
Entsetzlich genug, aber doch nur Worte. Oder Bilder. Aber keine Reportage gibt wieder, was der Journalist im Krieg sieht, riecht, hört, schmeckt, tastet, fühlt. Weil Worte und Bilder das nur unzureichend beschreiben können. Weil Worte und Bilder dort nicht dasselbe bedeuten wie hier.
Als eine serbische Granate eine Gruppe spielender Mädchen zerfetzte, hielt Philipp von Recklinghausen die Angst, die Wut, den Druck nicht mehr aus: Während die verstümmelten Kinder seltsam stumm im Sterben lagen, bat er um ein Gewehr. Sein Anspruch, Bilder gegen den Krieg zu machen, war ihm längst abhanden gekommen. Jetzt wollte er nur noch helfen, den Wahnsinn, die Qual zu beenden.
Irgendwie. Doch der bosnische Kommandant war klug genug, den Fotografen an dessen Aufgabe zu erinnern: Er sei in Screbrenica der einzige Zeuge. Der einzige, dem man vielleicht glauben würde. Darum fotografierte von Recklinghausen weiter.
Und eben darum ziehen auch andere Fotoreporter immer wieder in den Krieg. Nicht für ein Foto, nicht einmal für das Foto: Kein Bild ist einen Arm wert oder ein Bein. »Aber die Menschen«, sagen Philipp, Hacky, Sebastian und Guenay, »die sind es wert!«. Die Kinder, die ihren ausgemergelten Müttern hinterherwanken. Die verstörten Greise, die in ihrem verkohlten Zuhause kauern. Die endlosen Flüchtlingsströme.
Kriege sind keine Naturgewalten, brechen nicht aus wie ein Gewitter. Sie haben Väter und eine Geschichte. Doch wenn Granaten explodieren, ist diese Wahrheit schnell vergessen. Sie fällt bereits im ersten Scharmützel. Darum treibt – so pathetisch es klingen mag – vor allem die Suche nach der Wahrheit Fotoreporter in den Krieg. »Die Neugier«, meint Ulutunçok, »ist ein starker Motor«. Sie vertreibt die Angst, lässt die Entfremdung vergessen, macht die Sprachlosigkeit in der Heimat erträglich. Manchmal fotografiert er im Krieg wie ein Besessener, als wolle er einen Film drehen. Weil jede Kleinigkeit einer bestimmten Szene die Wahrheit erzählt über den Wahnsinn des Kriegs. »Man muss den Betrachter ein wenig überfordern, und ihn mit der Realität konfrontieren.«
Fotos gegen den Wahnsinn. Bilder gegen Elend und Krieg. Ein aberwitziges Unterfangen? Erst die Aufnahmen von Hiroshima und Nagasaki haben der Welt vor Augen geführt, was es bedeutet, Atombomben zu werfen. Worte haben das nicht vermocht. Erst die Fotos vom Massaker in My Lai und von napalmverbrannten Kindern haben Amerikas Öffentlichkeit gegen den Krieg in Vietnam mobilisiert. Das war allerdings vor einem Vierteljahrhundert. Seither haben wir uns an solche Bilder gewöhnt.
Und die Arbeitsbedingungen werden immer schwieriger. »Es ist kaum möglich, als Freelancer gegen die großen Agenturen zu bestehen«, sagt Guenay Ulutunçok, der deswegen momentan eine Reportagepause macht. Seine Erfahrung teilen viele deutsche Fotografen: Während amerikanische und französische, niederländische, belgische und dänische Tageszeitungen Reportagen finanzieren, tun sich deutsche Blätter damit sehr schwer.
Kein Auftrag, kein Geld. So einfach ist das. Hacky Hagemeier macht nur deshalb noch immer Reportagen über Kriege und Krisen, weil er weiß, dass seine Arbeit wichtig ist und »ich einen ganz guten Verteiler habe und mit meinem Archiv mittlerweile leidlich verdiene«. Und obwohl er »bei solchen Geschichten meistens draufzahle«, ist Sebastian Bolesch weiterhin unterwegs, weil ihn »persönliches Interesse an den Themen« immer wieder in den Krieg treibt.
Abenteuer also und Nervenkitzel, wie es das Klischee vom »zynisch-geldgeilen Kriegsfotografen« besagt? Wer Aufregung sucht, wird Steuerberater und geht am Wochenende Bungeejumpen, Drachenfliegen, Fallschirmspringen. Aber er riskiert nicht, bei der Arbeit erschossen zu werden, verwundet, verschleppt. Nimmt nicht in Kauf, zwischen zwei Welten zu pendeln, gehört, aber nicht verstanden zu sein. Und er nimmt es nicht hin, mit den Jahren immer sprachloser zu werden – und einsamer.
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Lutz-P. Eisenhut
freier Journalist in Köln. Reportagen und feuilletonistische Beiträge für zahlreiche deutschsprachige Zeitungen, regelmäßige Mitarbeit am Kölner Stadt-Anzeiger.