Magazin #17

Der Bilderjäger aus Finnland

Der Finne Esko Männikkö dürfte einer der bekanntesten zeitgenössischen skandinavischen Fotografen sein – zahlreiche internationale Ausstellungsbeteiligungen und seine Bücher haben seine Porträts, Genre- und Landschaftsszenen hier zu Lande bekannt gemacht und ihm Anerkennung verschafft.

Text – Enno Kaufhold

Künstleranekdoten haben Tradition, seit Jahrhunderten. Ihr Wahrheitsgehalt lässt sich zwar selten überprüfen, sie haben aber ihre Plausibilitäten und werden deshalb für wahr genommen. Von Arnold Böcklin heißt es, ihm sei einmal, als er an einem seiner Phantasie- und Figurengemälde arbeitete, von einem Besucher vorgeworfen worden, einer der gemalten Engel habe nicht fünf, sondern sechs Finger. Darauf soll Böcklin nur lakonisch gefragt haben: »Haben Sie schon einmal einen Engel gesehen?« Das war Ende des 19. Jahrhunderts.

Von Esko Männikkö – und das ist die Fortsetzung der Anekdotentradition – wird kolportiert, bei einer seiner ersten Einzelausstellungen habe eine Besucherin ihm gesagt, seine Fotografien erinnerten sie an Vermeer. Darauf seine Antwort: »Wer ist Vermeer?« Das mag stimmen oder nicht – doch der Dialog erscheint glaubhaft. Denn um die Kunstgeschichte hat sich der heute im nordfinnischen Oulu lebende Esko Männikkö nie sonderlich gekümmert. »Ich weiß gar nichts über Künstler. Die Leute glauben mir das nicht. Aber ich habe keine Ahnung«, so sein unverhohlenes Bekenntnis. »Heute sehe ich schon die eine oder andere Ausstellung, ja, aber ich bin nicht so versessen darauf.«

Verständlicher wird diese Haltung angesichts seiner Biografie. Der 1959 geborene Esko Männikkö wuchs im ländlichen Pudasjärvi auf, nahe des Polarkreises im nordfinnischen Distrikt Oulu. Dort lebten in einer äußerst dünn besiedelten Wald-, Fluss-, Seen- und Sumpfregion pro Quadratkilometer weniger als zwei Bewohner, die überwiegend in der Land- und Forstwirtschaft arbeiteten.

»Mein Vater war Jäger«, erzählt Männikkö, »und nahm mich schon mit zum Jagen, als ich gerade drei oder vier Jahre alt war. Mein erstes Gewehr bekam ich mit 14 Jahren, und zur selben Zeit – ich war damals auf der Mittelschule – fand ich auch an der Fotografie Interesse. Wir hatten in der Schule eine Dunkelkammer und machten dort Schwarzweiß-Vergrößerungen. Ich selbst besaß damals noch keine Kamera. Wie es dann mit dem Fotografieren begann, weiß ich heute selbst nicht mehr genau. Aber ich fotografierte zunächst Vögel und war an Natur interessiert. Um nahe an die Vögel heranzukommen, baute ich Verstecke. Das ist recht einfach, wenn man sich mit dem Verhalten der Tiere auskennt. Das hielt etwa fünf oder sechs Jahre an.

Zur selben Zeit begann ich darüber nachzudenken, Personen zu fotografieren. Ich hörte von einer Familie, die in meinem Dorf hinter dem See wohnte und in ihrem Haus keine Elektrizität hatte: eine ältere Frau und ein älterer Mann mit zwei behinderten Kindern. Ich bin dann zu ihnen gegangen, weil ich hörte, dass sie zu Weihnachten einen elektrischen Anschluss bekommen sollten. Das war im November. Ich verliebte mich in diese Familie und habe insgesamt rund zwei Jahre bei ihnen fotografiert, bevor ich 1982 meine erste Ausstellung mit Schwarzweiß-Fotografien machte. Das war der Beginn meiner fotografischen Karriere. Zu der Zeit fasste ich den Entschluss, als Fotograf zu arbeiten.«

MÄNNIKKÖ KOMMT SCHEINBAR MÜHELOS AN MENSCHEN HERAN

Diese Beschreibung seiner Kindheit und fotografischen Anfänge enthält eigentlich alle Elemente, die für Esko Männikkö und seine Fotografie charakteristisch sind, und verdeutlicht, dass es ihm von Beginn an scheinbar mühelos gelang, sehr nahe an die Menschen heranzukommen, womit die räumliche als auch die emotionale Nähe gemeint ist. Das Technische der Fotografie lernte er weitgehend autodidaktisch, wobei er sich in seinen ästhetischen Ansprüchen an Vorbildern wie dem Naturfotografen Jorma Luhta orientierte. Nach dem mehrjährigen Projekt Kola Diary, für das Männikkö in der zweiten Hälfte der 80er Jahre zusammen mit Pekka Turunen mehrfach in die Region von Murmansk reiste, wechselte er – angeregt durch die Arbeiten von Veli Granö und Pekka Turunen – zur Farbnegativfotografie (und damit zu den Bildern, mit denen er Karriere machte) und den Porträts und Interieurs, die den Eindruck erwecken, er sei als Fotograf unsichtbar geblieben. Dabei ist er mit der von ihm verwendeten 6×7-Mittelformatkamera, zusätzlichen Lichtquellen und Reflektoren physisch sehr wohl präsent gewesen.

Ebenso stilbestimmend wie die von Männikkö perfektionierte fotografische Abbildqualität und die naturalistische Steuerung des Farbnegativmaterials – erst Ende der 90er Jahre wechselte er von der Hand- zur Maschinenentwicklung – sind die von ihm vorgenommenen Rahmungen, mit denen er seine Farbbilder von Beginn an präsentiert. Denn er verwendet entgegen üblicher Gepflogenheit alte, ausgemusterte Bilderrahmen. Mit bewusstem Kalkül wählt er für jedes seiner Motive einen Rahmen aus, der hinsichtlich der Größe, Farbe und Form eine ästhetisch geeignete Verbindung zu den Fotografien eingeht. Nicht minder unorthodox nimmt er dann die Hängung in seinen Ausstellungen vor, da er in der Regel in unterschiedlichen Höhen und mit wechselnden Bildabständen hängt.

Was die Interpretation seiner Bilder angeht, so gab es neben der Hervorhebung fehlender unnatürlicher Posen und Exaltationen und der auratischen Intimität, mit der Männikkö vorzugsweise Männer in ihren angestammten Außen- und Innenräumen erfasst hat, immer wieder Verweise auf die dünne Besiedlung im nördlichen Finnland, die hohe Arbeitslosenquote, die Vereinsamung der Menschen, deren psychische Defekte oder gar den relativ stark verbreiteten Alkoholismus.

All das sind jedoch Stichwörter, die sich in Verbindung mit seinen Bildern leicht zu Klischees formen. Gewiss, er verweist auf die sozialen und psychischen Besonderheiten und Befindlichkeiten seiner Landsleute, und in der Tat befand sich Finnland in den 80er Jahren noch in wirtschaftlichen Nöten. Insofern ist auch die Dürftigkeit seiner Porträt- und Interieurbilder ebenso stimmig wie die der Alltagsablagerungen in den von ihm parallel fotografierten Panoramaansichten, die er vor und hinter den Häusern seiner Region beobachtete. Doch bahnte sich zu der Zeit bereits ein beispielloser wirtschaftlicher Aufschwung an. Dieser gründete insbesondere auf die neuen Kommunikationstechnologien mit Nokia als bekanntestem Exponenten. Heute beheimatet Oulu nicht nur das Forschungszentrum der Firma, sondern auch eine technologisch hoch spezialisierte Universität sowie Forschungszentren für Kommunikationstechnik, Bio- und Umwelttechniken. Oulu gilt mittlerweile als ein Hightech-Zentrum der Europäischen Union, der Finnland seit 1994 angehört, und wurde wiederholt als das Silicon Valley des Nordens bezeichnet.

MÄNNIKKÖS ARBEITEN FINDEN IM GALERIE- UND KUNSTMARKT STARKEN GEFALLEN

Nachdem Esko Männikkö 1995 in Tampere zum finnischen »Künstler des Jahres« gekürt worden war, wuchs seine Bekanntheit sprunghaft, und mit entsprechenden Stipendien bedacht, konnte er 1996 und 1997 jeweils für mehrere Monate im amerikanischen Texas arbeiten. Auch in den dort entstandenen Fotografien gelang es ihm wiederum, ungeachtet seiner Fremdheit eine besondere, fast intime Nähe zu den Aufgenommenen herzustellen. Das mag etwas mit dem ihm vertrauten ländlichen Milieu zu tun gehabt haben, dem er bei seinen Streifzügen durch die mexikanisch geprägten Orte San Antonio und Batesville begegnete. Auf jeden Fall besaß Esko Männikkö die empathische Fähigkeit, sich in die Psyche der überwiegend mexikanischen Bewohner hineinzuversetzen und sie fotografisch adäquat umzusetzen. Zudem brachte er in den parallel fotografierten Panoramaansichten mit der ihm eigenen detailgenauen Realistik das Flair des südtexanischen Alltags zum Ausdruck.

Nach seiner Rückkehr faszinierten ihn Türansichten verlassener Häuser, in denen er unmittelbar das Zusammentreffen von Natur und Kultur erblickte. Wie gewohnt forcierte Männikkö auch in diesen Motiven – ungeachtet des metaphorischen Gehalts – die fotografische Realistik sowie die Licht- und Farbgestaltung. Während er in diesen Bildern das Verlassensein thematisierte, begann er in einer parallel angelegten Serie, Immigranten in ihren notdürftigen, frisch bezogenen Behausungen zu porträtieren. Die auf den ersten Blick exotisch wirkenden Personenaufnahmen, die er zusammen mit den Türmotiven Organized Freedom betitelte, verweisen wiederum auf einen ziemlich realen gesellschaftlichen Hintergrund, nämlich den durch die wirtschaftliche Blüte bedingten Zuzug von Ausländern, namentlich Russen (18 %), Schweden (11 %), Iraker (8 %), Vietnamesen (5 %) und Esten (4 %) sowie Chinesen, Ex-Jugoslawen, Engländer, Amerikaner und Deutsche mit jeweils um 3 Prozent.

Fotografiert Esko Männikkö folglich politische Bilder? »Selbstverständlich«, so sieht er das selbst, »mache ich irgendwie Politik. Wie soll ich das beschreiben? Es ist ziemlich wichtig, schließlich sind die Personen nicht allein Objekte. Es befindet sich etwas im Hintergrund, das Soziale. Nur ist das nicht das Einzige; es existiert so etwas wie ein Cocktail aus höchst Unterschiedlichem. Das gilt genauso für meine frühen Vogelbilder, selbst wenn sie so schön aussehen.«

Obwohl Esko Männikkö seine Arbeiten seit den 90er Jahren durch die Bildagentur »Gorilla« in Helsinki vertreibt, fanden sie weit stärker im Galerie- und Kunstmarkt Gefallen. Allerdings weniger in Finnland als vielmehr in Schweden, Deutschland und in den USA. An die Tradition des Autorenbuches anknüpfend hat er es vorgezogen, seine Bücher selbst herauszugeben. 1999 erschien der Band Mexas (FREELENS magazin #14), im Folgejahr Naarashauki. The Female Pike.

DIE FOTOGRAFIEN ZEIGEN DAS LEBEN UNMITTELBAR, GUT AUSGELEUCHTET, TIEFENSCHARF UND FARBGETREU

Was Männikkös inzwischen internationalen Erfolg betrifft, so scheint er mit seinen Bildmotiven einem sich immer stärker ausprägenden Bedürfnis nach Anschaulichkeit nachzukommen – einer Anschaulichkeit, die der dominierenden selbstreferenziellen Kunst mit ihren formalen wie inhaltlichen Abstraktionen entgegen steht, die zunehmend als steril, emotionslos und lebensfern empfunden werden. Hinzu kommt die weiter voranschreitende Verdrängung des Figurativen aus den traditionellen Medien wie der Malerei und der Grafik. Hier erfüllen Esko Männikkös Fotografien offenbar latente Sehwünsche, zeigen sie doch das Leben, die Menschen und ihren Alltag unmittelbar, gut ausgeleuchtet, tiefenscharf und farbgetreu wie im richtigen Leben und werden deshalb wie ehemals Gemälde gesehen. So geben seine Bilder über die personen- und ortsspe­zifischen Phänomene hinaus auch etwas über die Bedürfnisse der Rezipienten preis.

In der zuletzt in Berlin zusammengestellten, mit Flora und Fauna betitelten Ausstellung, die Bilder aus allen Arbeitsphasen präsentierte, trat sein unabdingbares Interesse am Leben wie an der Natur noch einmal – wie in einer Konklusion – deutlich zutage. Zwar beeinflusst die Kunstwelt Esko Männikkö inzwischen schon, aber, wie er meint, nur einschränkt. »Alles, was du sieht, beeinflusst dich, und du bringst das für dich zusammen. Wenn du nur durch die Straßen gehst, siehst du so viele interessante Dinge. Bildende Kunst ist sicher wichtig, aber gewiss nicht allein. Sie ist nur ein schmaler Teil.« Für ihn waren gerade die Bildmotive dieser Ausstellung recht nah am eigenen wie dem Leben überhaupt, denn, so formuliert er es, »ich gehe jagen, ich töte Tiere. Ich bin kein Killer, aber ich kann es tun. Das ist in der Stadt ganz anders. Man isst fertige Würste und vergisst darüber, dass jemand zuvor die Tiere getötet hat. Für mich ist das alles klar, dass ich so lebe, wie ich lebe, und ich möchte nicht in New York oder andernorts leben.«

Wie letztlich kaum verwundern kann, hat das Fotografieren für Männikkö viel mit dem Jagen zu tun. »Auch deshalb«, wie er hinzufügt, »weil ich das Fotografieren als Vergnügen und nicht als Arbeit sehe. Und es erzeugt dieselben Gefühle, wenn das Jagen zum Erfolg führt. Es ist das Gefühl, das dir sagt, du lebst; du weißt plötzlich, du lebst wirklich und erfreust dich an dem Moment.«

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Enno Kaufhold
studierte Kunst und Fotografiegeschichte. Promotion, freie Tätigkeit als Fotograf, Fotohistoriker, Kurator, Lehrbeauftragter, Gutachter; seit 1990 in Berlin. Zahlreiche Publikationen, zuletzt zur Fotokunst in den Ostseeanrainerstaaten und zu Waldemar Titzenthalers Interieurfotografie. Als Kurator der 1. Ars-Baltica-Triennale der Photokunst hat Kaufhold Esko Männikkö erstmals in Deutschland ausgestellt. Das Gespräch mit Männikkö fand anlässlich seiner Ausstellung in der Galerie Nordenhake am 12. und 13. Januar 2002 in Berlin statt.