Magazin #14

Das Marginale als Zentrum

Vollmundige Titel provozieren näheres Hinschauen – passt die Ganze Welt zwischen zwei Buchdeckel?

Text – Dr. Enno Kaufhold

Die Welt als Ganzes – unter diesem nicht gerade bescheidenen Titel startete das Institut für Auslandsbeziehungen (ifa) im Sommer 2000 eine Ausstellung mit Fotografien aus Deutschland nach 1989 samt gleichnamigem Katalog. Da das ifa dem Auswärtigen Amt untersteht, bekommt die grundlegende Frage nach Auswahl und Präsentation der Fotografien beträchtliches Gewicht, denn Buch und Ausstellung werden in den nächsten Jahren deutsche Fotografie im Ausland repräsentieren und damit in einer Eigenschaft wirksam, die weiter reicht als die unmittelbare Verantwortung des Kurators und Autors Ulf Erdmann Ziegler.

Wenn im Titel – der an Albert Renger-Patzschs legendäres Fotobuch Die Welt ist schön von 1928 erinnert – von der Welt als Ganzem die Rede ist, klingt das ziemlich großspurig. Schließlich haben selbst die Physiker und Astrophysiker bislang noch kein über Isaac Newton hinausgehendes, allseits akzeptiertes »Bild« von der Welt aufzeigen können. Und selbst das Ansinnen, beim Fotografieren der Wirklichkeit eine ganzheitliche »Weltsicht« einzunehmen, klingt vermessen.

Irreführend ist auch der Untertitel »Fotografie aus Deutschland nach 1989«. Schon die Primitivstatistik lässt erkennen, dass keine auch nur annähernd ausgewogene Repräsentanz getroffen wurde: Von den 19 beteiligten FotografInnen lebt und arbeitet einer in Ostdeutschland, während die anderen 18 im Westen agieren. Die zwölf Männer und sieben Frauen absolvierten durchgehend akademische Ausbildungen, neun von ihnen an der Gesamthochschule in Essen, fünf an der Staatlichen Lehranstalt in München. Die mit der Jahreszahl 1989 suggerierte Erwartung auf eine gesamtdeutsche Übersicht wird schon aufgrund dieser Disproportion enttäuscht, um nicht gleich von einem Etikettenschwindel zu sprechen.

Doch damit nicht genug: Dass allein elf der involvierten FotografInnen bereits an der Publikation Contemporary German Photography beteiligt waren, die von Markus Rasp – dem ehemaligen Art Director des Magazins der Süddeutschen Zeitung – 1997 zusammengestellt worden war (und der dann eine Ausstellung sowie das ifa-Projekt nachfolgten), zeigt am deutlichsten, was »aus Deutschland« meint: nämlich die ganz persönliche berufsspezifische Sicht eines einzelnen Art Directors, der sich die des jetzigen Kurators anschloss.

Von den vertretenen FotografInnen dürften Wolfgang Bellwinkel, Stefan Erfurt, Jitka Hanzlová und Eva Leitolf wohl die bekanntesten sein. Doch ungeachtet der exponierten Namen zeichnen sich die zusammengestellten Arbeiten weitaus auffälliger durch ihre formal-ästhetischen Konvergenzen aus. Die als Serien realisierten Fotografien sind ausnahmslos in Farbe und dann in ihrer Mehrzahl im Mittelformat aufgenommen worden. Farbgestalterisch obwaltet eine vornehme Blässe, die im Buch noch viel stärker – um nicht zu sagen: unangenehmer – auftritt als in der Ausstellung. Hinsichtlich der Bildthemen werden keine an irgendeiner Tagesaktualität zu messenden Ereignisse gezeigt, sondern randständige Begebenheiten und Alltäglichkeiten in das Format von Fotoserien gerückt.

Als ärgerlich erweist sich der Text von Ulf Erdmann Ziegler mit seinen allzu saloppen Formulierungen und dem wiederholt polemischen Unterton. Zitat: »Die fotografische Tradition der heutigen Universität Gesamthochschule Essen geht zurück auf einen ehemaligen Militärarzt namens Otto Steinert, der im Stil des autoritären Werkkunstlehrers seit 1959 in Essen Fotografie unterrichtete […].« Dazu kommen sonstige textliche »Ausreißer« der Art: »Im geteilten Deutschland war es nahezu unmöglich, gänzlich unpolitisch zu sein.« Solche Sätze verstehe, wer will.

Diese Formulierungsschwächen vereinen sich mit gedanklich kurz greifenden Kausalschlüssen. Aus dem singulären Umstand, dass Thomas Ruff 1990 im SZ-Magazin veröffentlicht wurde, folgert Ziegler: »Damit war das ‚SZ-Magazin‘ angeschlossen an die künstlerische Fotografie […].« Eine merkwürdige Logik, und was für ein sprachlicher Ausdruck. Doch auch andere Feststellungen sind unzureichend: Ziegler sieht eine »Dominanz der Hochformate«. Kann er nicht zählen? Hoch- und Querformate halten sich bei seiner Auswahl die Waage. Wie geht das zusammen?

Und es bereitet auch offenbar kein Problem für ihn, die Arbeiten der vorgestellten FotografInnen erst im Schlusskapitel einer »neuen« Dokumentarfotografie zuzuschlagen, kurz definiert durch das »Konzipieren einer fotografischen Strecke als Sequenz oder Serie auf der Basis von Farbe; das Zitieren anderer Bildquellen, auch der fotografischen; das Etablieren von biografischen oder autobiografischen Bezügen«. Doch bleibt unreflektiert und unkommentiert, in welchem Maße diese sich von einer »alten« Dokumentarfotografie absetzt und wie weit sie diese assimiliert. Das Covermotiv mit der von Julia Sörgel fotografierten Aussiedlerin aus Kasachstan mit Kind greift nicht nur in erkennbarer Absicht das Titelblatt des Buches Contemporary German Photography auf (das einen Mann mit Kind zeigt); viel deutlicher übernimmt es Dorothea Langes berühmtes Motiv der amerikanischen Migrantin mit Kind, das zu den Ikonen der FSA-Fotografie aus den 30er Jahren Nordamerikas zählt und das seinerseits an die Mariendarstellungen früherer Jahrhunderte anknüpft. Das ist mehr als nur das »Zitieren anderer Bildquellen«, das ist Ikonografie, ohne deren Einbezug die »neue Dokumentarfotografie« als Phänomen ohne Wurzeln verenden muss.

Was die Ausstattung des Katalogs betrifft, hat das international bekannte Grafikerpaar Ott + Stein daraus eher eine Spielwiese für Layoutmätzchen denn eine optisch überzeugende Publikation gemacht. Egoistisch stellen sie ihr gestalterisches Konzept über die Erfordernisse der Texte und mehr noch die der Fotografien. Der Sachverhalt, dass alle ausgewählten Aufnahmen zu Bildfolgen gehören und deshalb isolierte Einzelbilder diesen Kontext nicht mehr erkennen lassen würden, sollte selbstredend in die Gestaltung einfließen, doch auf Doppelseiten mit teils über 20 Abbildungen in doppelter Briefmarkengröße wird das originäre Bildmaterial buchstäblich verpulvert.

Geradezu verfälschend macht sich der durchgehend blasse Farbton bei den Abbildungen bemerkbar, der nahezu alle Differenzierungen zwischen den einzelnen BildautorInnen aufhebt. Damit werden die individuellen Handschriften der Beteiligten verwischt. Der flüchtige Betrachter könnte beim Blättern irrtümlich annehmen, es mit ein und demselben Fotografen zu tun zu haben. (Der Fairness halber sollte deshalb erwähnt werden, dass die Ausstellung in ihrer fotografischen Qualität eher überzeugt als die Buchversion.) Als Hauptärgernis wiegt aber noch mehr, dass bei dieser kleinteiligen Präsentation die unstrittigen kritischen Gehalte einzelner Bilder bis zur Unkenntlichkeit miniaturisiert werden.

Schließlich bleibt die generelle Frage, warum ein mit öffentlichen Geldern finanziertes staatliches Institut wie das ifa zwei Einzelpersonen – Rasp und Ziegler – den Boden für die Verbreitung ihrer individuellen Sicht bereitet. Liegen doch die persönlichen Verbindungen unverblümt offen: 1997 schrieb Ulf Erdmann Ziegler einen Text für das Buch von Rasp, nun knüpft Ziegler an dessen Autoren- und Bildauswahl an und nimmt Rasp als Interviewpartner in die eigene Publikation auf. Dass dabei das Distanz vorgebende »Sie« gewählt wurde, entlarvt sich genauso als Farce wie letztlich das ganze Projekt, das kaum für sich in Anspruch nehmen kann, für Deutschland nach 1989 zu sprechen. Hierzu wäre doch mehr sachliche Übersicht und Bemühen um angemessene Repräsentanz erforderlich.

Was das Buch in seiner Subjektivität und Ausschnitthaftigkeit vermittelt, ist die vom Magazin der Süddeutschen Zeitung beförderte Fotografie, die mit der Etablierung dieses Supplements im Mai 1990 begann und inzwischen zuende gegangen ist. Nicht von ungefähr wurde sie von der Jury des Lead Award Photographie 2000 als historisch überholte Erscheinung zu Grabe getragen. Folglich besiegelt das ifa-Buch eine abgeschlossene Zeit- und Stilphase, wenn es für diese auch andernorts Fortsetzungen gibt und geben wird. Diese Form dokumentarischer Reportagefotografie hat ihre Grenzen offenbart, denn sie lässt wenig Spiel für individuelle Sichtweisen und Handschriften. Auch deshalb bedarf sie der zwingenden editorischen Formgebung, also der textlichen und mehr noch der grafischen Unterstützung.

Wie seinerzeit der Maler Paul Delaroche – von dem kolportiert wird, er habe die Malerei angesichts der Fotografie für tot erklärt – durchaus die in der Fotografie liegenden Möglichkeiten voraussah, werden auch weiterhin Dokumentarfotos entstehen, denn zur statischen, »stillen« Fotografie mit ihrer spezifischen Materialität gibt es keine Alternative. Weder die flüchtigen Film-, Fernseh- oder Videobilder noch die digital generierten Bilder können mit dieser Spezifik konkurrieren: Als »stehende« Bilder haben die Fotografien vergleichsweise kontemplativen Charakter, denn sie können permanent und wiederholt betrachtet werden und so ihre Aussagen bis in die Details präzisieren. Die zukünftigen formalen wie inhaltlichen Ausformungen müssen zwar als offen gelten, wir können aber gelassen auf die Pablo Picassos, Otto Dix’ und Gerhard Richters der Dokumentarfotografie mit ihren originären Handschriften warten. Sie werden kommen.

Die Welt als Ganzes. Katalog zur Ausstellung des Instituts für Auslandsbeziehungen, Stuttgart. Verlag Hatje Cantz 2000. 144 Seiten mit zahlreichen Farbfotos.

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Enno Kaufhold
studierte Kunst und Fotografiegeschichte. Promotion, freie Tätigkeit als Fotograf, Fotohistoriker, Kurator, Lehrbeauftragter, Gutachter; seit 1990 in Berlin. Zahlreiche Publikationen, zuletzt zur Fotokunst in den Ostseeanrainerstaaten und zu Waldemar Titzenthalers Interieurfotografie.