Magazin #14

Exakte Phantasie

Text – Christian Mürner

Warum erzählt der Schweizer Fotograf Heini Stucki zu Beginn seines Buches zuerst eine Geschichte – und ohne Foto?

Eine kurze Zusammenfassung seiner einleitenden Zeilen beantwortet diese Frage: Es ist ein grauer Regentag, als Stucki in seinem Dorf einem Mann auf schwarzem Fahrrad, in schwarzer Bekleidung und mit einem großen schwarzen Regenschirm be­gegnet. Wenn das kein Motiv für eine Schwarzweiß-Fotografie ist! Doch der Mann – er ist Schirmflicker – lehnt ab. Stucki will ihn überreden und erzählt ihm von seiner Dorfporträtserie. Der Mann verabschiedet sich mit den Worten: »Wenn Sie jetzt ein Foto von mir gemacht hätten, würden Sie mich schnell vergessen haben – so jedoch werden Sie noch lange an mich denken ….«

Stuckis Anekdote verdeutlicht sein durchdachtes Verhältnis zur Fotografie. Zugleich interpretiert sie den ungewöhnlich simplen und mutigen Titel: Grau in Grau, ein Zettel, mit Klebestreifen auf einer Wand, in Schönschrift: »Ce Corridor Sera repeint prochainement.« (Dieser Hausflur wird demnächst wieder gestrichen.) Es gibt im Buch noch weitere, sensible Geschichten, aber nun zu den Fotos: Das Bananen-Ende, das aus dem Papierkorb ragt. Der Junge, der mit einer großen Vogelfeder aus dem Zugfenster winkt. Das Telefon im Louvre neben einem antiken Grabstein. Der Schatten eines Mannes auf einem Baumstamm. Zwei Ägypterinnen am Strand, im Vordergrund ein glänzendes, gebogenes Rohr. Der Elefant im Zirkus, nur dessen Hinterteil, im Scheinwerferlicht. Der Baumstamm, dessen Wurzeln scheinbar durch Mauer und Gartenzaun hindurchgewachsen sind.

Die Kurzbeschreibungen dieser alltäglichen Situationen wirken hilflos gegenüber der stillen Faszination, die von den Fotos ausgeht. Heini Stucki, Jahrgang 1949, versteht Fotografie als »exakte Phantasie«. Er ist ein naturverbundener Wanderer, kein rasender Fotoreporter, und ein Museumsbesucher. Er hat seit 1973 einige Serien im Magazin du publiziert, unterrichtete an der Fotoklasse in Zürich und an der Schule für Gestaltung in Biel. Aufgewachsen ist er im Dorf Ins zwischen Bieler- und Neuenburgersee.

Die vorliegende erste umfassende, eindrucksvolle Sammlung ist eine Monografie seiner Aufnahmen aus den Jahren 1966 bis 1999. Stuckis fotografischer Ausdruck ist meiner Ansicht nach paradoxerweise dort am stärksten, wo er seiner erklärten Absicht (»Dialog mit Menschen«) entgegen praktiziert. Nicht so sehr die bildlichen Informationen über das alte, aussterbende Handwerk oder die Porträts zeigen mir die wirkungsvollsten Perspektiven auf, sondern seine Fotos der »Objekte«, der Welt der Dinge, die hinterlassen werden und nicht zusammenzupassen scheinen. Sie bekommen bei Heini Stucki eine Präsenz, die dokumentarische und symbolische Bedeutung in Übereinstimmung bringen.

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Heini Stucki: 1966–1999

Hrsg. vom Photoforum PasquArt, Biel.
136 Seiten mit 100 Duplex-Abbildungen.
Wabern-Bern: Benteli Verlag 2000.