Magazin #13

Bilder aus der Sprachlosigkeit

Als Reporter im algerischen Bürgerkrieg bedroht und von ständigen Morddrohungen traumatisiert, wurde für den Fotografen Mohamed Badache der Beruf zur Gefahr. In Hamburg hat er die Arbeit mit der Kamera für sich wiederentdeckt

Text – Kay Dohnke

Da sitzt er in einer kleinen Hamburger Dachwohnung und erzählt: von den Wirren im Algerien der 90er Jahre, von Regierung, Demokraten und Fundamentalisten, einer annullierten Wahl, von Terror und Mord. Erzählt ruhig, präzise, so als wolle er nicht nur seinen Zuhörern begreiflich machen, was damals passierte, sondern um es auch endlich selbst zu verstehen. Erzählt, als habe das alles irgendwie gar nichts mit ihm zu tun und der Tatsache, dass er nun in Hamburg lebt.

Mohamed Badache, algerischer Journalist und Fotograf: politischer Flüchtling, Hamburger auf Zeit. Ein Jahr lang, seit April 1999, hat er hier als Stipendiat der Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte ohne Angst und vielleicht sogar sorgenfrei leben können. Und wieder arbeiten – denn in den Unruhen Algeriens war es lebensgefährlich, wenn man sich mit einer Kamera in der Öffentlichkeit sehen ließ.

DEMONSTRATIONEN, KONFERENZEN, BOMBENATTENTATE

Badache und die Fotografie – das ist eine Geschichte voller Zufälle. Eigentlich als Schreiber bei der algerischen Zeitung Alger Republicain tätig, griff er eines Tages kurzerhand zur Kamera, als sich der Fotografenkollege krank meldete; immerhin hatte Badache früher ein paar Kurse absolviert, war also kein blutiger Laie. Fortan brachte er nun häufiger selbst die Bilder von seinen Recherchen mit. Und als er dann eine Reportage über die Kunsthochschule von Algier machte, fragte man ihn, ob er nicht Kurse für die Studenten geben könne. Badache konnte, tat es zwei Jahre lang, bis der Institutsleiter und dessen Sohn ermordet wurden.

Für Mohamed Badache stand journalistische Arbeit immer in politischem Zusammenhang. Als Mitglied einer Oppositionspartei und Lehrer an einem Ausbildungsinstitut brauchten ihn seine politischen Weggefährten nicht erst zu überreden, bei der mehrfach verbotenen und 1990 wieder erschienenen links-demokratischen Zeitung Alger Republicain mitzumachen. Von 1992 bis 1995 arbeitete er dann für Le Matin, ebenfalls ein Oppositionsblatt. Badache berichtete in Wort und Bild über soziales und politisches Leben, über Demonstrationen, Regierungskonferenzen, die sich häufenden Anschläge und Bombenattentate. Daneben auch immer ein wenig über Kultur.

Und dann versucht Mohamed Badache zu erklären, warum Algerien trotz des beginnenden Demokratisierungsprozesses in ein bürgerkriegsähnliches Chaos stürzte. Warum 1992 die fairen Wahlen annulliert wurden, als die Fundamentalisten der Islamischen Heilsfront (FIS) einem sicheren Sieg entgegengingen. Erzählt nicht nur von den drei Machtblöcken aus autoritärer Regierung, Islamisten und Demokraten, sondern einer vertikal gespaltenen Gesellschaft und den ökonomischen, zivilisatorischen, ideologischen Problemen eines Landes, wo Modernisten gegen Fundamentalisten stehen und jeweils Arbeiter, Bourgeoisie und Intellektuelle auf ihrer Seite haben. »Algeriens Konfliktlinie verläuft nicht zwischen Klassen oder gegenüber Minderheiten, sondern quer durch alle Lager und die Regierung selbst. Die einen wollen Richtung Modernität, wollen einen europäischen Lebensstil, die anderen wollen rückwärts, fordern den totalitären Gottesstaat.« Und dazwischen gab es eine große Bevölkerungsgruppe, die nicht mehr wusste, wohin. Dann kam die Gewalt, kamen die Anschläge, Morde, die Massaker.

TODESDROHUNG PER FA

Und Badache erzählt, warum es gerade ihn – auch ihn – betraf: Weil er für Zeitungen schrieb. Weil er mit der Kamera unterwegs war. »Alle Journalisten, die sich engagierten – und es haben sich nur sehr wenige Zeitungen im Kampf gegen die Fundamentalisten eingesetzt – hatten Probleme. 1991 schrieb nur Alger Republicain gegen die Islamisten, dazu kamen ein paar freie Journalisten wie Tahar Djaout, einer der ersten Ermordeten: ,Wenn du sprichst, wirst du sterben, wenn du schweigst, wirst du sterben – also sprich und stirb.‘ Das war das letzte, was er geschrieben hat…«

Doch nicht nur FIS und die gewalttätige GIA, auch Teile der Regierung waren gegen eine freie Presse, gegen demokratische Aufklärung. »Alle Journalisten – ohne Ausnahme – haben Todesdrohungen erhalten. Oft auf ganz einfache Weise. In der Redaktion springt das Faxgerät an, und dann steht da: ,Du bist ein Feind der Islamisten, wir werden dich töten.‘ Und das Schlimme war – es blieben nicht nur Drohungen. Zwischen 1992 und 1995, 1996 hat man sich immer wieder auf den Friedhöfen getroffen, wenn ermordete Kollegen oder Künstler und Intellektuelle beerdigt wurden. Und jede Nacht und jeden Morgen hat man gedacht, jetzt bin ich an der Reihe.«

KAMERA ALS ZIELSCHEIBE

Wie die anderen gefährdeten Journalistinnen und Journalisten bemühte sich Badache, der Bedrohung zu entgehen. Wechselte Nacht für Nacht sein Quartier, versuchte unauffällig zu sein. Doch wie macht man das als Fotograf, wenn man sich bei der Arbeit mit der Kamera zeigen muss und dabei unvermeidbar zur Zielscheibe eines möglichen Mordanschlags wird? In einem Land, wo die Wände Augen und Ohren zu haben schienen. Wo Sprengsätze in Redaktionsbüros geworfen wurden. Wo fast 60 Journalisten Morden zum Opfer fielen. Es dauerte lange, bis die Regierung auf die Situation reagierte, begriff, dass sie die Journalisten zu schützen hatte. Sichere Hotelkomplexe wurden eingerichtet, in denen die Medienleute nachts Zuflucht fanden.

Doch wenn man rausging? Mittvierziger weicht einer klaren Antwort aus. »Zumindest die Nacht konnte man in Sicherheit verbringen. Meistens waren die Familien dabei. Und nach 1995 besserte sich die Situation ja, aber vorher musste man sich vor jedem in Acht nehmen.«

Tatsächlich besserte sich die Situation – aber sie wurde für Mohamed Badache trotzdem nicht einfacher. Die meisten seiner Freunde waren 1992 nach Frankreich gegangen, was auch er hätte tun können. Doch er lehnte das kategorisch ab, wollte in seinem Land bleiben, denn irgendwann musste die Lage sich ja wieder ändern. Als dann tatsächlich die Wende eintrat, war Badache ausgebrannt, am Ende seiner Kraft. Die Furcht saß inzwischen zu tief – ihm fehlte der Antrieb zu arbeiten, er verließ über lange Zeit kaum noch das Haus.

Irgendwann kam dann das Gefühl, ,Jetzt kann ich gehen‘ – jetzt, als er nicht mehr so dringend gebraucht wurde. Über einen Ex-Kollegen von Le Matin hörte er von der Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte, die seinen Fall prüfte und ihn dann schließlich einlud, ein Jahr lang in Hamburg Ruhe zu finden.

IN SICHERHEIT – UND HILFLOS

In Deutschland brauchte Badache viele Wochen, um aus der in Algerien entstandenen Depression herauszukommen, sich den Menschen um ihn herum wieder zu öffnen. Er besuchte Sprachkurse, fand Anschluss an einen deutsch-französischen Kreis, in dem er sich wie in einer Familie vorkam. »Ich hatte das Gefühl, ich lebe ein zweites Leben. Und ich war frappiert von der Spontaneität, der Herzlichkeit, Gastfreundschaft – die fand ich überall. Und das, obwohl ich die Sprache noch nicht konnte.«

Doch die viele Hilfsbereitschaft machte Badache auch seine eigene Hilflosigkeit schmerzlich spürbar. »Ich wollte selbst etwas geben, aber wusste nicht, was – ich hatte ja nichts. Schreiben konnte ich nicht, denn ich beherrschte die Sprache nicht. Aber in der Fotografie kann ich mich ausdrücken.« Fehlte nur die Kamera – mit Unterstützung der Stiftung fand sich ein Spender, der ihm eine Nikon schenkte.

Ein merkwürdiges Gefühl, zum ersten Mal wieder offen mit der Kamera hinauszugehen. Badache ist durch die Straßen gelaufen, hat Menschen fotografiert, aber ohne richtiges Ziel. »Ich habe die Bilder gestohlen«, versucht er zu erklären – denn die Leute wussten nicht, dass er sie aufnahm. Als er irgendwann unbemerkt die Teilnehmer des Sprachkurses fotografiert hatte und der Leiter der Schule ihm vorschlug, seine Fotos in einer Ausstellung zu zeigen, freute er sich über diese Möglichkeit, für die geschenkte Kamera auf diese Weise Danke zu sagen.

VON DER HILFSTECHNIK ZUR BILDSPRACHE

Badaches in Hamburg entstandene Bilder verraten, wie er sich vorsichtig, zaghaft wieder an die Fotografie herantraut. Er wohnt ruhigen Momenten und Situationen bei, aber muss sich erneut darauf einlassen, seine Umgebung durch ein Objektiv wahrzunehmen. Fotografie – daheim zur Gefahr geworden – muss neu entdeckt, neu erobert werden. In Hamburg faszinieren ihn Momente, die es im Algerien des Bürgerkriegs nicht mehr gab: privates Leben in der Öffentlichkeit, Menschen, die Zeit haben, einfach da sind ohne Hast oder Mißtrauen. Eine Umwelt, die uns so vertraut und gewöhnlich erscheint, für ihn aber eine ganz besondere Qualität hat. Und er kann wieder mit der Kamera dabeisein: »Man arbeitet hier ohne Angst – wo du willst, wann du willst.«

Seine Rückkehr zur Fotografie – das Mittel, um sich in seiner anfänglichen Sprachlosigkeit ausdrücken zu können – öffnete Mohamed Badache den Zugang zu einer neuen Sprache: einer eigenen Bildsprache, die sich erst jetzt langsam entwickeln kann; im Alltagsstress des Reporters und dann unter der Bedrohung war in Algerien an soetwas nicht zu denken gewesen.

Überhaupt: Fotografie in Algerien. Darauf angesprochen, muss Badache lächeln. »Deutschland ist das Land der Fotografie – die Fotografie in Algerien ist weit zurück.« Gewiss, 1997 wurde Hocine für sein Bild »Madonna von Benthala« mit dem World Press Photo Award ausgezeichnet, ein Mann ohne fotografische Ausbildung, den Badache seit seiner Kindheit kennt und mit dem er zusammengearbeitet hat. Doch es gibt in Algerien keinen speziellen Ausbildungszweig für Fotografie, und Badache hat an der Kunsthochschule vorrangig Technik vermittelt, weil Bildhauer und Künstler ihre Arbeiten selbst fotografieren wollten – bedarfsorientiert, als Hilfstechnik, aber nicht als eigenständige Bild- oder Medien-Sprache.

Und es gab noch weitere Erschwernisse: Jegliche technische Mittel fehlten; Badache arbeitete mit Filmen, die bis zu 15 Jahre überlagert waren. Es gab kaum Schwarz-Weiß-Material, nur schlechtes Papier, schlechte Filme. Auch die Drucktechnik war miserabel, so dass Fotografie in seinem Heimatland nur ein sehr niedriges Renomee besitzt.

Kein Wunder, dass Badache die Arbeitsmöglichkeiten in Deutschland genießt, völlig neu Seiten seiner Profession entdeckt: »Hier gibt es keinen Druck, schnell zu sein, hier kann man nach Motiven suchen. Das richtige Licht, den perfekten Moment abwarten.« Von seiner Arbeit in Algerien ist ihm kaum etwas geblieben; das wenige Bildmaterial, das er mitnehmen konnte, zeigt Spuren der gefahrvollen Vergangenheit – die Negative, irgendwann schnell zusammengerafft und in eine Tasche gestopft, um sie zu verstecken, tragen Kratzer.

In Algerien vorrangig Reportagefotograf, hat Mohamed Badache in Deutschland erstmals als künstlerischer Fotograf gearbeitet, mit einem anderen, einem neuen ästhetischen Blick.

PERSPEKTIVE AUF ZEIT

»Nun ist Mohamed Badache wieder nach Algerien zurückgekehrt, in eine unsichere Zukunft« – noch vor wenigen Wochen hätte ein Porträt dieses Fotografen vermutlich mit diesem oder einem ähnlichen Satz geendet. Doch es entwickelte sich anders: Eine große deutsche Firma aus der Fotobranche gab Geld für eine Ausstellung seiner Bilder, und Dank der finanziellen Unterstützung durch einen Freundeskreis gelang es Mohamed Badache, seine Zeit in Hamburg zu verlängern – so dass er nun zwei weitere Jahre bleiben und an der Hochschule für bildende Künste sein ersehntes Aufbaustudium im Bereich visuelle Kommunikation absolvieren kann.

DIE HAMBURGER STIFTUNG FÜR POLITISCH VERFOLGTE

Auftauchen, um Luft zu holen

Was haben ein kurdischer Anwalt und ein algerischer Filmemacher, ein Studentenaktivist aus Kamerun, eine türkische Journalistin und eine Ärztin aus dem Iran gemeinsam? Ihre unterschiedlichen politischen Lebensläufe sind von Engagement für Menschenrechte und daraus resultierender persönlicher Verfolgung geprägt – und sie alle waren als Stipendiaten der Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte auf ein Jahr an der Elbe zu Gast. Wie außer ihnen ein kirgisischer Lyriker, ein kolumbianischer Journalist, ein Physiker aus Singapur und andere.

Ein Jahr Sicherheit: Die Stiftung lädt Verfolgte nach Hamburg ein, um Ruhe zu finden, um wieder – allein oder mit der Familie – gefahrlos leben, sich frei und ohne Angst bewegen zu können. Sie finanziert neben dem Aufenthalt auch Reisekosten und Versicherungen. Und motiviert die Flüchtlinge zu weiterer politischer Arbeit, zum Aufbau eines Netzwerkes von Kontakten, die nach der Rückkehr zu größerer persönlicher Sicherheit beitragen können. Wenn jemand nicht wieder heimkehren kann, hilft die Stiftung bei der Suche nach neuen Zukunftsperspektiven.

Die Hamburger Stiftung arbeitet gezielt und effektiv – und ist als Hilfsorganisation einzigartig in Deutschland. 1986 auf Initiative von Klaus von Dohnanyi gegründet, der damit Konsequenzen aus der Verfolgung seiner Familie während der Nazizeit zog, und von Jan Philipp Reemtsma mit einer Anschubfinanzierung gefördert, wird sie jetzt von einem auf eigenen Wunsch anonymen Hauptsponsor und privaten Spendern getragen. Über 35 Stipendiaten konnten bisher trotz knapper Mittel unterstützt werden – angesichts der weltweiten Unterdrückung engagierter Menschen nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Aber ein wichtiger.