Magazin #18

Auf einzigartige Weise sehen

Er prägt die Bebilderung von zehn Millionen Magazinheften – Monat für Monat. Kent Kobersteen gehört als Director of Photography des National Geographic Magazine zu den weltweit wichtigsten Leuten im Fotogeschäft. 

Interview – Karl Johaentges & Kay Dohnke

FREELENS: Die im National Geographic Magazine publizierten Fotos setzen Standards. Welchen Einfluss haben Sie darauf?

Kobersteen: Als Director of Photography gehört es zu meinem wichtigsten Verantwortungsbereich, Fotografen zu engagieren. Das ähnelt dem Coaching professioneller Sportler – man heuert die bestmöglichen Leute an, gibt ihnen den am besten geeigneten Job und lässt sie dann ihre beste kreative Leistung erbringen. Was ich suche, sind Fotografinnen und Fotografen mit einer einzigartigen Sehweise. Wir wollen Fotografen mit einer persönlichen Vision und eigenem fotografischen Stil, aber ihre Bilder sollen das Objekt repräsentieren, nicht den Urheber selbst.

Lassen Sie mich erklären, was ich damit meine: Wenn man die Arbeiten eines Fotografen oder einer Fotografin mit ausgeprägtem persönlichen Stil anschaut, weiß man hinterher oft mehr über ihn oder sie als über das Objekt der Bilder. Das ist prinzipiell völlig in Ordnung – jedoch nicht in einem journalistischen Medium. Wir sind kein Fotomagazin, sondern ein allgemeines Blatt, das Fotografie als eines seiner primären Kommunikationsmittel nutzt. Wir brauchen Fotografen, die die Welt auf einzigartige Weise sehen – aber sie müssen journalistische Fotos machen, die Informationen über das Objekt kommunizieren.

Warum müssen NG-Fotografen eine solche einzigartige Sehweise haben?

Es gab eine Zeit, da reichte es völlig aus, unsere Fotografen in entlegene Regionen zu schicken und sie dort – in einem sehr direkten Sinn – das dokumentieren zu lassen, was sie sahen. Heutzutage kann jeder in die fernsten Winkel der Erde reisen. Und das hat uns und andere Magazine dazu gezwungen, neue Ansätze zu finden, um den Lesern neue Informationen zu liefern.

Unsere Fotografie muss den Lesern neue und aktuelle Informationen vermitteln – Lesern, die möglicherweise selbst an jenen Orten gewesen sind, von denen wir berichten; Lesern, die Berichte über diese Orte auch schon in anderen Publikationen, im Fernsehen oder im Internet gesehen haben. Wir müssen ihnen visuelle Informationen geben, die sie sonst nicht bekommen.

Worin unterscheidet sich National Geographic von anderen Magazinen?

Hier muss ich noch einmal die hohe Bedeutung der Fotografie für das Magazin betonen. Wir sind kein Fotomagazin, aber setzen visuelle Elemente – Fotos, Karten, Grafiken – als primäres Kommunikationsmittel ein. Wann immer wir ein Thema für einen Artikel in Erwägung ziehen, ist eine ganz zentrale Frage, ob man es auch fotografieren kann.

Wir haben eine Theorie, wie sich Leute ein Magazin anschauen. Sie blättern es durch und gucken auf die Fotos. Haben sie Interesse am Thema, schauen sie ein wenig länger hin und lesen vielleicht auch die Bildunterschriften. Und wenn sie dann noch mehr Interesse haben, lesen sie den Text. Wenn man dieser Theorie folgt, wird deutlich, dass außer den Fotos die Bildunterschriften sehr, sehr wichtig sind – wir sehen sie als Brücke zwischen den Fotos und dem Text. Und wir wissen, dass einige Leute diese Brücke nicht beschreiten werden.

Wir wollen jenen Leuten, die nur die Fotos anschauen und die Bildunterschriften lesen, so viel wie möglich vom Thema vermitteln. Ja, wir wollen, dass auch jene Leute, die einzig die Bilder anschauen, so viel wie möglich davon mitbekommen. Also müssen die Fotos selbst die Geschichte erzählen – man kann sich nicht darauf verlassen, dass die Leute lesen. Die Bilder müssen von Anfang an den größten Teil der Arbeit leisten. Aber Leute, die sowohl die Bildunterschriften als auch den Text lesen, sollen in den BUs nicht dieselben Informationen wie in der Geschichte bekommen. Und die BUs sollten nicht dieselben Informationen enthalten wie die Bilder. Manchmal wird die Verbindung zwischen Haupttext und Fotos durch die Bildunterschriften geleistet.

Die Fotos spielen also die wichtigste Rolle im Heft.

Ja. Viele Magazine sehen das geschriebene Wort als Kommunikation an und die Fotografie als Dekoration. Wir hingegen wollen eine Fotografie, die mehr leistet als nur das Aussehen einer Person oder einer Sache zu zeigen. Um es mit einer Sprachanalogie auszudrücken: Wir suchen in der Fotografie nach Poesie anstatt nach einfachen, beschreibenden Sätzen. Und gegenüber Bildern, die zeigen, wie eine Sache aussieht, bevorzugen wir Fotos, die vermitteln, wie sich eine Sache oder eine Situation anfühlt.

Wenn wir das Foto einer Straße in Hamburg – oder Washington, D.C., oder Brüssel oder Peking – machen würden, wäre es der Versuch, nicht nur den optischen Eindruck dieser Straße zu geben, sondern wir würden den Betrachtern des Bildes auch vermitteln wollen, was für ein Gefühl es ist, diese Straße entlangzugehen – die Sonne bzw. im Fall von Hamburg der Regen, Geräusche, die Gerüche, das Visuelle, das Gefühl. Im Idealfall wollen wir eine Fotografie, die alle Sinne anspricht – nicht nur das Sehen.

Findet diese Einschätzung nur dann statt, wenn Sie einen neuen Fotografen buchen?

Wir legen diese Kriterien kontinuierlich zugrunde, wenn wir die Bilder für jede einzelne Geschichte des Magazins evaluieren. Wir versuchen dabei solche Fotografinnen und Fotografen auszuwählen, deren Aufnahmen weit über die direkte Nachrichtenfotografie hinausgehen. Wir müssen Bilder publizieren, die mit unseren Lesern kommunizieren. Und das heißt auch, dass wir gelegentlich Fotos sehen, die wir sehr mögen, aber die nicht zu unserem Magazin passen.

Wir suchen Fotografen, die Beobachter des menschlichen Lebens sind, Dokumentarfotografen, die aussagekräftige nicht-fiktionale Bilder machen, die auf mehreren Ebenen funktionieren – komplexe Bilder, aber keine einfachen, schnell zu erfassenden Fotos. Wir wollen komplexe Bilder, die mit simpler Technik gemacht werden, aber keine simplen Bilder, die mit komplexer Technik gemacht wurden.

Und wir suchen keine Bilder, die von ihren Urhebern produziert oder arrangiert wurden, sondern Fotos, die einen wirklichen Moment im täglichen Leben der abgelichteten Person festhalten und etwas über den Charakter dieses Menschen enthüllen. Ich glaube, wer für ein journalistisches Medium arbeitet, arrangiert keine Fotos. Und ich kann Chefredakteure nicht verstehen, die sagen, ein Autor dürfe sich zwar keine Zitate ausdenken, doch ein Fotograf könne seine Bilder gern arrangieren. Für mich ist das total unlogisch – aber ich weiß, dass es das gibt.

Was meinen Sie genau mit »Fotos arrangieren«?

Das ist nicht leicht zu sagen, denn es gibt hierfür keine festen Regeln – es ist mehr ein Gefühl, was erlaubt ist und was nicht. Es gibt zweifellos Situationen, in denen man eine Szene ausleuchten muss, aber das ist nicht ein Arrangieren des Fotos. Was ich meine, wäre beispielsweise eine Situation, in der man Personen bittet, etwas Bestimmtes zu tun – man schafft sozusagen einen künstlichen Moment. Natürlich braucht man manchmal Licht und Hilfsmittel, und es ist völlig okay, eine Szenerie auszuleuchten und die Situation sich dann frei entwickeln zu lassen, ohne dass der Fotograf Anweisungen gibt; die Menschen handeln dann weitestgehend so, wie sie es auch sonst tun würden. Auf der anderen Seite wäre jene Fotografie, bei der Gesten und Körperhaltungen angeordnet werden, aus meiner Sicht eher für Porträtfotografie geeignet. Im Wesentlichen hoffe ich, dass unsere Fotografen in einer dokumentarischen Situation dem Subjekt gestatten, frei zu handeln, ohne regelnd einzugreifen. Wenn man ein Porträt machen will und bittet die Person, ans Fenster zu treten – fein, denn das ist nichts anderes, als die Szene auszuleuchten. Aber ganze Situationen so zu dirigieren, wie es Hollywood tut, ist in einem journalistischen Sinn nicht legitim.

Im Wesentlichen sollte es bei journalistischer Fotografie von Menschen um eine sich tatsächlich ergebende Situation handeln und nicht um etwas, was der Fotograf choreografiert. Grundsätzlich hoffe ich, dass unsere Fotografen mit dieser Philosophie übereinstimmen und sich entsprechende eigene Regeln aufstellen, wenn sie draußen sind und arbeiten.

Aber das kann man in Einzelfall nicht überprüfen …

Natürlich ist ein großes Vertrauen in die Fotografen hierbei unverzichtbar. Jeder Journalist – egal, ob Schreiber oder Fotograf – sollte ethische Grundsätze haben und alles berufliche Tun daran ausrichten und alle Entscheidungen danach treffen. Ich versuche hier nicht, die richtigen Verhaltensweisen vorzugeben, ich versuche nur, ein Beispiel für die Philosophie zu geben, die ich von unseren Fotografen erhoffe, so dass wir sowohl ästhetisch als auch journalistisch und ethisch die Art von Fotografie bekommen, die ich für unser Magazin für passend halte.

Dieser Anspruch ist nicht unbedingt verbreitet …

… und er ist aufwändig! Sowohl Fotografen als auch Bildredakteure anderer Publikationen sagen, dass diese Art der Fotografie mehr Zeit und Geld erfordert, als ihnen zur Verfügung steht. Tatsächlich haben wir bei National Geographic größere Ressourcen an Zeit und Geld. Meine Abteilung hat zweifellos eines der höchsten Budgets im Magazin, und in allen wichtigen redaktionellen Entscheidungen spielt die Fotografie eine große Rolle. Aber wir haben auch extrem talentierte und intelligente Fotografinnen und Fotografen – denen wir sowohl große Freiheit als auch große Verantwortung geben.

Wenn wir überlegen, wer unsere Leser sind, müssen wir auch daran denken, was wir als Magazin darstellen. Wir können – etwa hinsichtlich von Deadlines – nicht mit Nachrichtenmagazinen konkurrieren. Und trotzdem bemühen wir uns, Artikel zu publizieren, die aktuell und bedeutsam sind. Wir konkurrieren mit den Nachrichtenmagazinen, indem wir eine sowohl sprachlich als auch in der Fotografie tiefer gehende Geschichte präsentieren, als jene es vermögen. Aber wir müssen uns bewusst sein, dass wir den Lesern keine Informationen geben können, die sie nicht prinzipiell bereits haben.

Welche Rolle spielt der Fotograf bei der Produktion einer Geschichte?

Einer der augenscheinlichsten Unterschiede zwischen unserer Arbeitsweise und derjenigen von anderen Magazinen besteht in dem Umstand, dass Fotografen beim NGM am gesamten Entstehungsprozess einer Geschichte teilhaben. Sie kontrollieren ihn nicht, nehmen aber in jeder Phase daran Teil.

Das möchte ich ein wenig ausführen: Viele unserer Themenideen werden redaktionsintern entwickelt, andere kommen von Autoren, manche von Fotografen. Alle Vorschläge von Fotografen landen bei mir, und ich messe einem Themenvorschlag einen hohen inneren Wert zu. Wenn mir also ein Fotograf die Idee für eine Geschichte offeriert, frage ich mich zweierlei – erstens, ob wir an dem Thema Interesse haben, und andererseits, ob es der richtige Fotograf für die Geschichte ist. Und nur wenn ich beides mit Ja beantworten kann, leite ich den Vorschlag weiter. Wir versuchen nicht, Fotografen ihre Ideen abzukaufen, und wir würden ganz sicher nicht den Vorschlag entgegen nehmen, dann »nein, danke« sagen und das Thema mit einem anderen Fotografen realisieren. Doch aufgrund der Zeit und des Geldes, die wir in jede Geschichte investieren, ist es nahezu unmöglich für eine Fotografin oder einen Fotografen, die noch nicht mit uns gearbeitet haben, einen Themenvorschlag erfolgreich unterzubringen.

Und worin besteht dann konkret die weitere Beteiligung?

Wenn unser »Story Committee« ein Thema angenommen hat und wir wissen, wer es schreiben und fotografieren wird, kommen alle zu einem Gespräch zusammen. Dabei geht es nicht darum, Autor und Fotograf zu sagen, was sie tun sollen. Die Vertreter der visuellen Seite – Fotograf und betreuender Bildredakteur – überlegen sich, wie man die Geschichte optisch am stärksten erzählen kann, und die Vertreter der Textseite überlegen sich für ihren Bereich Entsprechendes. Wir machen ihnen keine Vorgaben, wie sie zu arbeiten haben – sie ziehen mit nur sehr wenigen Instruktionen los. Wir erwarten von unseren Fotografen, dass sie hinausgehen und Dinge entdecken – wir wollen, dass sie uns überraschen, wenn sie wiederkommen, aber nicht mit der Technik, die sie verwendet haben, sondern mit den Informationen und Gefühlen, die aus ihren Bildern sprechen.

Vor allem gehen die Fotografen nicht hinaus, um ein Manuskript zu illustrieren. Sie gehen nicht notwendigerweise mit dem Autor zusammen auf Recherche, sondern erledigen ihren Job – das Erarbeiten einer journalistischen Reportage mit der Kamera.

Und wie geht es dann weiter?

Die Fotografen senden ihre nicht entwickelten Filme an die Redaktion nach Washington; sie werden entwickelt und vom Bildredakteur gesichtet. »Oje, der sieht dann meine Fehler«, wird mancher Fotograf denken – aber wir wollen alles Material sehen, wollen die Skizzen kennen. Wenn die Geschichte halb fertig fotografiert ist, kommt der Fotograf in die Redaktion und bespricht mit dem Betreuer die zweite Hälfte der Reportage. Wenn dann die Endauswahl getroffen ist, präsentiert der Fotograf sie dem Chefredakteur. Und der Fotograf ist auch beim anschließenden Layout beteiligt.

In Ihrer Funktion bekommen Sie alle wichtigen neuen Trends mit. Welche Rolle spielt digitale Fotografie für Sie?

Beim derzeitigen Entwicklungsstand muss man der digitalen Geschwindigkeit zuliebe qualitative Einbußen hinnehmen. Wir aber brauchen die Qualität – nicht die Geschwindigkeit. Und ich halte Digitalfotografie aus noch einem anderen Aspekt heraus für problematisch: Sie erlaubt es dem Fotografen, nachlässig zu sein. Man muss sich nicht so viele Gedanken über Belichtungszeiten oder die Farbtemperatur machen; vieles ist scheinbar simpler. Doch ich glaube fest daran, dass man über gewisse ästhetische Level nicht hinauskommen kann, wenn man nicht mit Diafilm arbeitet – die Disziplin, die die Verwendung von Diafilm dem Fotografen abnötigt, ist einfach unverzichtbar, um das nächsthöhere Niveau zu erreichen.

Und zudem hassen unsere Bildredakteure digitale Bilder – man weiß nie, was man wirklich hat. Bei einem Print kann man sich vorstellen, wie es später im Druck auf Papier aussieht, aber das geht nicht am Monitor.

Auch wenn der Trend zur digitalen Fotografie stark ist, wage ich die Voraussage, dass die letzten Partie Diafilm, die je produziert wird, mit ziemlicher Sicherheit von uns aufgekauft werden wird.

Kent Kobersteen
ist Director of Photography beim National Geographic Magazine in Washington, D.C. 1965–1981 Fotograf bei der Minneapolis Tribune, 1983 bis 1987 Bildredakteur, bis 1997 Assistant Director of Photography, seit Februar 1998 Director of Photography beim NGM. Kobersteen war Referent auf dem FREELENS-Jahrestreffen am 26. April 2002 in Hamburg. In die Druckfassung des Gesprächs sind Elemente des Vortrags und Antworten auf Fragen aus dem Publikum eingeflossen.