Magazin #20

Archiv der Träume

Sie sammeln seit 150 Jahren – die Mitglieder der Französischen Fotografischen Gesellschaft. Was sie an Schätzen zusammengetragen haben, bildet einen einzigartigen Querschnitt durch die Geschichte eines Mediums.

Text – Andreas Licht

Gut platziert hat sich der Sportfotograf mit seinem 400-mm-Teleobjektiv, direkt am Ende der Laufbahn. Gleich wird der Startschuss fallen. Es sind Olympische Spiele, 100-m-Finale der Frauen. Die Kamera ist schussbereit: 1/8000 Sekunde, Blende 5.6; der Autofokus und Motordrive auf current setting und die Belichtungsmessung von Matrix auf Spot umgestellt. Jetzt kann es losgehen. Die spätere Siegerehrung wird dann digital fotografiert.

Eine Situation wie diese wäre vor 20 Jahren kaum vorstellbar und vor 150 Jahren die reinste Utopie gewesen. Doch in Frankreich glaubten damals ein paar Männer an eine Utopie – an die fotografische Utopie. Sie hatten Zukunftsträume, Hirngespinste, weit jenseits der Realität in einer Zeit, als es noch keine Autos und kein Telefon gab und Paris abends abgeschlossen wurde, damit kein Gesindel nächtliches Unwesen trieb.

1854 – ein Jahr später als die Royal Photographic Society in England – wurde in Paris die »société Française de photographie« (SFP) gegründet. Joseph Nicéphore Niépce hatte 28 Jahre zuvor mit einer Belichtungszeit von acht Stunden in Chalon-sur-Saône das erste Foto einer Straße gemacht, Louis Jacques Mandé Daguerre 15 Jahre vorher das erste brauchbare fotografische Verfahren vorgestellt, die Daguerréotypie – und damit den Grundstein des fotografischen Fortschritts gelegt. Zielsetzung der neuen Gesellschaft war die Entwicklung fotografischer Apparate und Verfahren. Zu den Gründungsmitgliedern gehörten für einen Fotohistoriker so bekannt klingende Namen wie Hippolyte Bayard, Edmond Becquerel und Gustave Le Gray. Es waren keine Berufsfotografen, die sich in diesem Verein trafen – es waren Amateure, Forscher und Erfinder, begeistert von der neuen Technik mit ihren Möglichkeiten, getrieben von ihren Träumen des perfekten Abbilds der Realität.

Von Anfang an wurde in der SFP gesammelt. Erst waren es Bücher, dann die Prototypen von Fotoapparaten, Konstruktionszeichnungen und schließlich auch Fotos – und nicht nur Aufnahmen von Mitgliedern. So archivierte man viele Dokumente und Fotografien aus der Zeit vor 1854, auch aus dem Ausland, unter anderem Bilder des Engländers Henry Fox Talbot, dem Erfinder des Positiv/Negativ-Verfahrens. Und es gab Kontakte zum Ausland und korrespondierende Mitglieder. Jährlich organisierte die Gesellschaft Ausstellungen, um der Öffentlichkeit die Fortschritte der Forschung zu präsentieren. In einem Jahrbuch, dem so genannten Bulletin, wurde die Arbeit der Société dokumentiert. Es wurden Patente angemeldet, Prototypen konstruiert und diskutiert, Prozesse ausprobiert. Und schließlich landeten alle Bilder und Objekte in einem Archiv.

Diese akademische Arbeitsweise prägte das Bild der Gesellschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. In dieser Zeit gab es zwei Strömungen in der SFP, die industriell-technische, bei der es um die Entwicklung von Apparaten und Techniken ging, und die künstlerische, bei der die Entwicklung einer Bildsprache im Vordergrund stand. Dies änderte sich erst mit der fortschreitenden Industrialisierung des Mediums und der Herstellung von Apparaten mit der einhergehenden Öffnung des Mediums für breitere Bevölkerungskreise.

So trat um 1900 die fotografische Ausbildung an die Stelle der Entwick­lung. Die Gesellschaft begann sich zu dieser Zeit auch mit dem jungen Medium der Cinémathographie zu beschäftigen. Aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg erkannte man die Bedeutung des einzigartigen Archivs, doch die SFP hatte Probleme – sie litt unter Mitgliederschwund, und es bestand die Gefahr, dass das Archiv auseinander gerissen würde, wie es der Sammlung der Royal Society in England erging. Bei Umzügen waren auch schon aus Platzgründen Dinge ausgesondert worden.

Die Situation der SFP änderte sich erst 1993. Die Gesellschaft musste ihre damaligen Räume aufgeben, und das Archiv wurde zwischengelagert. Eine Gruppe von Foto- und Kunsthistorikern und freiwilligen Helfern nahm sich der SFP und ihres Archivs an. Unter der Leitung des neuen Präsidenten Michel Poivert und des Generalsekretärs André Gunthert wurde die Sammlung katalogisiert und konserviert und die Gesellschaft zu dem gemacht, was sie heute darstellt – eine museale Sammlung und ein Zentrum für fotografische Forschung. Die Gesellschaft gibt weiterhin jährlich ihr Bulletin heraus. Außerdem erscheint die Zeitschrift études photographique mit Aufsätzen zur Geschichte und Gegenwart der Fotografie – ein Aspekt, der bei der französischen Gesellschaft immer mehr in den Vordergrund rückt.

Das Archiv ist heute in fachkundigen Händen, und oft sind Objekte und Bilder daraus als Leihgaben in Ausstellungen zu sehen. Der 150. Geburtstag der »société Française de photographie« bietet die einmalige Gelegenheit, eine Auswahl aus der reichhaltigen Sammlung der SFP in Augenschein zu nehmen.

Sie wird nach verschiedenen Utopien gegliedert sein – dem Traum vom Reisen anhand von Fotografien, dem Traum von der Reproduzierbarkeit der Bilder, dem Traum vom totalen Sehen mit Mikroskop und Kosmosaufnahmen, der Geburt eines imaginären Museums mit Hilfe der Fotografie, dem Traum von einer fotografischen Kultur oder dem Traum vom farbigen Bild, den Autochromen. Damit wird dann auch der zeitliche Rahmen der Auswahl aus dem »Archiv der Träume« abgesteckt – von den Anfängen der Fotografie bis 1918.

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Andreas Licht
studierte an der FH Bielefeld Fotografie. 1989 Diplom, seit 1993 freier Fotograf, seit 1998 Mitglied der DGPh. Lebt und arbeitet in Paris.