Fotografie und Authentizität im Zeitalter von Photoshop und KI
Ein Zwischenruf von Stefan Enders anlässlich der intensiv geführten Diskussion zwischen Fotografinnen und Fotografen des Berufsverbandes FREELENS über die Kennzeichnungspflicht von bearbeiteten Fotos zum Schutz einer authentisch journalistischen Fotografie.
Text – Stefan Enders
1. Die Äußerung, das Thema Künstliche Intelligenz würde nun auch nichts Entscheidendes mehr verändern, da die Menschen bereits durch die allseits bekannten Möglichkeiten der digitalen Manipulation mithilfe von »Photoshop und Co« nicht mehr an den dokumentarisch-authentischen Aspekt der Fotografie glauben würden, ist falsch.
Das sogenannte »Wirklichkeitsversprechen«, das der Fotografie seit ihrer Erfindung anhaftet, ist auch weiterhin im gesellschaftlichen Bewusstsein mit dem Medium Fotografie verknüpft. Sonst hätten die Fotografien aus dem ukrainischen Butscha im Frühjahr des letzten Jahres niemals solch eine internationale Wirkung erzielt. Durch die Anwesenheit diverser, unabhängiger Medien vor Ort verlor auch der Vorwurf der russischen Seite, das Ganze sei mit Schauspielern für die Medien inszeniert, seine Glaubwürdigkeit.
Die Bilder aus Butscha sind einerseits ein Beispiel dafür, wie sehr Menschen auch weiterhin davon ausgehen, dass Bilder, die sie morgens in ihrer Tageszeitung oder abends in der Tagesschau sehen, einen authentischen Charakter besitzen, im Sinne von: Diese Situation, dieses Geschehen hat so stattgefunden. Unsere Außenministerin hat gestern diesem oder jenem Gast die Hand geschüttelt.
Die Bilder aus Butscha verdeutlichen andererseits aber auch, welch wichtige, moralische wie auch historische Bedeutung dokumentarisch-authentische Fotografien auch heute noch, in Zeiten von Photoshop und KI, besitzen: Erst die Existenz der Fotografien löste eine solche internationale Reaktion aus. Sei es, weil sie als Beleg für das Massaker fungierten, sei es, weil sie durch das Transportieren von Emotionen die internationale Empörung über dieses Kriegsverbrechen bewirkte.
Auch die Milliarden der weltweit fotografierenden Smartphone-User belegen, allen skeptischen Einwänden zum Trotz, den Glauben an das »Wirklichkeitsversprechen« der Fotografie. Ihr tägliches, beinahe schon reflexhaftes Fotografieren, selbst mit der Benutzung von digitalen »Aufhübsch«-Filtern der modernen Geräte, entspricht letztlich dem Wunsch des Festhalten-Wollens eines Lebensmoments: »Seht her, so war’s«. Schon beinahe so, als ob wir durch den Griff zur Kamera, durch den Versuch, einen authentischen Moment der Wirklichkeit festzuhalten, der Vergänglichkeit unserer menschlichen Existenz etwas entgegensetzen könnten.
2. Auch die Behauptung, digitale Bildveränderungen wären nichts Neues, da es Manipulation schließlich schon immer, eben auch in analogen Zeiten, gegeben habe, ist unzutreffend.
Fakt ist, dass analoge Montagen, wie wir sie, von Stalin oder Mussolini in Auftrag gegeben, aus den Lehrbüchern kennen, eine intensive professionelle Erfahrung und Fähigkeit erforderten, die nur Wenigen vorbehalten war.
Gleichzeitig waren diese Montagen wegen des analogen Materials mit Hilfe einer Lupe immer erkennbar und somit verifizierbar. Digitale Montage dagegen ist nicht mehr verifizierbar. (Auch wenn darüber viel diskutiert und geforscht wird.)
Insbesondere aber die technische Leichtigkeit, verbunden mit der weitverbreiteten gesellschaftlichen Zugänglichkeit der Technik, eröffnete eine vollkommen neue Dimension der Bild-Manipulation, die in keiner Weise mit analogen Zeiten vergleichbar ist.
3. Die Aussage, dass nachträgliche digitale Bildveränderungen, ob mit oder ohne KI vorgenommen, auch nichts anderes seien, als wenn man beim Fotografieren durch einen Bildausschnitt das Bild beeinflusse und manipuliere, stellt eine extrem verkürzte Sicht auf die Problematik des fotografischen Bildes dar.
Klar ist: Fotografie ist durch die individuellen Eingriffe während des Moments des Fotografierens ein absolut subjektiver Vorgang. Bildausschnitt, Moment der Belichtung, Standpunkt, Perspektive, Objektivwahl, Einsatz von Licht oder sogar die Inszenierung vor der Kamera, das alles sind Faktoren, die die »Subjektivität« des Fotografierens beschreiben. Gleichzeitig bewirkt aber der mechanisierte Abbildungsvorgang einen Einfluss der Realität auf das fotografische Bild, durch welchen sich die Fotografie ganz grundlegend von Disziplinen wie der Malerei oder Bildhauerei unterscheidet.
Siegfried Kracauer spricht in seiner »Theorie des Films« vom »mechanisch-zuverlässig projizierten optischen Rohmaterial«, das sich in der Fotografie mit der »Gestaltungskraft des Künstlers vereinigt«, was das »kulturell unerhört Neue der photographischen Abbildung ausmacht. Rudolf Arnheim beschreibt es so: »In der Fotografie treffen sich Sein und Aussage, und nur wer das berücksichtigt, kann sie sehen als was sie ist.«
Bleiben wir bei dem Beispiel der Bilder aus dem ukrainischen Butscha: Einigen der Ermordeten waren die Hände auf dem Rücken gefesselt. Manchen mit weißen Bändern.
Die unterschiedlichen Bilder der verschiedenen Fotojournalisten, die vor Ort waren, verdeutlichen den subjektiv-gestalterischen Moment des Fotografierens: Einige der Bilder sind mit längeren Brennweiten aufgenommen, andere Kollegen waren näher dran und haben Weitwinkel eingesetzt. Dieser individuellen Gestaltung geschuldet entstanden in der Tat sehr unterschiedliche Bilder. Gleichzeitig sind aber auf allen diesen unterschiedlichen Bildern die Ermordeten zu erkennen und zu identifizieren, auch ihre zum Teil gefesselten Hände.
Bei einem Historienmaler aus dem 18. Jahrhundert würde man sich die Frage stellen: Warum hat der Maler diese Bänder weiß gemalt? Bei den Fotografien aus Butscha dagegen stellt sich die Frage: Wieso sind den Menschen die Hände mit weißen Bändern gefesselt worden?
Das Beispiel verdeutlicht, dass sich die fotografische Abbildung quasi zwischen zwei Polen bewegt: Einerseits dem Pol der individuellen und subjektiven Gestaltung des Fotografierenden und auf der anderen Seite dem Pol, den Kracauer als das »mechanisch-zuverlässig projizierte optische Rohmaterial« eines Bildes bezeichnet, welches nicht dem Einfluss des Fotografierenden unterworfen ist.
Dieses Pendeln zwischen dem jeweiligen Einfluss der beiden Pole ist das Charakteristische der Fotografie, und gleichzeitig auch der große Reiz dieses Mediums. Jeder kann für sich selbst festlegen, an welchem Punkt dieser Linie zwischen den beiden Polen er hinsichtlich seiner Arbeitscharakteristik steht und stehen möchte.
Ein Werbefotograf, der seine Bildwelten ausschließlich komponiert und kontrolliert, befindet sich mit seiner Arbeitsweise sicherlich sehr nah am Pol der subjektiven Gestaltung, der Einfluss des Pols der »mechanisch projizierten« Realität wird dabei auf das Minimalste reduziert. Eine Reisefotografin hingegen wird das spielerische Pendeln zwischen den Polen als besonderen Reiz ansehen. Bis hin zu dem Moment, zu einem späteren Zeitpunkt, also in der Dunkelkammer oder am Rechner Dinge der »Realität« auf ihren Bildern zu entdecken, die sie zuvor vielleicht weder geplant noch gesehen hat.
Für eine dokumentarisch-authentische Fotografie ist es selbst verpflichtend, dass Gegenstände dieser »mechanisch projizierten« Realität nach der Aufnahme weder hinzugefügt noch weggenommen werden dürfen. Der Betrachter der Aufnahmen aus Butscha hat den Anspruch darauf, dass die weißen Handfesseln der ermordeten Ukrainer auch in dieser Farbe wiedergegeben und nicht verändert werden.
4. Es gibt einen über den langen Zeitraum der Fotografie-Geschichte entstandenen gesellschaftlichen Konsens bzgl. der Wahrnehmung eines dokumentarisch-journalistischen Fotos: Das Bewusstsein, dass die Erstellung einer Fotografie sehr stark durch die subjektive Gestaltung des Fotografierenden geprägt ist, ist vorhanden.
Der Konsens besteht aber darin, dass man kann sich darauf verlassen kann, dass keine nachträgliche Veränderung des »optischen Rohmaterials«, also ein Hinzufügen oder Wegnehmen von Elementen, stattgefunden hat.
5. Der entscheidende Punkt in der Diskussion um authentische Fotografie im Zeitalter von Photoshop und KI muss die Frage der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Fotografe sein.
In welcher Weise sich Fotografie-Schaffende verstehen und definieren, ob als Künstler, Journalist oder sonst was, ist zweitrangig. Entscheidend für die kulturelle Entwicklung, ganz besonders aber auch für die Entwicklung der politischen Demokratie ist die Frage, wie die breite Bevölkerung das fotografische Medium in Zukunft wahrnehmen wird.
Insofern wird es äußerst problematisch, wenn sich dokumentarisch-authentische Bilder mit digitalen Composings oder sogar mit KI-generierten Bildern für den Betrachter nicht differenzierbar vermischen. Also wenn plötzlich im SPIEGEL zwischen den journalistischen Fotos Bilder auftauchen würden, bei denen Bildmanipulationen oder KI-basierte Bild-Generierungen stattgefunden haben. Diesen Prozess müssen wir besonders im Auge haben.
(Im aktuellen Spiegel Nr.35/2023 sehen wir auf Seite 28 ein Foto, das durch die Foto-Credit-Zeile als PR-Foto der Spezialeinheit GSG9 ausgewiesen wird. Sollten nun für PR-Fotos andere Richtlinien der zulässigen Bild-Veränderungen gelten als für journalistische, auch ohne eine entsprechende Kennzeichnung, dann hätten wir hier genau solch ein Beispiel. – Bei der Betrachtung des Bild-Hintergrundes kommen mir sogar wirklich Zweifel, ob hier nicht Eingriffe stattgefunden haben, die für journalistische Bilder nicht zulässig wären.)
6. Wir sollten uns umschauen, wie bei anderen Medien mit dieser Problematik des Authentischen umgegangen wird. Wie sieht dieses Thema z.B. beim Film (also dem Bewegt-Bild) aus, der ja in der Tat eine große Verwandtschaft zum fotografischen Medium hat?
Von Beginn an hat sich beim Film der Bereich des Dokumentarfilms parallel zum Bereich des fiktiven Films, also des Spielfilms, entwickelt. Die beiden Felder scheinen überraschend gut in dieser Koexistenz zu funktionieren, für den Betrachter ohne ersichtliche Probleme hinsichtlich des Auseinanderhaltens der Bereiche und der Bewahrung des Authentischen beim Dokumentarfilm. Auf den ersten Blick wohl dadurch, dass die Bereiche eindeutig und klar getrennt sind. Auch wenn es experimentelle Mischformen gibt, so wird aber in der Regel die Klassifizierung sehr eindeutig eingehalten: Es gibt Festivals für Dokumentarfilme und solche für Spielfilme. Und wenn auf Filmfestivals beide Arten gezeigt werden, finden klare Unterscheidungen der Sparten statt.
Auch bei den schreibenden Kolleginnen und Kollegen scheint die Differenzierung zwischen Authentischem und Fiktion – auch für den Leser – relativ problemlos zu funktionieren. Es gibt diverse, in Journalisten-Schulen akribisch genau definierte Formen des Journalismus – von der Meldung über das Feature bis hin zur Reportage – und es gibt den Bereich der fiktiven Literatur, also der Kurzgeschichten, Novellen bzw. Romane. Die differenzierte Wahrnehmung scheint hier sehr gut zu funktionieren. (Wenn nicht gerade ein Herr Relotius als SPIEGEL-Autor diese Formen zu durchmischen versucht.)
7. Was für eine Lehre könnte man aus dieser Betrachtung für unser Medium der Fotografie ziehen? Mir erscheint das entscheidende Kriterium dabei zu sein, dass der Rezipient, also die Leserin, der Zuschauer sich ganz eindeutig darüber bewusst ist, was sehe, lese, betrachte ich hier? Ist es dokumentarisch oder fiktiv?
Bei einem Buch-Kauf wird es meist bereits durch den Buchtitel vermittelt, beim Fernsehen wird uns durch den Kontext mitgeteilt, ob es sich um einen Dokumentarfilm handelt, oder ob wir jetzt einen Spielfilm zu sehen bekommen. Dieser Kontext, das Wissen über die gesellschaftliche Verabredung ist dabei das Entscheidende. Das führt dazu, dass wir am Sonntag Abend um acht im Ersten keinen Kriminal-Dokumentarfilm erwarten, weil wir wissen, dass hier ein fiktiver Tatort gesendet wird.
Daraus folgernd kann man für die Fotografie nur eindringlich für eine ganz klare Abgrenzung, Unterscheidung und transparente gesellschaftliche Kenntlichmachung plädieren. Magazine, genauso aber auch Internet-basierte Publikationen haben die gesellschaftliche Verantwortung, diese Bereiche strikt auseinander zu halten und zu trennen.
Wir als Bildermacher und Bildermacherinnen haben die Pflicht, unser Material deutlich sichtbar zu kennzeichnen: Um was handelt es sich? Und dann muss auch ein klassisches Photoshop-Composing, welches der Fotograf bei seinem »real« belichteten Foto vorgenommen hat, eindeutig so benannt werden. Ob man es will, oder ob man das doch lieber gerne verschweigen würde. Das geht einfach nicht. Da müssen wir transparent und glaubwürdig sein!
Ich kann das anhand eines eigenen Beispiels erläutern. Als Günther Jauch seine Sendung Wer wird Millionär startete, fotografierte ich die Stern-Titelgeschichte über ihn. Beim Titelbild, das Jauch mit einer Kandidatin zeigte, musste man in der Grafik zwischen den Personen ein kleines bisschen des schwarzen Hintergrundes herausschneiden, damit die beiden im Bild etwas näher zusammenrückten, da sie sonst nicht zusammen ins Titel-Hochformat gepasst hätten. Damals hatte auch der Stern gerade das von FREELENS initiierte Memorandum unterschrieben, Bilder bei Veränderung mit [M] für Bild-[M]anipulationen zu kennzeichnen. Also las ich dann im Heft im Titel-Credit vor meinem Namen ein [M]. – Ja, ich gebe zu, ich fand das ein bisschen traurig, – so ein [M] vor meinem Namen. Ohne wäre schöner gewesen. Aber dies war einfach nur korrekt. So muss es sein!
Welche Form von Kennzeichnung am sinnvollsten wäre, kann man weiter diskutieren. Ob nun mit [M] eher der Begriff »Manipulation« oder aber »Montage« assoziiert wird, sei dahingestellt. Tatsache ist, dass diese Kennzeichnung über die Jahre vielfach Anwendung gefunden hat, da damals bereits zahlreiche Magazine und Zeitungen das Memorandum unterschrieben haben. Es bedarf möglicherweise einfach einer neuen Initiative. Dass [M] international verständlich und damit anwendbar ist, halte ich für einen ganz wichtigen Fakt, den man in der Diskussion auf keinen Fall vergessen sollte.
Alle von uns, die ihre Bilder in einer Form bearbeiten, die über die hier schon vielfach beschriebene zulässige Bildbearbeitung von dokumentarischen Bildern hinausgeht, sollten grundsätzlich aber einfach dazu stehen.
Nachtrag:
Es gibt seit einigen Jahren eine gesellschaftliche Entwicklung, die mit dem Begriff post-faktisch umschrieben wird. Das bedeutet, dass in bestimmten Kreisen der Gesellschaft Meinungen und Äußerungen akzeptiert werden, die nachgewiesenermaßen Fakten und auch wissenschaftlichen Erkenntnissen widersprechen.
Populistische Politiker wie Trump, Orban oder Boris Johnson werden von Wählerinnen und Wählern bejubelt, obwohl sie – für jedermann offensichtlich – Unwahrheiten verbreiten, selbst wenn sie dafür bereits gerichtlich verurteilt wurden. Diese gesellschaftliche Tendenz des Akzeptierens von Unwahrheiten kann für uns als professionelle Bilder-Macher aber nur dazu führen, dass wir dementsprechend noch strikter, noch klarer jede Veränderung, jeden Eingriff, jede Manipulation transparent machen. Dass wir durch unsere professionelle Haltung jeglicher Form von Unwahrheit entgegenstehen.
Nachtrag 2:
Das von der Polizei in Atlanta veröffentlichte Polizeifoto von Donald Trump sah ich am Morgen zuerst in einem Beitrag auf Facebook. Meine erste unbewusste Reaktion bestand darin, es für ein Fake-Bild zu halten. Erst als ich das Bild danach in verschiedenen journalistischen Nachrichten entdeckte, wurde mir klar, dass es sich um das reale Polizeifoto handelte. Ein Beispiel, das uns die heutige Nähe zwischen Fake und authentischem Foto vor Augen führt, und uns gleichzeitig die gesellschaftliche Bedeutsamkeit der Verifizierbarkeit von authentischen fotografischen Bildern bewusst macht.
INFO
Stefan Enders studierte Malerei an der Kunstakademie Düsseldorf, bevor er sich der Fotografie zuwandte. Danach fotografierte er über 20 Jahre für Magazine. Von 2005 bis 2022 lehrte er als Professor für Fotografie an der Hochschule Mainz.
Stefan Enders ist nicht nur Gründungs-Mitglied von FREELENS sondern gehörte 1995 auch zum Gründungsvorstand.