I am About to Call it a Day
2008 reist Bieke Depoorter mit der Transsibirischen Eisenbahn. Sie spricht kein Wort Russisch, hat aber einen Zettel in der Tasche, den ihr ein Freund geschrieben hat. Darauf in russischer Sprache die höfliche Anfrage nach einem Schlafplatz. Tatsächlich lassen sich Menschen darauf ein, wenn die junge Fotografin an einer der Stationen aussteigt und den zufällig vorübergehenden Passanten das Papier unter die Nase hält. Aus dem Experiment entsteht eine viel beachtete, intime Fotoserie, eine zeitlich begrenzte Teilhabe und Einsicht in den geschützten Raum der Familie.
Die Arbeit verschaffte ihr sofort den Durchbruch. Mit ähnlichem Ansatz hat sie das Wagnis ein zweites Mal auf sich genommen. Seit 2010 ist sie mehrmals per Anhalterin durch die USA gereist. Wieder spricht sie Menschen auf der Straße an, die bereitwillig Unterkunft und Einblick gewähren. »I am About to Call it a Day« gibt eindrucksvoll Zeugnis über Depoorters Fähigkeit, in kurzer Zeit ein Vertrauensverhältnis zu anderen aufzubauen. Das zeigt sich nicht nur darin, dass die Leute der jungen Belgierin bereitwillig ihre Wohn- und Schlafgemächer öffnen, sondern sich völlig ungezwungen geben. Ein Paar umarmt sich im Bett. Familien sitzen einträchtig auf Sofas und starren auf Fernsehapparate. Jugendliche liegen in ihren Zimmern und träumen vor sich hin. Sie alle stören sich nicht daran, wenn der Gast irgendwann die Kamera zieht.
Depoorter beweist feines Gespür dafür, ob die Gelegenheit zum Fotografieren da ist. Meist ist es jener Moment, bevor man zu Bett geht. Dann halten die Menschen kurz inne und scheinen ganz bei sich selbst zu sein. Mit Verve hält die Fotografin in ihrer beeindruckenden Serie die Intensität der Kurzbegegnungen und das Intime des familiären Innenlebens fest. Aus den zufälligen Begegnungen erwächst für den Betrachter eine Qualität, die ihm nicht nur viel über die Akteure selbst, sondern auch über die politischen und sozialen Zusammenhänge, in denen diese leben, verrät.