Fotos & Geschichten
Andreas Teichmann

»Mir hat es Mut gemacht«

Andreas Teichmann hat im Frühjahr Menschen im Corona-Lockdown fotografiert. Er gelangte an normalerweise unzugängliche Orte und fand dabei für sich heraus, dass der Mensch auch unter widrigen Umständen ein soziales Wesen bleibt. Gemeinschaft kann auch im Lockdown stattfinden, wenn auch manchmal anders als gewohnt… Bernd Müllender sprach mit ihm über seine Erfahrungen aus dem Projekt.
Fotos – Andreas Teichmann

Bernd Müllender: Kann es sein, dass der Fotograf Teichmann gern die Extreme sucht, Extreme im Alltag? Erst bist du zweimal in jeweils 50 Tagen quer durch Deutschland gewandert, über je tausend Kilometer mit 13 Kilogramm Fotoausrüstung auf dem Rücken. Und jetzt bist du im Frühjahr mitten im ersten Corona-Lockdown zu den Einsamen, zu plötzlich Abgeschotteten, zum dutzendfachen Leid ins Krankenhaus gegangen.

Andreas Teichmann: Lockdown hatten wir im Frühjahr ja alle. Insofern war es auch extrem für uns alle. Mit meiner Familie war ich erst auch in Schockstarre. Aber dann wollte ich herausfinden, wie andere Menschen in diesen ganz normal-besonderen Situationen leben und habe sie sehr privat in ihrem neuen Alltag fotografieren dürfen. Auf den Wanderungen 2017 und 2019 habe ich Menschen unterwegs zufällig getroffen an zufälligen Orten. Das war der Reiz.

Im März war erst viele Wochen lang Recherche nötig: wie komme ich in ein Altersheim, ins Krankenhaus, in die Kita, wie zum Bischof in die Digitalmesse. Ich durfte zum Beispiel in dem Moment dabei sein, als ein Neugeborener nach fünf Tagen endlich zur Familie kam, wo all die vielen Verwandten warteten. Es durfte ja niemand ins Krankenhaus. Und so wurde der Kleine auf dem Autoparkplatz begrüßt. Solchen völlig neuen Situationen bin ich als Fotograf sehr nah gekommen.

Es waren doch Fotograf:innen und Kameras auch im März überall!

Ja und nein. Am Anfang des Lockdowns gab es viele typische Nachrichten-Bilder: leere Straßen, leere Klopapier-Regale oder getrennte Paare, die sich an einer Grenze trafen. Da sah man Menschenleere oder Bilder von öffentlichen Ereignissen, nicht das Versteckte überall. Es gab auch Fotoreportagen in großen Magazinen über das Leben etwa von Alleinerziehenden. Eine zum Beispiel: Ganz toll umgesetzt – in einem chicen Einfamilienhaus mit Garten, politisch korrektes Holzspielzeug, alles aufgeräumt, super gestylt. Das war das Patenkind des Fotografen.

Separates Mittagessen für die streng getrennten Bewohner:innen eines Stockwerkes des Altenpflegeheimes Kurt-Schumacher-Zentrum der AWO in Essen. Vor Corona haben an jedem der Tische jeweils vier Personen gegessen. Seit dem 14. März 2020 gilt ein Besuchsverbot in Alten- und Pflegeheimen in Nordrhein-Westfalen, schon bei erstmaligen Verstößen kann ein Bußgeld in Höhe von 200,– Euro verhängt werden.
Ramona Kamminski schmust mit ihrem Sohn Lennard (5), mit dem die alleinerziehende Mutter in einer 2-Zimmer-Wohnung lebt. Während des Lockdowns kümmert sie sich auch um ihre Nachbarin Kerstin Zokoll und deren Enkelkind Lea-Marie (12). Ramona ist die selbsternannte »Mutter der Kolonie« und hat immer ein offenes Ohr für die Sorgen und Nöte in ihrer Nachbarschaft.

Was hat dir gefehlt?

Ich hatte den Eindruck, das repräsentiert nicht die Lebensrealitäten von vielen Menschen in diesem Land, wollte lieber nicht so privilegierte Beispiele. Das klappte dann über einen Sozialdienst. Und so bekam ich Kontakt zu einer Alleinerziehenden in der Enge einer überquellenden Wohnung in Essen-Nord. Ich wollte wissen: Der Mensch im plötzlichen Lockdown, was passiert da weiter an Zusammenleben, an Gemeinsamkeit, an sozialem Dasein?

Und was hast du gefunden?

Klare Diagnose: Der Mensch bleibt ein soziales Wesen, auch mit weit ausgestreckten Armen, wenn man sich, das war so ein typisches Bild, irgendeinen Gegenstand gab, aus Angst vor Ansteckung. Oder mit anderen ganz schlichten Gesten: Im Altenheim, wo es Mahlzeiten im Schichtdienst und in Kohorten gab, legt die Pflegerin dem allein Essenden dabei die Hand auf die Schulter. Ein toller Moment.

Klappte denn alles auf Anhieb?

Vieles war sehr mühsam, am Anfang war nur telefonieren. Manche Ideen sind auch im Sande verlaufen. Beim Klinikum Essen dauerte es acht Wochen, immer wieder nachfragen, dann durfte ich auf die Covid-19-Station. Ich hab das ja auch verstanden – da kommt einer, freier Fotograf, ohne spezifischen Auftrag, ohne Geo, Spiegel oder taz im Rücken und will diese historische Phase einfach nur dokumentieren. Ob mal ein Buch daraus wird oder eine Ausstellung, keine Ahnung heute.

Seit inzwischen vier Wochen sind Kindergärten und Schulen wegen der Corona-Pandemie geschlossen. Michael Walta ist Bauchredner und Zauberer. Über das Stadtradio hat er angeboten, gegen eine kleine freiwillige Spende für einen lokalen Zirkus vor den Wohnungen und Häusern eine Kinderzaubershow zu veranstalten, um den Kindern und auch ihre Eltern ein wenig Abwechslung zu ermöglichen – hier geschehen bei Familie Lengert in Essen-Freisenbruch.
Nach fast sieben Wochen dürfen Friseure in Nordrhein-Westfalen am 4. Mai 2020 wieder öffnen. Im Salon »Wunschfrisur« von Oskar und Natascha wird seitdem an sechs Tagen in der Woche gearbeitet und versucht, den Kund:innen trotz der strengen Hygieneauflagen einen angenehmen Aufenthalt zu ermöglichen.
Die achtjährige Judy Sabbagh isst ihren Nachtisch alleine im Wohnzimmer. Die syrische Familie Obayda Sabbagh kann während des Lockdowns nur im engsten Familienkreis das abendliche Fasten brechen. Normalerweise würde sie während des Ramadans gemeinsam mit anderen Freund:innen und Familien essen und beten. Die Familie lebt seit dem 26. November 2015 in Essen, nachdem sie ihre Heimat Aleppo aufgrund des dortigen Bürgerkrieges verlassen mussten.

Gab es so was wie ein Highlight an Glücksmomenten?

Viele. Das war der Tag, als ich erst stundenlang bei der alleinerziehenden Mutter mit ihrem Sohn in ihrer Enge war, ihre Kraft trotzdem für die Nachbar:innen da zu sein, die Kontakte dort mit anderen über die Balkone. Und gleich danach war ich bei einer syrischen Familie zum Fastenbrechen im Ramadan. Das war schon sehr schwierig, da einen Kontakt und Zugang zu bekommen, um dabei sein zu dürfen. Und dann hatten die extra für mich das Essen noch festlicher gemacht, ihr Spezialgericht aus Aleppo: gefüllte Weinblätter. Durch Corona war die Familie erstmalig im gesamten Ramadan allein ohne das gemeinsame Essen, Beten und den Austausch in der Gemeinde. Ich habe noch bis weit in die Nacht bei Ihnen gesessen, und Vater und Tochter erzählten mir von Ihrer Flucht aus Aleppo nach Deutschland in 2015.

Du warst auch bei einer Beerdigung.

Bei einem solchen Anlass wartet man ja nicht auf einen fremden Fotografen. Da konnten nur ganz wenige dabei sein, Mundschutz am Grab, sehr traurig. Die Verstorbene war eine russischstämmige Frau, und die Verwandten und Freunde aus ihrer Heimat duften coronabedingt nicht einreisen. Ich konnte der Trauerfamilie einen Tag später die Bilder zur Weitergabe geben, da hatten die Verwandten in Moskau wenigstens ein paar Bilder. So wurde es zur Win-Win-Situation.

Warum sind denn alle Bilder in schwarz-weiß? Weil es bei Corona nur Schwarz-Weiß-Denken gibt – entweder die vielen, die die Schutzmaßnahmen aus Eigenschutz oder Gemeinschaftssinn verständnisvoll mitmachen und die anderen: die Leugner:innen, Verschwörer:innen, die Bockigen?

Interessante These, aber es ist einfach so, dass die Bilder in schwarz-weiß viel intensiver sind, es reduziert ein Bild auf das Wesentliche. Da stört kein rotes Sofa, keine bunten Klamotten. Da sind nur noch Kontraste und die Momente des zwischenmenschlichen Seins.

Gab es für dich als Fotografen auch noch normale Aufträge in dieser Zeit?

Es war eine lange auftragslose Zeit, aber jetzt zieht es wieder an. Kurioserweise arbeite ich gerade zufällig an einem Projekt über den privaten und beruflichen Alltag des medizinischen Personals im Auftrag eines Uniklinikums. Dabei stellen uns die gerade ansteigenden Fallzahlen vor große Herausforderungen, die Auflagen vor Ort zu fotografieren ändern sich täglich. Was die Menschen dort leisten ist einfach nur bewundernswert!

Trauerfeier für Natalia Djatschkowa mit anschließender Beisetzung. Ehemann Alexander und Sohn Ilya trauern – aber unter den aktuellen Coronabedingungen ist das nur im Freien möglich. Viele Verwandte der russischstämmigen Familie können wegen der aktuellen Reisebeschränkungen nicht an der Trauerfeier teilnehmen. Alle Trauergäste müssen sich in einer Liste eintragen, sollen eine Maske tragen und die Abstände untereinander einhalten.
Bärbel Wagner begrüßt Anton, der in der Notbetreuung der Evangelischen Kindertagesstätte »Vogelnest« seinen Tag verbringt. Als er Bärbel, die Leiterin der Kita, durch die Scheibe entdeckt, ruft er ihr zu: »Deine Bluse sieht aus wie Corona!«
Ruhr-Bischof Franz-Josef Overbeck feiert am Ostersonntag 2020 in der Kirche der Bistumsakademie »Die Wolfsburg« seine erste »digitale« Messe, die per Livestream auf Facebook übertragen wird. Aufgrund der Allgemeinverfügung vom 17. März 2020 für das Essener Stadtgebiet sind alle öffentlichen und privaten Veranstaltungen mit mehr als 15 Personen untersagt – dies gilt auch für Gottesdienste und Veranstaltungen der Religionsgemeinschaften.

Kann man die Bilder heute als Dokument sehen und gleichzeitig als Ankündigung: So wird es wahrscheinlich bald wieder mit dem nächsten Lockdown. Sind denn die Erfahrungen ein Hinweis, wie wir da durchkommen?

Im Prinzip habe ich die mir selbst gestellte Frage untersucht: Bleibt der Mensch ein soziales Wesen? Ich komme zu dem Ergebnis: Ja, bleiben wir, natürlich, und die sogenannten sozialen Medien sind zwar wichtig, im Lockdown besonders, aber nur ein Hilfsmittel. Es ersetzt nie den physischen Kontakt. Alle brauchen immer eine Form von Gemeinschaft, Austausch in echt, wie viel und wie auch immer.

Das macht Mut?

Ja. Mir hat es Mut gemacht: Jede:r der Abgebildeten hat festgestellt, dass er oder sie nicht alleine ist. In Einzelhaft gehen Menschen kaputt, das weiß man. Die Bilder zeigen uns, dass soziale Gemeinschaft auch im Lockdown stattfindet, wenn auch manchmal anders. Nähe geht immer, auch mal mit Plexiglasscheibe, mit Masken, vieles auf Abstand, aber mit Blicken. Und dann die Freude, wenn wieder mehr geht wie bei der ersten Begegnung im Plattenladen. Nur endlich wieder da sein zu dürfen, das war eine solche wahnsinnige Freude für den Rentner aus Wattenscheid!

Info

Andreas Teichmann lebt in Essen und arbeitet seit über 25 Jahren als freier Fotograf. Des Öfteren war er auch schon mit Bernd Müllender für die taz unterwegs, zum Beispiel für einen Report über Fahrradpolitik in Aachen. Während des Corona-Lockdowns ist Teichmann auf eigene Faust losgezogen. Dabei entstand seine umfangreiche Serie »Der Mensch bleibt ein soziales Wesen«, aus der wir hier eine kleine Auswahl zeigen. Teichmann plant die gesamte Serie in einem Buch oder einer Ausstellung zu präsentieren.

Seine bei zwei Wanderungen durch Deutschland in den Jahren 2017 und 2019 enstandenen Arbeiten hat Teichmann unter www.50days.de  dokumentiert.

Das Interview von Bernd Müllender erschien zuerst am 27. Oktober 2020 in der taz.

Andreas Teichmanns Projekt »Der Mensch bleibt ein soziales Wesen« wurde von der Stiftung Kulturwerk der VG Bild-Kunst gefördert.