Land ohne Eltern
»Als ich im April 2008 in der ersten Klasse der Schule eines kleinen Dorfs im Süden der Republik Moldau stand, wo die Lehrerin fragte, »Wessen Eltern leben in Italien?« und etwa zwei Drittel der Kinder mit einer Mischung aus Stolz und Verlegenheit aufzeigten, war ich erschrocken. Es ist etwas völlig anderes, all die Statistiken über Arbeitsmigranten und Rücküberweisungen zu lesen, als in einem kalten Klassenraum vor 30 Sechsjährigen mit Wollmützen zu stehen und zu wissen, diese Kinder haben ihre Eltern oft seit Jahren nicht gesehen, weil diese 2.000km entfernt als Putzfrau oder Erntehelfer arbeiten.
Es ist eine Szene, wie man sie in Moldau jeden Tag und an vielen Orten erleben könnte. Denn in dem kleinen Land am Rande Europas, das man allenfalls kennt aus Geschichten über Menschenhandel oder illegale Geschäfte mit Organen, wachsen tausende Kinder ohne Eltern auf. Auf 250.000 schätzt das Informationszentrum für Kinderrechte in Chishinau ihre Zahl. Manche wohnen bei Großeltern, erwachsenen Geschwistern oder Tanten, andere ganz allein. Sie führen eigene Haushalte. Sie waschen, putzen, fangen Fische und schlagen Feuerholz im Wald.
Aus der Republik Moldau verschwand erst der Wohlstand, dann verschwanden die Eltern. Zu Sowjetzeiten galt das Land als reich, als Obst- und Gemüsegarten der UdSSR. Heute ist Moldau das ärmste Land Europas. Von vier Millionen Moldauern suchen eine Million Arbeit im Ausland. Spanien, Italien und Griechenland – für sie sind das Orte der Hoffnung. Die meisten von ihnen leben dort illegal. In den Dörfern ihrer Heimat bleiben Kinder und Alte zurück. Mehr als die Hälfte der Migranten gehen nach Russland, doch auch in Italien wohnen rund 200.000 Moldauer. Die italienische Sprache gleicht dem Rumänischen, das sie in ihrer Heimat sprechen. Viele Frauen arbeiten dort als »Badante«, als Altenpflegerin. Anstatt ihre eigenen Kinder zu umsorgen, kümmern sie sich um die Eltern von Fremden, während zu Hause ihre Familien zerbrechen.
Ich habe diese geteilten Familien begleitet. Die Kinder in der Republik Moldau und ihre Eltern, die meist illegal in Italien leben, das Land im Westen, in das die meisten Moldauer emigrieren. Wie schon in meiner früheren Arbeit ›AIDS in Odessa‹ geht es mir darum, das Große am Kleinen zu erzählen. Es interessierte mich, das globale Phänomen Arbeitsmigration an einem kleinen Land und wenigen Familien zu erzählen und zu untersuchen, welche Schicksale hinter all den Zahlen von Menschen und Rücküberweisungen stecken und dabei zu übergeordneten Fotografien zu kommen.«
Andrea Diefenbach über ihr Buch »Land ohne Eltern«.
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Andrea Diefenbach
studierte nach ihrer Ausbildung zur Fotografin an der Fachhochschule Bielefeld. Seit 2003 ist sie als freiberufliche Fotografin tätig und hat bereits zahlreiche Preise gewonnen, zuletzt den Abisag Tüllmann Preis 2013.