»Ich wollte dagegen am eigenen Leib spüren, was es bedeutet, auf so einer Flucht zu sein«
Felix Kleymann flog dorthin, woher die Flüchtlinge kommen. Und reiste mit ihnen zurück nach Deutschland. Fahrt im Schlauchboot inklusive. Frank Keil führte mit ihm ein Gespräch.
Bilder aus der Arbeit »Escaping Death – Syrian Refugees« sind noch bis zum 31. März 2016 in der Ausstellung »Bitte warten…« in der FREELENS Galerie zu sehen. In dem Gemeinschaftsprojekt dokumentieren FREELENS Fotografen die Situation von Flüchtlingen. Sie begleiten die Menschen in ihren Herkunftsländern und auf ihrem langen Weg nach Europa; verfolgen ihr Warten und Bangen unterwegs und halten das Ankommen und sich Zurechtfinden in einer neuen Welt fest.
Frank Keil: Wie kamst du auf die Idee in den Nordirak zu gehen?
Felix Kleymann: Tja, wie das so ist, wenn man freier Fotograf ist: Ich habe nach einem Thema gesucht. Und da ich bei uns in der Gemeinde syrischen Flüchtlingen Deutschunterricht gebe, haben die mir irgendwann ihre Geschichten erzählt und auch, dass sich viele Flüchtlinge im Nordirak aufhalten, von denen sich dann manche, aber eben bei weitem nicht alle, auf den Weg nach Europa machen. In Zahlen: Vier Millionen Menschen sind im Irak auf der Flucht – aber nur zehn Prozent von ihnen verlassen das Land! Und irgendwann hatte ich die Idee, dort hinzufahren und dann reifte die: Wie könnte man das umsetzen? Macht das Sinn? Was wäre authentisch? Und dann habe ich mir zwei, drei Kontakte besorgt, bin geflogen und alles hat seinen Lauf genommen…
Man kann also einfach so in den Nordirak fliegen und sich dort dann frei bewegen?
Erstaunlicherweise: ja. Ich hatte das auch anders erwartet. Aber Kurdistan, was ja der Nordirak ist, ist relativ sicher – bis auf die Gebiete, die an den IS gefallen sind. Ich habe auch die kurdische Perschmerga-Armee an der Frontlinie besucht, die so das Gebiet absichern. Von daher ist Kurdistan nicht mit der Region um Bagdad zu vergleichen. Das einzige Problem war: Mein Visum galt nur zehn Tage, ich musste es vor Ort verlängern lassen, was ein enormer, bürokratischer Aufwand war.
Hattest du vorher Auftraggeber? Konntest du dir sicher sein, dass du deine Kosten wieder einspielst?
Ich habe alles vorfinanziert – und klar war das ein Risiko, denn ich wusste ja, dass das Thema medial sehr plattgetreten ist. Auf der anderen Seiten habe ich darauf gesetzt, dass ich ja nicht nur meine Bilder verkaufen kann, sondern ein Gesamtpaket: die Bilder, meine Erlebnisse, meine Erfahrungen – und das klappt tatsächlich sehr gut: Ich habe erst heute wieder vor 500 Leuten einen Vortrag gehalten. Klar sind Fotografen mit den Flüchtlingen über die Balkanroute gereist, aber dass jemand vom Irak aus die Strecke gereist ist, ist eben selten. Außerdem besteht mein Projekt aus zwei Teilen: einem Bericht über die Flüchtlinge, die in der Nähe von Syrien in den Camps bleiben; und der zweite Teil beschreibt den Weg von dort nach Europa. Das macht die Arbeit besonders, denn davon gibt es nicht so viele Geschichten.
Bist du mit einer festen Gruppe gereist?
Ich habe ständig neue Leute kennengelernt, und ich habe diese auch immer wieder verloren – so, wie das auch den Familien passiert, die sich unterwegs verlieren, die auseinandergerissen werden. In Griechenland wurde ich beim Grenzübertritt verhaftet und habe dadurch die Leute, mit denen ich zusammen auf dem Schlauchboot saß, verloren, was sehr schade war. Und ich musste mich mit meinem deutschen Pass bei all den anderen Grenzübertritten nicht registrieren lassen und konnte mir diese extremen Wartezeiten ersparen. Die Leute stehen da tagelang an, das sind unglaubliche Menschenschlangen …
Spiegel Online hat deine Geschichte veröffentlicht. Unter anderem war zu lesen: Bei der Überfahrt von der Türkei auf die Insel Lesbos hättest du als einziger keine Rettungsweste umgehabt. Stimmt das?
Das stimmt. Ich haben einen von den ganz großen Schleppern kennengelernt, der hat mich unter seine Fittiche genommen; der hat mir alles erklärt, was wie läuft – und so bin ich überhaupt auf das Boot gekommen. Es gab nur zwei Möglichkeiten für mich, auf ein Boot zu kommen: Entweder tarnen und mich als stummen Syrer ausgeben, aber wie hätte ich dann die Kamera auspacken können? Oder mit offenen Karten zu spielen. Der Schlepper hat alles für mich organisiert, ich musste auch nichts bezahlen, es war klar, dass ich als Journalist mitfahre. Und als es dann abends losging, als das Boot aufgepumpt wurde, fragte ich ihn: »Und wo ist meine Weste?« Und er: »Sorry – keine da.« Aber ich solle mir keine Sorgen machen, das Boot sei sicher – es war tatsächlich eines von den großen Booten und die See war superruhig an diesem Tag. Trotzdem war es ein Risiko, aber ich dachte: Ich kann jetzt keinen Rückzieher machen! Ich habe die Chance mitzufahren und die haben nicht viele. Also: Auf geht’s!
Dir war vermutlich mulmig zumute?
Supermulmig! Das Boot lag im Wasser, es war überhaupt kein Platz mehr da, und ich war der letzte, der einstieg. Es war wie wenn du in eine U-Bahn einsteigst, wo niemand mehr reinpasst, aber du musst da jetzt rein und gleich gehen die Türen zu. Nach einer Stunde habe ich auf meinem Handy die GPS-Daten geschaut und wir hatten nicht mal die Hälfte der Strecke hinter uns – die normalerweise eine halbe Stunde dauert. Insgesamt hat die Fahrt drei Stunden gedauert, vielleicht sind wir im Kreis gefahren. Die Stimmung war super angespannt, die Leute haben gebetet, sie haben teilweise geschrieen. Hinterher habe ich mich natürlich gefragt: Warum machst du das? Für ein Foto – wenn du es überhaupt verwerten kannst?
Und hat es sich gelohnt?
Mein Anspruch war es nicht, das eine Schlauchbootfotos zu machen. Ich hab überhaupt vermieden, Money Shots zu machen: weinende Kinder, Menschen vorm Zaun, so das übliche. Ich wollte dagegen am eigenen Leib spüren, was es bedeutet, auf so einer Flucht zu sein. Ich hätte ja weiter nördlich die Fähre nehmen können, das hätte 20 Euro gekostet und 20 Minuten gedauert.
Was du erlebst hast, geht dir das noch heute nahe?
Durchaus – während der Nachbereitung habe ich das gemerkt. Schlussendlich bin ich sehr froh, dass ich diese Reise gemacht habe, auch wenn manche Situationen sehr beängstigend waren. Hört sich doof an: Ja, ich würde es noch mal genau so machen.
Wie hast du es geschafft, bei all dem eine journalistische Distanz zu wahren?
Das ist schwer zu beantworten (denkt länger nach). Zum einen bringe ich Erfahrungen mit, auch wenn ich noch relativ jung bin: Ich habe eine Geschichte über eine Spezialeinheit der Polizei in den Armutsvierteln von Rio de Janeiro gemacht, wo ich viel Gewalt und viel Elend gesehen habe. Aber stimmt schon: Ich bin nach Hause gekommen und habe geheult, weil ich nicht mehr konnte. Andererseits hatte ich einen journalistischen Auftrag – und darauf habe ich mich immer wieder konzentriert. Was mich auch motiviert hat, war die Überlegung: Wenn ich jetzt Flüchtling wäre, könnte ich mir auch keine Pause gönnen oder zwischendurch ins Flugzeug steigen. Ganz nebenbei war das schöne, dass ich in Richtung Deutschland, in Richtung meiner Heimat gereist bin. Auch das war eine gute Motivation.
Du hast am Anfang angesprochen, dass das Thema medial plattgetreten sei. Braucht es in der Zukunft andere Bilder, um am Thema zu bleiben?
Schwere Frage. Das klassische, eindeutige Bild, der Flüchtling am Zaun, weinende Kinder, das Bild, das im Gedächtnis bleibt, will ich nicht machen. Ich will natürlich gute Fotos machen, aber ich will meine Geschichten in möglichst vielschichtigen Bildern erzählen. Umgekehrt habe ich gemerkt, als ich Leuten meine Bilder gezeigt habe, dass die oft ganz andere Erwartungen hatten. Ein Beispiel: mein Bild von den herumtobenden Kindern in einem Camp, während im Hintergrund diese Popeyefigur steht, eine völlig skurrile Szene. Da hieß es: »Was soll das denn? Sowas könnte man bei uns doch auch fotografieren!« Und ich dachte: Ja, genau. Der Alltag in einem Camp ist nicht immer dramatisch – er ist ganz alltäglich, ganz normal.
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Felix Kleymann
machte 2013 sein Diplom an der Fachhochschule Dortmund und arbeitet seitdem als freier Fotograf. Im Herbst 2015 war er zwei Monate lang auf der Fluchtroute vom Nordirak bis nach Europa unterwegs, um selber zu erleben, was viele Menschen momentan ertragen müssen.