Street Photography
Wolfgang Zurborn

Das Theater des realen Lebens

Wolfgang Zurborn ist ein Straßenfotograf, dessen Stil als so eigen wie eigenwillig zu bezeichnen ist. Dabei ist es völlig egal, ob er in deutschen Einkaufsstraßen oder im Gewühl indischer Großstädte unterwegs ist. Am Ende stehen grellbunte, surreal anmutende Szenarien, wie nur Zurborn sie zustande bringt. Der Fotograf richtet seinen Blick auf Kulissen des Alltags, sei es ein Einkaufszentrum, ein Spielplatz oder das Gedränge der Straße. Aber erst mit seinem Blick betrachtet wirken diese äußerst bizarr.

Genauso bizarr wie die Menschen, die sinnfreien Aufgaben nachzugehen scheinen und wie Fremdkörper in diesen, von ihnen verantworteten Räumen wirken. Zurborn ist ein Bildgestalter im besten Sinne: Er verdichtet Situationen des urbanen Raums und Verhaltensweisen der Nutzer zu komplexen Bildern. Als würde er Schicht über Schicht legen. Ob so viel Information wird dem Betrachter ganz schwindlig.

FREELENS: Wie sind Sie zur Street Photography gekommen und was reizt Sie besonders daran?

Wolfgang Zurborn: Meine ersten Erfahrungen mit Street Photography machte ich zu Beginn des Studiums an der FH Dortmund in den frühen achtziger Jahren. Ich stürzte mich in den Kölner Straßenkarneval, auch wenn mich das zuerst einiges an Überwindung kostete. Menschenmassen waren mir eigentlich sehr suspekt, aber es faszinierte mich, im Treiben auf der Straße das ganze Spektrum von Emotionen, von völliger Euphorie, ausgelassener Lebendigkeit bis hin zu tiefer Depression einfangen zu können. Was sich ansonsten hinter den Wohnungstüren verbirgt, stülpt sich ins öffentliche Leben.

Dem herrschenden Dogma in der Dokumentarfotografie dieser Zeit, ein neutrales Bild der Welt entwerfen zu müssen, stand ich äußerst kritisch gegenüber. Das Theater des realen Lebens mit all seinen Abgründen und Hochgefühlen, spiegelt für mich eine wahrhaftigere Vorstellung des zeitgenössischen Daseins wider als leere Einkaufszonen im neutralen Licht mit der Großbildkamera fotografiert.

In den meisten meiner fotografischen Projekte war der Einfluss der Medienwelt auf den Menschen ein zentrales Thema. Die Street Photography war für mich dabei das ideale Genre, um mit Standbildern aus dem Fluss der Alltagsszenerien in urbanen Räumen die Verwobenheit der allgegenwärtigen Bildzeichen von Werbewelten mit dem realen Leben zu verdeutlichen.

Wenn Sie mit drei Adjektiven Ihre Street Photography charakterisieren müssten, welche wären das?

Hintergründig. Vielschichtig. Unkonventionell.

Gibt es ein Konzept, das Sie auf die Straße mitnehmen?

Die einzigartige Möglichkeit des Mediums Fotografie besteht gerade darin, im Dialog mit der Außenwelt immer wieder neu seine eigenen Kriterien der Wahrnehmung in Frage zu stellen, um sie in einen offenen Prozess, in ein Experiment des Sehens zu überführen. Bei der Suche nach Ordnungen, die das Zusammenspiel von Körpern, Dingen, Zeichen und Räumen in den Fotografien zu einem lesbaren Gefüge, zu einer begreifbaren Komposition transformieren, gilt es, das Chaos nicht zu verraten, weil gerade in ihm eine ungebändigte Lebendigkeit steckt.

Normalerweise würden wir vielen Objekten kaum Beachtung schenken, da sie uns unbedeutend und banal erscheinen. Herausgerissen aus ihrem rein funktionalen Zusammenhang, in fragmentarischer Ansicht visuell verdichtet, bekommen sie eine so starke sinnliche Präsenz, dass sie für die Betrachter eine große Assoziationskraft entwickeln.

Haben Sie als Straßenfotograf immer Ihre Kamera dabei?

Ich habe die Kamera nur dabei, wenn ich gezielt fotografieren gehe. Es ist schon ein besonderer Bewusstseinszustand, losgelöst von funktionalen Zusammenhängen und sozialen Interaktionen, der es mir möglich macht, mich bis ins kleinste Detail auf die Szenerien der Straße einzulassen und sie in vielschichtigen Bildern zu verdichten.

Sprechen Sie die Menschen an und halten Ihnen ein Model Release unter die Nase, bevor Sie fotografieren oder fotografieren Sie einfach drauf los?

Bei meiner Art der Fotografie ist es völlig unmöglich, die Menschen vorher zu fragen. Ich mache keine Portraitfotografie im öffentlichen Raum, sondern fotografiere oft komplexe Szenen bei Massenveranstaltungen. Die Ansprache der Passanten würde die Szenerie völlig verändern und die Bilder würden für mich keinen Sinn mehr machen. Von daher muss ich das Risiko eingehen, meine Bilder auch ohne Model Release zu veröffentlichen.

»Einfach drauf los« klingt danach, als ob man sich beim Fotografieren keine Gedanken darüber machen würde, wen man fotografiert. Willkürlich ist der Akt des Fotografierens und besonders auch der Prozess der Bildauswahl aber keineswegs, sondern diese sind das Ergebnis einer intensiven ethischen und künstlerischen Auseinandersetzung.

Untitled, Kolkata, 2014. Foto: Wolfgang Zurborn
Untitled, Kolkata, 2014. Foto: Wolfgang Zurborn

Das obige Foto ist für Sie ein besonders gelungenes Bildbeispiel Ihrer Street Photography – warum?

Die Fotografie vom New Market in Kolkata ist eine meiner favorisierten Aufnahmen, die ich während meiner Reisen 2013/14 in Indien gemacht habe. Dem Einfluss der westlichen Kultur auf das Leben in den indischen Megacities galt mein besonderes Interesse. Die Straßenszenerien in Kolkata wirkten auf mich wie eine dichte Collage aus omnipräsenten Werbebotschaften einer Konsumgesellschaft, politischer Propaganda, religiöser Symbole und Spuren alter Traditionen.

Diese wilde und irritierende Mixtur so unterschiedlicher Wertvorstellungen findet in der vielschichtigen Komposition dieses Bildes eine sinnlich erfahrbare Ausdrucksform. Der entscheidende Moment des Auslösens richtet sich nicht auf eine schnell zu erfassende Pointe, die komplexe Beziehungen in dem Bild absorbieren würde. Es ist vielmehr das Zusammenspiel von artifiziellen und gewöhnlichen Objekten, idealisierten und vom Alltag gezeichneten Körpern und völlig verbauten und offenen Räumen, die das Stadtleben in all seinem Aberwitz zeigt.

Die sehr fragmentarische Perspektive reduziert jede Bildebene – Werbetafel, Eingang zur U-Bahn und Marktplatz – auf das Nötigste und fügt sie in einer zur Abstraktion tendierenden grafischen Verdichtung zu einem unmittelbar zu erfassenden visuellen Gefüge zusammen. Ich will in meinen Bildern Ordnungskriterien schaffen, die das Chaos nicht verraten, da gerade in diesem eine ungezügelte Lebendigkeit steckt, jenseits aller uniformierenden Ideologien.

Wie reagieren die Menschen, wenn sie merken, dass sie fotografiert werden und haben Sie schon einmal schlechte, oder auch besonders gute, Erfahrungen gemacht?

In Deutschland reagieren die Menschen in der letzten Zeit immer ablehnender darauf, wenn sie auf der Straße fotografiert werden. Ich habe aber noch nie wirklich schlechte Erfahrungen gemacht, bin noch nie in eine aggressive Auseinandersetzung geraten und auch noch nicht verklagt worden. Sehr spannend finde ich, dass die Reaktionen in manchen anderen Ländern genau gegenteilig sind.

In Tiflis, Georgien, organisieren wir mit der Lichtblick School schon seit fünf Jahren im Rahmen des Kolga Tbilisi Photo Meetings Street Photography-Workshops. Die Menschen dort bedanken sich eher dafür, wenn sie fotografiert werden. Im Laufe eines Tages wurde ich fünf Mal zu den unterschiedlichsten Getränken eingeladen, wenn ich als Fotograf entdeckt wurde. Für einen Berliner Fotografen, der an dem Workshop teilnahm, war diese Freundlichkeit besonders verblüffend. »In Berlin kommen schon die 5-Jährigen auf der Straße auf mich zu und fordern, dass ich das Bild lösche.«

Lässt sich mit Street Photography Geld verdienen und wenn ja, wie? Können Sie Ihre Fotos verwerten, z.B. in Magazinen, Büchern oder Ausstellungen?

Ich veröffentliche meine Bilder vorwiegend in Büchern und Ausstellungen, weniger in Magazinen. Reich wird man mit Büchern und Ausstellungen auf keinen Fall. Meine Einkünfte aus der Street Photography teilen sich auf in zwei Bereiche: meine eigene künstlerische Arbeit und die Lehrtätigkeit. Eine ganz wichtige Förderung meiner Fotografie war gleich nach dem Studium das »Otto Steinert Stipendium« der DGPh. Aufträge für künstlerische Projekte und Buchproduktionen bildeten die Basis, auf der ich immer weiter an meinen freien Serien arbeiten konnte. Bildverkäufe an Sammler und Museen sind eine weitere Einnahmequelle.

Mein großes Interesse an der Vermittlung von Ideen zur künstlerischen Fotografie und dabei auch im Besonderen zur Street Photography führten im Jahr 2010 zur Gründung der Lichtblick School in Köln. Darüber hinaus unterrichte ich an vielen Hochschulen und Institutionen im In- und Ausland. In den Jahren 2013/14 leitete ich auf Einladung des German House of Research and Innovation in New Delhi Workshops mit jungen indischen Fotografen. Im August erschien im Verlag Kettler ein Buch mit den Ergebnissen dieser Workshops.

Kommt es vor, dass Sie Bilder nicht veröffentlichen, z.B. wenn abgebildete Menschen unvorteilhaft erscheinen?

Beim Auswählen und Sequenzieren von Bildern ist das für mich ein äußerst wichtiges Kriterium. Wenn Menschen in den Bildern zu Karikaturen ihrer selbst werden, werde ich diese Fotografien nicht veröffentlichen. Unvorteilhaft ist aber natürlich ein sehr flexibel zu interpretierender Begriff. Wenn man die bereinigten Schönheitsideale der Werbeindustrie als Maßstab nimmt, ist das Bild der Menschen in einer Straßenszenerie immer voller »Makel«.

Die zentrale Motivation, das Theater des realen Lebens in meinen Fotografien einzufangen, besteht für mich gerade darin, den künstlich geschaffenen Mythen einer Konsumgesellschaft die vitale Kraft authentischer Momente des Alltagslebens entgegenzusetzen. Das »Imperfekte« ist somit als Befreiungsakt von repressiven Normen des Schönen zu verstehen und nicht als Vorführung des Unvorteilhaften.

Fühlen Sie sich in Ihrer fotografischen Praxis durch die Rechtslage eingeschränkt? Fotografieren Sie schon mit der Schere im Kopf?

Die Skrupel beim Fotografieren von Menschen sind für mich ein wesentlicher Bestandteil des künstlerischen Prozesses. Die Wahl der dargestellten Personen oder des Bildausschnitts richtet sich danach, das Leben auf der Straße in intensiven Momenten einzufangen und dabei die Würde des Menschen zu erhalten. Das ist ein schmaler Grat, auf dem man sich da bewegt und diesen habe ich immer im Kopf.

Im Idealfall verlangt dieses Genre eine fruchtbare Einheit von Intuition und Konzeption, von Instinkt und Intellekt. An die Rechtslage kann ich dabei nicht denken. Ansonsten könnte ich keine Street Photography mehr machen.

Glauben Sie, dass die Street Photography aufgrund einer rigiden Rechtsprechung in Deutschland (Persönlichkeitsrechte) bald »tot« sein könnte?

Eine strengere Auslegung der Persönlichkeitsrechte würde die Arbeitsbedingungen für Fotograf*innen auf dem Feld der Street Photography auf jeden Fall erschweren, aber ich denke nicht, dass dieses Genre komplett aussterben wird. Der große Erfolg der Publikation »Street Photography Now« aus dem Jahr 2010 machte deutlich, wie groß das Bedürfnis der Menschen nach ungestellten und unmittelbaren Bildern aus dem Alltagsleben ist. Dieser Hype auf die Street Photography entwickelte sich in einer Zeit, als sie in Großbritannien wegen extremer gesellschaftlicher Restriktionen schon fast als tot galt.


Wolfgang Zurborn
Jahrgang 1956, ist freischaffender Fotograf. Seine Arbeiten wurden im In- und Ausland ausgestellt und vielfach ausgezeichnet. Im April 2015 ist sein neues Buch »Catch« im Kettler Verlag erschienen, im August der von ihm herausgegebene Sammelband »The India Vision Quest« mit Arbeiten von 18 jungen Fotograf*innen, die in verschiedenen Workshops in Indien entstanden. Zusammen mit Tina Schelhorn betreibt er seit vielen Jahren die Fotogalerie Lichtblick. Wolfgang Zurborn unterrichtet Fotografie an verschiedenen Hochschulen und bietet an der Lichtblick School regelmäßig Workshops an.

www.wolfgangzurborn.de