Fotos & Geschichten
Mayk Wendt

13 Tage durch den Lockdown

Die Corona-Pandemie hat viele von uns persönlich, wirtschaftlich und kreativ getroffen. Sie hat unseren Alltag an vielen Stellen auf den Kopf gestellt. Am 16. März 2020 traten die Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie in Kraft, dieses Datum wird in ganz Europa in die Geschichte eingehen. Während einer 13-tägigen Reise durch den Lockdown besuchte FREELENS Fotograf Mayk Wendt verschiedene Städte und Länder, seine Reiseroute: Scuol-Zürich-Basel-Berlin-München-Kufstein-Landeck-Scuol.

In Scuol fühlen sich vier Wochen Lockdown auf den ersten Blick wie eine vorgezogene Zwischensaison an. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass Handdesinfektionsmittel in den Lebensmittelgeschäften steht und eine 2-Meter-Abstandsregel gilt. Leere Straßen, reduzierter Geschäftsbetrieb, all das ist man abseits der Hauptsaison in einer Feriendestination gewohnt. Fährt man aber in Richtung Martina zur Grenze oder zum Gesundheitszentrum Unterengadin, ändert sich das Bild drastisch. Beide Orte gleichen einer Festung und sind hermetisch abgeriegelt.

Am Bahnhof Scuol herrscht kurz nach Ostern, wenn sich zahlreiche Skitourist:innen wieder auf den Weg ins Unterland machen, in der Regel Hochbetrieb. An diesem Mittwochvormittag aber: nichts als gähnende Leere. Linard Marugg, Angestellter bei der Rhätischen Bahn, säubert den Bahnhofsvorplatz und sagt, dass es das zu dieser Zeit im Jahr noch nie gegeben hat. Eine weitere Angestellte desinfiziert derweil den Fahrkartenautomaten, der wohl unbenutzt bleiben wird. »Das ist schon etwas gruselig«, sagt sie mit Blick auf die verlassenen Bahnsteige. Lediglich vier weitere Fahrgäste steigen mit mir am 15. April 2020 in den Zug ein.

»Zwischensaison« in Zürich und Basel?

Bis Landquart wiederholt sich das Bild fortlaufend: Leere Bahnsteige, praktisch keine Menschen und auf den Straßen nur wenig Verkehr. »Wie in der Zwischensaison«, denke ich wiederholt. Allmählich fühlt es sich gespenstisch und surreal an. »Da«, rufe ich, »ein Mensch, ein Auto, Zivilisation.« Zum Glück.

Angekommen am Zürcher Hauptbahnhof bekommt der Begriff »Zwischensaison« eine andere Färbung und die sonst überlaufene Bahnhofshalle gleicht einer Filmkulisse in Hollywood. An diesem frühlingshaften, warmen Tag, sind auch die Bahnhofstraße, die Seepromenade und alle öffentlichen Plätze leergefegt. Es herrscht eine seltsame Stille, die in den folgenden Tagen auch in Basel, Berlin oder Landeck anzutreffen sein wird. Besonders auffallend ist der flugzeugfreie Himmel.

Zugbegleiter Drazen Kontar im ICE 70, der sonst von Chur nach Hamburg-Altona fährt. Zu Zeiten von Corona startet er erst hinter der Schweizer Grenze. Foto: Mayk Wendt

Im ICE 70 von Basel Richtung Hamburg-Altona ist trotz niedriger Fahrgastzahlen ausreichend Bahnpersonal an Bord. Für den 34-jährigen Zugbegleiter Drazen Kontar hat sich durch Corona nicht viel verändert, muss er zugeben. Das mit dem Abstand halten sei nicht ganz so einfach. »Wenn ich ältere Menschen mit ihrem schweren Gepäck sehe, muss ich ihnen helfen«, sagt er mit einem Selbstverständnis der Höflichkeit. Das alles sei jetzt einfach etwas komplizierter. Glücklicherweise sei die Zahl der älteren Passagiere in den vergangenen Tagen aber drastisch gesunken. »Vor allem Geschäftsreisende sind jetzt noch unterwegs«, sagt er.

»Angst, mich anzustecken habe ich nicht«, meint er unbekümmert. Schließlich gehöre er nicht zur Risikogruppe. »Und genau aus diesem Grund muss ich um so vorsichtiger sein, um niemanden zu gefährden«, erklärt er. Dass die Krise nicht nur wirtschaftliche Folgen haben wird, sondern sich auch das gesamte Sozialverhalten in unserer Gesellschaft neu definieren werde, steht für den Zugbegleiter außer Frage. »Das einzige, was uns darauf die Antwort geben wird, ist die Zeit.«

Millionenstadt steht still

Berlin. Die Stadt, in der viel Geschichte gelebt und erlebt wurde. Die Millionenmetropole, die Stadt, die niemals schläft. Eigentlich. Wie auch Paris oder New York steht sie derzeit still. Die Saison für Straßenmusiker:innen hatte erst vor wenigen Wochen begonnen – normalerweise verwandeln diese die Straßen, Plätze und Parks hier in Konzerthallen unter freiem Himmel.

Georg McLean ist einer dieser Straßenmusiker. In diesen Tagen spielt der waschechte Berliner sein Sopransaxophon vor allem im Berliner Regierungsviertel – hier sind hin und wieder Abgeordnete und Politiker:innen unterwegs. »Als Künstler ist man immer nahe am Puls der Zeit«, erklärt er mit Blick auf die wirtschaftlichen Auswirkungen des Lockdowns. »Aber als Künstler ist die Fallhöhe während dieser Krise auch nicht so hoch.« Schließlich sei der Schritt von »wenig-haben« zu »nichts-mehr-haben« nicht allzu groß. »Politiker möchte ich in dieser Zeit aber auch nicht sein«, stellt er fest. Die Verantwortung ihrer Entscheidungen sei groß und weitreichend. »Da geht es um Existenzen, um Menschenleben und um die Zukunft von uns allen«.

Musiker Georg McLean wurde in Berlin geboren. Seit mehr als 30 Jahren spielt er u.a. auf der Straße. Ihn trifft die Krise, wie zahlreiche andere Kunstschaffende. Foto: Mayk Wendt

Am Brandenburger Tor baut derweil eine junge Frau in aller Ruhe ihr Stativ auf, um sich anschließend gekonnt vor dem Wahrzeichen Berlins zu positionieren. »Selbst im Winter, bei schlechtem Wetter, in den frühen Morgenstunden sind hier mehr Menschen anzutreffen als heute«, deutet ein Rikshafahrer mit einer Handbewegung über den Pariser Platz. »Ooch dit is Berlin«, sagt er abschließend und rauscht davon.

Die 30-jährige Natalie Köppen nutzt diese besondere Zeit, um sich Berlins Sehenswürdigkeiten anzuschauen. Ohne ablenkendes Gewimmel der Menschenmassen, offenbart sich die Geschichte der historischen Bauten in allen Details der Architektur. Die junge Berlinerin macht bei den sonst völlig überfüllten Plätzen jeweils ein Selfie. »Das wird nie wieder möglich sein«, stellt sie fest und schiebt noch ein »hoffentlich« nach.

Die Friseurmeisterin hat gerade ihr Studium im Bereich Kommunikation und Eventmanagement abgeschlossen. »Jetzt bin ich froh über das zweite Standbein«, sagt sie in Hinblick auf die Wiedereröffnungen der Friseurgeschäfte. Für die Zeit nach dem Studium hatte sie sich eine To-do-Liste angelegt. »Renovierungsarbeiten in der Wohnung, Möbel abschleifen, Ausmisten und Lesen.« Auch »Berlin Sightseeing by Bike« steht auf der Liste. Immerhin, für all das bleibt ihr jetzt ausreichend Zeit.

Aussteigen verboten

»Was machen Sie hier?«, fragt der österreichische Polizeibeamte in strengem Ton. »Ich reise nach Hause«, antworte ich. Die Durchreise von Österreich sei ohne Probleme möglich, hieß es beim Kauf des Zugbillets. Hinter dem Beamten reihen sich unzählige weitere, ausgerüstet mit Fieberthermometer, Nasen- und Mundschutz und Desinfektionsmittel, auf. Fünf andere Fahrgäste passieren nach der Ausweiskontrolle die Beamten. Ein deutscher Koch, der zum Stellenantritt nach Samnaun reisen will, wird ebenso aufgehalten.

Der direkte Weg, um von München nach Scuol zu reisen, führt über Kufstein und Landeck, also durch Österreich. In Landeck endet dann der Zug und man muss auf das Postauto umsteigen. »Und genau darin liegt der Haken«, erklärt mir der Beamte ruhig. »Sie dürfen durch Österreich reisen«, sagt er. »Aber sie dürfen nirgends aus- oder umsteigen.« Jegliche Diskussion ist vergebens. Die Beamten sind jedoch geduldig und ringen gemeinsam mit mir nach einer Lösung.

Mit dem Auto sei eine Durchreise ohne Unterbrechung möglich, erklärt einer. Die Logik dahinter versuchen die Beamten nachvollziehbar zu erklären. Schnell organisieren sie ein Großraumtaxi. Darin ist das Einhalten des notwendigen Abstands möglich. Zudem ist der Fahrerbereich komplett mit Plastikschutz abgeschirmt und der Fahrer selbst trägt eine Schutzmaske über den gesamten Kopf.

»Allein der Kopfschutz hat mich 60 Euro gekostet«, sagt Harald Buntschuh, der seit 28 Jahren Taxifahrer ist. Während der zwei Stunden Fahrt zur Schweizer Grenze informiert er sich über die Corona-Telefonhotline immer wieder über den neuesten Stand der Dinge. Den Medienberichten ist zu entnehmen, dass heute die ersten Lockerungen in Österreich in Kraft treten sollen. Buntschuh stört bei all der Informationsflut die mangelnde Klarheit. »Nach Deutschland dürfte ich Sie nicht fahren«, sagt er. Aber vielleicht hätte sich auch das inzwischen wieder geändert. Nach einigen Wochen »Zwangspause« freut er sich jetzt über gute Geschäftstage. »Ich fahre Gestrandete wie Sie nach Liechtenstein, Deutschland oder in die Schweiz.« Für den deutschen Koch wartet beim Grenzübergang in Martina die letzte Hürde, bevor er seine Arbeit im Hotel antreten darf. Jetzt ist aber ohnehin erst einmal Zwischensaison in Samnaun…